Institut für Politikwissenschaften, Universität Bern

Seminar: Politische Ideen und ihre Träger

Dr. Andreas Ladner

Parteien und Mitglieder

Ruedi Studer

23. Dezember 1999

Inhalt:

1.Die Entwicklung zur Mitgliederpartei

2.Kosten und Nutzen der Parteimitgliedschaft

2.1Braucht es noch Mitglieder?

2.2Kosten- und Nutzenüberlegungen

2.2.1Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft für die Partei

2.2.2Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft für die Mitglieder

2.3 Schlussfolgerungen

3.Die Entwicklung in Westeuropa

3.1Absolute Mitgliederzahlen

3.2Mitgliederanteil an der Wählerschaft

3.3Veränderungen nach Parteifamilien

4.Die Mitglieder der Schweizer Parteien

4.1Vergleich und Entwicklung

4.2Ursachen unterschiedlicher Mitgliederzahlen

5.Fazit

6.Literatur

1.Die Entwicklung zur Mitgliederpartei

Unter den verschiedensten Autoren besteht Konsens, dass die Parteien im 20. Jahrhundert unterschiedliche Entwicklungsstadien durchlaufen haben. Drei verschiedene Ausprägungsformen von politischen Parteien, die zu unterschiedlichen Zeitepochen gehören, werden in der Regel unterschieden: bis etwa 1920 waren die Parteien vorwiegend „Kader- oder Elitenparteien“. Mit der Konsolidierung der westlichen Demokratien zwischen 1920 und 1960 entstanden die eigentlichen „Massen-Mitgliederparteien“. Diese Organisationsform ist auf das Aufkommen linker Parteien zurückzuführen, welche die Massenmitgliedschaft als wertvolle Ressource entdeckten, um mit den gut ausgestatteten bürgerlichen Partei konkurrenzieren zu können. Der Erfolg der Linken bewog schliesslich auch die rechten Parteien zur Übernahme des Modells der Massenmitgliedschaft (Scarrow 1994: 41). Seit 1960 hat eine Loslösung von der Mitgliederbasis eingesetzt, und es entstehen „Allerweltsparteien“, die sich nicht den „grossen Ideologien“ oder einem bestimmten Segment in der Bevölkerung verpflichtet fühlen, sondern vor allem dazu dienen, Wählerstimmen und Mandate zu gewinnen. Um 1970 taucht ein weiter Parteityp auf, die „Cartel party“, welche näher an den Staat gerückt ist und von diesem subventioniert wird (Ladner 1999: 239).

2. Kosten und Nutzen der Parteimitgliedschaft

2.1 Braucht es noch Mitglieder?

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Parteien denn überhaupt noch Mitglieder brauchen. In den letzten Jahrzehnten war man unter den Politkwissenschaftern allgemein der Ansicht, dass für eine moderne Partei das Trachten nach einer grossen Mitgliederzahl unnötig sei. Begründet wird diese Aussage mit dem Aufkommen des Fernsehens und anderer Kommunikationsmöglichkeiten (Scarrow 1994: 41). Das Fernsehen ist zur dominierenden Quelle politischer Information geworden, über welches auch die Parteiführer direkt kommunizieren bzw. ihre politischen Botschaften vermitteln können. Für diese Aufgabe haben sich Parteiversammlungen oder die Parteipresse damit erübrigt (Katz 1990: 146). Ein weiterer Punkt, der allerdings für die Schweiz weniger zutrifft, ist die staatliche Parteienfinanzierung. Auch dadurch haben die Mitglieder bzw. deren finanzielle Beiträge an Wichtigkeit verloren. 

Katz (1990: 146) äussert bezüglich dieser Entwicklung die Befürchtung, dass die Parteien als Element der Zivilgesellschaft zu einem Teil des Staatsapparats verkommen würden. Und das die Parteien zunehmend zu Führerorganisationen würden. Die Partei als Mitgliederorganisation werde marginalisiert, und damit auch deren Funktion als Verbindung zwischen Elite und Masse.

2.2 Kosten-Nutzenüberlegungen

In dieser Hinsicht stellt sich nun die Frage, ob Parteien Massenmitgliedschaft denn überhaupt brauchen, oder ob sie tatsächlich obsolet geworden sei. Andererseits soll auch betrachtet werden, welche Vor- und Nachteile eine Parteimitgliedschaft für das individuelle Mitglied herausschauen. Bereits Katz (1990) hat sich mit der Frage der Kosten und des Nutzens ­ sowohl aus Sicht der Partei als auch aus derjenigen des einzelnen Mitglieds ­ beschäftigt, ebenso Scarrow (1994), welche allerdings stärker auf die Sichtweise der Parteielite fokussierte. Die nachfolgenden jeweiligen Vor- und Nachteile beruhen denn auch weitgehend auf den Aufsätzen der beiden Autoren.

2.2.1 Kosten und Nutzen der Mitglieder für die Partei

a) Kosten

Radikalere Positionen/ Ideologisierung
Wer Parteimitglied wird vertritt in der Regel auch stärker die ideologische Position der jeweiligen Partei. Im Gegensatz zu professionellen Politikern sind diese freiwilligen Unterstützer eher bereit, ein Wahl zu verlieren, denn Kompromisse einzugehen, welche ihren Idealen widersprechen. Wo also die Parteimitglieder die Kontrolle über die jeweiligen politischen Themen und Standpunkte oder die Wahl der Parteiführer ausüben, verringert sich auch die Flexibilität einer Partei, auf Stimmungswechsel in der breiten Wählerschaft zu reagieren. In der Folge können die Mitglieder mit ihren „radikalen“ Entscheiden Wähler abschrecken (Scarrow 1994: 45f.). Die Parteiführung vertritt eher einer realistischen, pragmatischen Stand, insbesondere, wenn sie einmal an der Macht ist. Die Parteimitglieder hingegen fordern das Wünschbare, ob realistisch oder nicht. Katz (1990: 145) führt diesbezüglich die britische Labour Party und die deutsche SPD Ende der siebziger bzw. Anfang der achtziger Jahre als Beispiele an, bei welchen die Basis einen Linksdrift erzwang, welcher schliesslich in einen Wählerverlust mündete. Hier zeigt sich also der Konflikt der Parteiführung, einerseits Wechselwähler für sich gewinnen zu wollen, andererseits die Basis nicht zu verärgern.

Die Mitglieder nehmen also Einfluss auf Entscheidungen der Parteielite, manchmal auch gegen deren Vorschläge. Im aktuellen Beispiel der Wahl eines neuen Bürgermeisters für London zeigt sich der für die Labour-Partei unwillkommene Einfluss der Mitglieder. Den von der Basis gewünschte Ken Livingston, der dem traditionalistischen Labour-Flügel angehört, wollen die Parteistrategen unbedingt verhindern. „Statt die Londoner Labour-Mitglieder ihren Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters allein bestimmen zu lassen, wurde ein Wahlgremium gebildet“, schreibt die Aragauer Zeitung vom 18. November 1999 in einem Artikel. Die Zusammensetzung dieses Gremiums sei aber so einseitig zugunsten eines der Parteizentrale genehmen Kandidaten gewesen, „dass es in der Basis zu rumoren begann.“

Ein weiteres Beispiel auf personeller Ebene ist auch die Wahl Ursula Kochs zur SP-Präsidentin. Während die Fraktion Andrea Hämmerle favorisierte, entschied sich die Basis bzw. die Delegiertenversammlung für Koch. Inwiefern die darauf folgenden internen Streitigkeiten dem Wahlerfolg der SP schadeten, ist schwer abzuschätzen. 

Auf sachlicher Ebene andereseits dienen die deutschen Grünen als gutes Beispiel. Bei diesen dürften u.a. auch die „Extremforderungen“ der Basis (Benzinpreis von 5 DM pro Liter, Kosovo-Einsatz-Debatte, Abschaffung der Bundeswehr) für Wahlniederlagen mitverantwortlich sein.

Verschwendung von Ressourcen
Es sind Investitionen nötig, Mitglieder einerseits anzuwerben, und diese andererseits auch bei Stange zu. Dies beansprucht nicht nur Zeit von Parteiangestellten und Parteiführern, sondern auch Geld für Postversände, Mitgliederzeitschriften, usw. Diese Ressourcen wären möglicherweise besser investiert, um unentschiedene Wähler anzusprechen. Der ehemalige CDU-Schatzkanzler Walther Leisler Kiep wies 1987 darauf hin, dass die Mitglieder die nationale CDU mehr kosten denn dieser einbringen würden (Scarrow 1994: 46).
Unterstützungsansprüche
Mitglieder stellen Ansprüche politischer und persönlicher Natur. Die Partei wird beispielsweise um Hilfeleistungen und Interventionen gebeten (Katz 1990: 152f.). Beispielsweise könnten Mitglieder von ihrer Partei verlangen sich für gewisse Themen einzusetzen oder ihen bei konkreten Fällen Beistand zu leisten.

b) Nutzen

Verbesserte Statistik/ Legitimation
Die Grösse einer Partei misst sich nicht nur an deren Wähleranteil. Auch der Mitgliederanteil kann etwas über ihre Stärke bzw. ihre Verankerung in der Bevölkerung aussagen. So können steigende oder sinkende Mitgliederzahlen auch Einfluss auf die Wahlresultate haben, indem beispielsweise eine Partei dank zunehmenden Mitgliederzahlen auch in der Wählerschaft ein Gewinnerimage aufbauen kann und umgekehrt. Ein grosse Mitgliederzahl verspricht zudem auch eine grössere Verankerung in verschiedenen Bevölkerungsschichten (Scarrow 1994: 46f.). Eine hohe Mitgliederzahl mag also als Beweis für eine bedeutende Verwurzelung in der Gesellschaft dienen, womit auch die Legitimation einer Partei verstärkt wird (Katz 1990: 152). 

„[...] eine Partei ist zentral auf öffentliche Wirkung angelegt. Und ein zentrales Moment der öffentlichen Wirkung einer Partei ist ihre Grösse“, unterstreicht auch Schaller (1994a: 54f.) diesen Befund. Und weiter: „Vielfach ertönt an die Adresse der Parteien der Vorwurf, sie hätten die Verbundenheit zum Volk verloren, ja seien gar zu abgehobenen und durchprofessionalisierten Politikmaschinen geworden, welche gar nicht mehr fähig seien, die wahre Stimmung im Volke aufzunehmen. Um diesem Vorwurf entgegenzutreten, präsentieren Parteien dann der Öffentlichkeit stolz ihre Mitgliederzahlen. Und je grösser diese sind, desto mehr gilt eine Partei als volksverbunden. Schon aus diesem Grunde sind Parteien sehr stark daran interessiert, eine breite Basis auszuweisen, auch wenn diese Basis ausser ihrer Existenz wenig zum Funktionieren einer Partei beiträgt.“ Deshalb, so warnt Schaller,seien die Angaben der Parteien über ihre Grössemit Vorsicht zu geniessen.

Loyale Wähler
Die Partei kann sich der Stimme seiner Mitglieder weitgehend sicher sein. Zudem kann man bei einem Mitglied auch eher damit rechnen, dass es überhaupt wählen geht. Eingeschränkt wird dieser Punkt allerdings in der Tatsache, dass der Anteil der Parteimitglieder an der gesamten Wählerschaft relativ gering ist, und je nach Land und Partei schwankt (Scarrow 1994: 47). In Krisenzeiten für eine Partei stellen die Mitglieder aber auch ein gewisses Wählerreservoir dar, welches mit zunehmender Mitgliederzahl natürlich an Bedeutung zunimmt. Die Resultate einer Studie aus den Siebzigerjahren (Political Action Studie) bestätigen diese Aussagen. Dabei zeigt sich, dass Mitglieder anteilmässig eher ihre Partei wählen als dies Sympathisanten[1] tun, wobei die Unterschiede allerdings realtiv gering sind. In Bezug auf die Schweiz sind die Prozentanteile der beiden Gruppen gar gleich hoch (Katz 1990: 150f.). Auch wenn diese Daten eine grössere Loyalität der Mitglieder gegenüber ihrer Partei bestätigen, so gibt Katz zu bedenken, dass die Mitgliedschaft nicht der Grund für diese Parteiloyalität sein muss.
Stimmen-Multiplikatoren
Mitglieder dienen als „Stimmen-Multiplikatoren“. Sei dies in der Familie, in Vereinen, am Arbeitsplatz, usw. Die Mitglieder verbreiten die Anliegen ihrer Parteien durch alltägliche Kontakte, dienen also als Botschafter und Werbeträger ihrer Parteien (Scarrow 1994: 47f.). Parteimitglieder versuchen andere Personen zu überzeugen, ihre Partei zu wählen. Das Resultat der Polical Action Studie zeigt diesbezüglich für die Schweiz einen Anteil von 67 Prozent „Überzeugungsarbeit-leistender“ Mitglieder gegenüber einem Anteil von nur 25 Prozent bei den Sympathisanten (Katz 1990: 152f.) 
Finanzielle Unterstützung
Durch Mitgliederbeiträge und allenfalls auch Spenden sorgen die Mitglieder für finanzielle Ressourcen ihrer Partei (Scarrow 1994: 48). Je nach Land spielt aber auch die staatliche Parteienfinanzierung einer Rolle. In Deutschland beispielsweise verteilt der Staat derzeit 245 Millionen DM jährlich an die Parteien. Die Verteilung dieser Summe richtet sich dabeieinerseits nach dem Wähleranteil, andererseits nach dem Spendenaufkommen einer Partei ­ und nicht etwa nach deren Mitgliederzahlen (Tages-Anzeiger vom 2. Dezember 1999: 3). 

Bei den Schweizer Lokalparteien zählen die obligatorischen Mitgliederbeiträge, mit einem Finanzierungsanteil von knapp 50 Prozent, zu den wichtigsten Einnahmequellen. Einen weiteren Viertel machen die freiwilligen Mitgliederbeiträge aus. Damit werden die Mitglieder zu einer starken finanziellen Stütze ­ zumindest der Lokalparteien. Die Spenden von Nicht-Mitgliedern hingegen fallen mit 5 Prozent kaum ins Gewicht (Schaller 1994b: 236f.). 

Bei den Kantonalparteien machen die obligatorischen und freiwilligen Mitgliederbeiträge immerhin noch einen Anteil von zwischen 22 Prozent (CVP) und 38 Prozent (SVP) der Einnahmen aus. Die Beiträge der Ortsparteien, welche wiederum zu einem Grossteil auf Mitgliederbeiträgen beruhen, machen zwischen 15 und 29 Prozent aus.Die Spenden von Nicht-Mitgliedern beziffern sich auch bei den Kantonalparteien auf dürftige 3 bis 9 Prozent (Ladner/Brändle 1999: 21).

Freiwillige Arbeit
Parteimitglieder sind eine wertvolle Quelle für freiwillige Arbeiten. Insbesondere bei aussergewöhnlichen Anstrengungen, beispielsweise bei Wahlen, ist freiwillige Mitarbeit gefragt (Scarrow 1994: 48). Was die Schweiz betrifft, engagieren sich bei den Bundesratsparteien zwischen 40 Prozent (CVP/CSP) und 52 Prozent (SP) in irgendeiner Form aktiv für ihre Partei. Den Höchstwert erzielen die Grünen mit 53 Prozent Aktiven. Im Gegensatz dazu sind bei den Parteianhängern durchschnittlich nur 31 Prozent aktiv (Schaller 1994a: 52f.) Eine Besonderheit für die Schweiz dürfte diesbezüglich die direkte Demokratie darstellen, ist doch für das Sammeln von Initiativen oder Referenden immer wieder das Engagement der Mitglieder gefordert.
Neue Ideen
Die Mitglieder können als Informations- und Kommunikationskanal zwischen der Wählerschaft und der Parteiführung angesehen werden. Bei Mehrfachmitgliedschaften, z. B. in einer Bewegung, können auch zu dieser Kontakte gehalten werden. Neue Mitglieder sorgen auch für eine „Blutauffrischung“, können neue Ideen in die Partei einbringen (Scarrow 1994: 49).
Rekrutierungspotential
Die Mitglieder stellen auch eine Kandidaten-Reserve für allfällige Ämter dar. Je grösser die Mitgliederzahl einer Partei, um so leichter sollte die Suche nach einem valablen Kandidaten fallen (Scarrow 1994: 49).

Es gilt anzufügen, dass die hier genannten Kosten und Nutzen der Mitglieder für die Parteien eine Auswahlliste darstellen. Nicht jede Partei wird die selben Punkte gleich stark betonen. Auch die Veränderung beispielsweise der politischen Umstände können die Akzentuierung der Wichtigkeit der Mitglieder beeinflussen. So vermag beispielsweise die Parteienfinanzierung die Wichtigkeit der Mitglieder als finanzielle Ressource zu beeinträchtigen.

2.2.2 Kosten und Nutzen der Mitgliedschaft für die Mitglieder

a) Kosten

Mitgliederbeitrag
Der offensichtlichste Kostenpunkt ist finanzieller Natur: der Mitgliederbeitrag. Katz (1990: 156) stellt aber fest, dass die Höhe dieser Beiträge in den meisten Fällen so gering angesetzt ist, dass sich ernsthaft an einer Mitgliedschaft interessierte Personen dadurch kaum abschrecken liessen. So sind denn dank der staatlichen Parteienfinanzierung die Beiträge auch nicht parallel zur Inflation gewachsen (Katz 1990: 156).

Zeitaufwand

Mitglieder investieren unter Umständen eine Menge Zeit, sei dies mit der Teilnahme an Versammlungen oder aktiver Parteiarbeit beispielsweise als Wahlhelfer.

b) Nutzen

Einfluss auf Politik
Die Mitglieder können über ihre Partei Einfluss auf die Politik nehmen (Katz 1990: 152f.) Diesbezüglich wäre aber auch eine Betrachtung der innerparteilichen Demokratie nötig.
Materielle Vorteile
Je nach dem kann eine Parteimitgliedschaft auch materielle Vorteile mit sich bringen (Katz 1990: 155). Öffentliche Ämter oder Aufträge durch die öffentliche Hand mögen in diese Kategorie zählen. In Bezug auf die Schweiz ist diese Aussage zu relaitivieren, können die Parteien ihren Mitgliedern doch „häufig nur zu unbezahlten Milizämtern verhelfen, so dass Ämterpatronage den Parteien nur in beschränktem Masse zu einer gesteigerten Attraktivität verhilft“ (Ladner 1999: 237f.). 
Information
Die Partei kann als politische Informationsquelle dienen (Katz 1990: 155f.).
Soziale Anerkennung
Die Partei bildet eine soziale Gruppe und bietet damit auch eine gewisse Geborgenheit (Katz 1990: 156). Man weiss sich unter Gleichgesinnten und darf bei einem Einsatz für die Partei auch auf deren Anerkennung zählen.

2.3 Schlussfolgerungen

Laut Katz (1990: 158) hat in eine Verschiebung der Gewichte in Bezug auf die Vor- und Nachteile einer Parteimitgliedschaft, sowohl für die Parteielite als auch für die Basis, stattgefunden, welche eine Mitgliedschaft für beide Seiten unattraktiver macht. Katz sieht nicht nur die soziologischen, sondern auch die psycholoischen Bindungen schwinden. So verweist er auch auf den immer wieder beschworenen und empirisch nachvollziehbaren „Niedergang der Parteien“ und den damit verbundenen (relativen) Rückgang der Mitgliederzahlen.

Das Konzept der Mitgliedschaft mache für die Parteimitglieder wenig Sinn, schreibt Schaller (1994: 40), da sich „ein Parteimitglied [...] in der Regel nur die Pflicht auf Beitragszahlung [einhandelt], und allenfalls den moralischen Druck, auch gefälligst etwas zu tun“. Und auch Ladner (1999: 248f.) schlägt in die gleiche Kerbe: „Die Parteien [...] haben kaum mehr selektive Anreize anzubieten, welche ein Mitgliedschaft besonders attraktiv machen könnten. Sie haben, was die Information über politische Fragen und Ereignisse anbelangt, ihre privilegierte Stellung an die Medien verloren und ihre Bedeutung für die Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen ist gegenüber den Interessenverbänden zurückgegangen.“

Meiner Meinung nach profitieren die Parteien viel stärker von ihren Parteimitglieder als diese von ihrer Mitgliedschaft. Als wichtigste Faktoren erachte ich einerseits die finanzielle Basis, die die Mitglieder der Partei liefern, andererseits die Multiplikatoren-Funktion. In dieser Hinsicht dienen die Mitglieder auch als Verbindungsglied zur parteiungebundenen Wählerschaft. 

Eine Mitgliedschaft selbst hingegen bringt kaum Vorteile, wie die Aussagen von Schaller und Ladner bezeugen. Auch die von Katz erwähnten Punkte stehen auf einer schwachen Grundlage: „Soziale Anerkennung“ kann man auch in anderen Gruppierungen finden, die politische Information haben die Medien übernommen und der Einfluss auf die Politik kann beispielsweise ­ und dies erst noch zielgerichteter ­ über andere Interessengruppen wahrgenommen werden. Insbesondere in der Schweiz ist der Bürger weitgehend von Parteien unabhängig, kann er doch via Initiativen und Referenden viel gezielter politisch Einfluss nehmen. Denn einzigen Vorteil ein Mitgliedschaft sehe ich darin, ein politisches Amt zu ergattern. Dies wiederum gilt in der Schweiz auch wieder mehr nur für die kantonale und nationale Ebene, viel weniger für die lokale.

3. Entwicklung in Westeuropa[2]

3.1 Absolute Mitgliederzahlen

In Bezug auf die absoluten Mitgliederzahlen ist in den letzten Jahrzehnten kein europäischer Trend feststellbar, jeweils rund die Hälfte der untersuchten Länder[3] hat eine Zunahme bzw. einen Rückgang zu verzeichnen. Einen grundsätzlichen Kollaps der Mitgliederzahlen hat es in Westeuropa also nicht gegeben. Es gilt aber zu relativieren, dass die Wählerschaft in den letzten Jahrzehnten enorm erweitert worden ist. Dieser Elektoratszuwachs ist einerseits auf die Bevölkerungszunahme, andererseits auf die Erweiterung des Elektorats beispielsweise durch die Senkung des Wahlrechtsalters zurückzuführen. Das Elektorat hat sich denn auch um rund 30 Prozent vergrössert. Selbst ein absoluter Mitgliederzuwachs kann damit einen relativen Mitgliederrückgang nicht verhindern.

3.2 Mitgliederanteil an der Wählerschaft

Viel bessere Vergleichsmöglichkeiten ermöglicht der Vergleich der Mitgliederzahlen proportional zur Wählerschaft. In den letzten Jahrzehnten verzeichneten die westeuropäischen Parteien einen Mitgliederrückgang. Nur in zwei Ländern ­ Westdeutschland und Belgien ­ war ein zur Wählerschaft proportionaler Zuwachs zu verzeichnen. In allen anderen untersuchten Ländern ist der Anteil zurückgegangen, obwohl die absoluten Mitgliederzahlen teilweise gar anwuchsen

Generell konnten die Mitgliederzahlen mit der anwachsenden Wählerschaft nicht Schritt halten. Durchschnittlich haben die Parteien 4 Prozent der Wählerschaft als Mitglieder verloren, von 1960 bis 1990 war ein Rückgang von 14,6 auf 10,5 Prozent zu verzeichnen.

3.3 Veränderungen nach Parteifamilien

Was die Parteifamilien betrifft, so kann bei den meisten kein gesamteuropäischer Trend ausgemacht werden. Was die christlich-demokratischen, liberalen und sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien angeht, so halten sich die Länder mit absoluten Mitgliederzuwächsen bzw. -abnahmen in etwa die Waage. Aus relativer Sicht hingegen hatte die Mehrheit rückgängige Werte zu verzeichnen. Die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien beispielsweise hatten einen durchschnittlichen Mitgliederverlust von knapp einem Fünftel zu verkraften.

Grundsätzlich rückgängige Werte sowohl auf absoluter als auch auf relativer Basis mussten hingegen kommunistische, konservative sowie Agrarparteien hinnehmen. 

Damit zeigt sich, dass keine der Parteifamilien immun gegenüber dem Mitgliederrückgang in den Parteien ist. Aber auch neue Parteien vermochten den allgemeinen Mitgliederrückgang nicht aufzufangen.

4. Die Mitglieder der Schweizer Parteien

4.1 Vergleich und Entwicklung

Der Niedergang der Parteien hatte auch in der Schweiz Auswirkungen auf den Mitgliederbestand. 

Eine ältere Untersuchung bezüglich des Mitgliederbestands ist bei Gruner (1977: 217f.) zu finden. Den Mitgliederanteil an den Wählern schätzte er 1963/67 auf rund 38 Prozent. Aufrgund der Einführung des Frauenstimmrechts geht Gruner 1971/75 von einer Halbierung des Mitgliederbestands aus. Gemessen an der Anzahl der Stimmberechtigten rechnet er mit rund 11 Prozent Mitgliedern. Dies entspricht einer absoluten Zahl von rund 390'000 Personen (Ladner 1999: 245).

Die neuste Untersuchung von Ladner und Brändle (1999) im Rahmen eines Nationalfonds-Projekts zeigt folgendes Bild. Die beiden Autoren rechnen in der Schweiz mit 300'000 „effektiven“ Parteimitgliedern[4], wovon rund 260'000 auf die vier Bundesratsparteien entfallen. Die Zahl der Parteimitglieder entspricht damit ­ bei rund 4,5 Millionen Stimmberechtigten - einem Anteil von 6 bis 7 Prozent (Ladner/Brändle 1999: 10). Im internationalen Vergleich liegt die Schweiz damit etwa im Mittelfeld (Ladner 1999: 246).

Folgende Tabelle zeigt die Mitgliederentwicklung in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten:


 
1971/75 (Gruner)
1997 (Ladner/Brändle)
1999 (Studer)
FDP
121‘000*
87‘000
(87‘000)
CVP
90‘000*
74‘000
75'000
SVP
80‘000*
59‘000
(59'000)
SP
55‘000
38‘000
37‘913
LdU
8‘200
2‘500
(2‘500)
GPS
-
6‘000
5‘000
EVP
3‘700
3‘500
4‘000
LPS
9‘000*
10‘000
(10'000)
FPS
-
6‘000
(8‘000)
SD
11‘600**
5‘000
6‘500
EDU
-
2‘000
(2'000)
PdA
4‘000
2‘000
(2'000)
Andere
2‘000
3‘000
(3'000)
Total
384‘500
300‘000
301‘913
Anteil an Stimmberechtigten
11 %
7 %
7 %

Tabelle 1: Vergleich und Entwicklung der Mitgliederzahlen der Schweizer Parteien

Die Daten von 1971/75 finden sich bei Gruner (1977: 218), und diejenigen von 1997 (Zeitpunkt der Befragung) bei Ladner/Brändle (1999: 11). Diejenigen von 1999 sind mit Vorsicht zu geniessen, da sie auf einer von mir Ende November 1999 bei den nationalen Parteisektionen durchgeführten Umfrage beruhen. Dies ist insofern problematisch, da nicht alle Zentralsekretariate eine Mitgliederkartei führen bzw. gar keine formalisierte Mitgliedschaft kennen.

* Mitglieder und Sympathisanten zusammen

** Republikaner und Nationale Aktion

() Die Zahlen in Klammern wurden von Ladner/Brändle übernommen, da die Parteien keine Angaben machen konnten oder wollten.

4.2 Ursachen unterschiedlicher Mitgliederzahlen

Die Mitgliederzahlen werfen verschiedene Fragen auf. Weshalb beispielsweise liegt die SP - 1995 zur wählerstärksten Partei geworden, 1999 wählermässig nur knapp hinter der SVP auf dem zweiten Platz rangierend ­ mitgliedermässig so deutlich hinter den anderen (bürgerlichen) Bundesratsparteien zurück?Oder wieso weist die SVP als wählerstärkste bürgerliche Bundesratspartei die kleinste Mitgliederzahl auf?

Formelle Mitgliedschaft

Nur gerade 63 Prozent der Schweizer Ortsparteien erfüllen das Kriterium der „formellen Mitgliedschaft“ in dem Sinne, dass die Zugehörigkeit zur Partei an die Unterzeichnung einer Beitrittsurkunde geknüpft ist und mit der Zusendung einer Rücktrittserklärung wieder erlischt. Insbesondere bei den bürgerlichen Parteien FDP und CVP fehlt die formalisierte Mitgliedschaft, wohingegen bei SP und SVP das Mitgliederprinzip vorherrscht (Geser 1994:139ff.). Die SP führt gar als einzige Partei ein zentrales Mitgliederregister (Ladner/Brändle 1999: 18).

Finanzielle Hürden

Praktisch bei allen Parteien gehören die obligatorischen Mitgliederbeiträge zu den wichtigsten Einnahmequellen. Die Höhe des individuellen Mitgliederbeitrags kann aber je nach Partei und selbst innerhalb einer Partei stark variieren. Was die drei bürgerlichen Bundesratsparteien betrifft, so sind bei diesen zumindest die Beiträge jeweils innerhalb der einzelnen Sektionen gleich hoch. Als einzige Bundesratsparteikennt die SP verschiedene Beitragsmodi, welche von für alle gleich hohen bis zu nach Verdienst abgestuften Beiträgen reichen. Die meisten übrigen Parteien verlangen ebenfalls von allen gleich hohe Beiträge (Schaller 1994b:240).

Schallers (1994b:241f.) Analyse der Höhe der Mitgliederbeiträge[5] ergibt folgendes Bild: Ein SP-Mitglied bezahlt durchschnittlich einen Jahresbeitrag von 98 Franken. Damit ist SP die „teuerste“ Bundesratspartei, wohingegen die CVP mit 27 Franken die tiefsten Beiträge verlangt. Die FDP-Mitgliedschaft kostet 46 Franken, diejenige der SVP 43 Franken. Der Durchschnittswert aller Parteien beträgt 62 Franken. Linke und grüne Pateien fordern deutlich höhere Beiträge als die bürgerlich orientierten Organisationen.

Dieser Vergleich zeigt, dass ein Engagement bei der SP ein Mitglied relativ teuer zu stehen kommt, und dieser Betrag kann bei progressiven Beitragssätzen um ein Vielfaches höher zu stehen kommen. Dies mag ein Erklärungsansatz sein, weshalb die Mitgliederzahl der SP so deutlich hinter denjenigen der übrigen Bundesratsparteien zurückliegt. Schaller (1994b: 242) schreibt dazu: „Bei den Linken zahlen wenige Mitglieder viel Geld, bei den Bürgerlichen zahlen viele Mitglieder wenig Geld.“

5. Fazit

Die westeuropäischen Parteien und damit auch die Schweiz konnten bezüglich ihrer Mitgliederzahlen mit dem in den letzten Jahrzehnten erfolgten Elektoratszuwachses nicht Schritt halten. Die Ursachen für diesen „Niedergang der Parteien“ liegen einerseits in der abnehmenden Parteiidentifikation, andererseits am abnehmenden Interesse sowohl der Wahlberechtigten an den Parteien als auch der Parteielite an ihren Mitgliedern. Die Parteien haben andere Kanäle gefunden, um ihre Botschaften der Wählerschaft zu vermitteln, andererseits sind sie in vielen Staaten dank staatlicher Subventionen nicht mehr von Mitgliederbeiträgen abhängig. Den Wählern wiederum wird eine Mitgliedschaft kaum schmackhaft gemacht. Diese ist viel mehr mit Aufwand denn mit besonderen Anreizen verbunden. Ohne Mitglieder allerdings droht sich meiner Ansicht nach der Graben zwischen Wählerschaft und „classe politique“ zu vergrössern. Insbesondere aus Sicht der Parteien sollte deshalb alles daran gesetzt werden, Anreize zu schaffen, um Mitglieder als finanzielle, personelle und ideelle Ressource zu gewinnen und zu behalten. 

6. Literatur

Aargauer Zeitung vom 18.11.1999, S. 4.

Geser, Hans (1994): Die Organisationsstruktur der Ortsparteien, in: Geser, Hans et al. (Hg.), Die Schweizer Lokalparteien, Zürich, S.137-188.

Gruner, Erich (1977): Die Parteien der Schweiz, 2. Auflage, Bern.

Katz, Richard S. (1990): Party as linkage: A vestigial function?, in: European Journal of Political Research, Heft 18, S. 143-161. 

Katz, Richard S. / Mair, Peter, et al. (1992): The membership of political parties in European democracies, 1960-1990, in: European Journal of Political Research, Heft 22, S. 329-345.

Ladner, Andreas (1999): Das Schweizer Parteiensystem und seine Parteien, in: Klöti, Ulrich et al. (Hg.), Handbuch der Schweizer Politik, Zürich, S. 213-253.

Ladner, Andreas/ Brändle, Michael (1999): Facts-Sheet zum Wandel der Schweizer Parteien, Ergebnisse aus dem Nationalfonds-Projekt „Die Schweizer Parteiorganisationen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts“, Bern.

Scarrow, Susan E. 1994: The ‚paradox of enrollment‘: Assessing the costs and benefits of party memberships, in: European Journal of Political research, Heft 25, S. 41-60.

Schaller, Roland (1994a): Anhängerschaft, Mitglieder und Aktive ­ Zur Grösse der Parteien, in: Geser, Hans et al. (Hg.), Die Schweizer Lokalparteien, Zürich, S.39-60.

Schaller, Roland (1994b): Die Kommunalparteien und das Geld, in: Geser, Hans et al. (Hg.), Die Schweizer Lokalparteien, Zürich, S. 225-245.
Tages-Anzeiger vom 2.12.1999, S. 3.

 

[1] In der Political Action Studie wurde die politische Identifikation einer Person mit ihrer tatsächlichen Wahl verglichen.
[2] Das folgende Kapitel stützt sich weitgehend auf die Untersuchung von Katz, Mair et al. (1992).
[3] Westdeutschland, Belgien, Schweden, Norwegen, Italien, Irland, Finnland, Österreich, Dänemark, Grossbritannien und die Niederlande.
[4] Ladner und Brändle haben in ihrer Befragung die „genauen“ bzw. „effektiven“ Mitgliederzahlen zu ermitteln versucht. Da nicht alle Parteien ein klares Mitgliederprinzip kennen, handelt es sich bei den Angaben zum Teil auch um berechnete und geschätzte Werte. Wie Ladner und Brändle (1999: 10) ausführen, ist ein durchschnittliches SP-Mitglied hinsichtlich seines politischen und finanziellen Engagements stärker mit seiner Partei verbunden als ein durchschnittliches Mitglied einer bürgerlichen Partei, welches im Vergleich zur SP „irgendwo zwischen einem Mitglied und einem Sympathisanten zu liegen kommt“.
[5] Schaller hat in seiner Analyse nur diejenigen Lokalparteien berücksichtigt, welche das Konzept der formalisierten Mitgliedschaft kennen.