Seminar Politische Ideen und ihre TrägerDominic Roos

WS 99/0002.12.99

Referat «Parteitypologien» / Schriftliche Fassung

Inhalt
  1. Einleitung 1 
  2. Begriffsklärung 1 
  3. Vier Ansätze: 
3.1Duverger: Dualismus2

3.2Dahl: Oppositionsstrukturen4

3.3Blondel: Wahlen6

3.4Sartori: Zweidimensionalität7

  1. Zusammenfassung 10 
  2. Vor- und Nachteile der Typologiebildung 11 
  3. Verwendete Literatur 12 
1.Einleitung

Innerhalb der Parteienforschung dient die Suche nach «Parteitypologien» einer klassifikatorischen Einteilung der grossen Vielfalt von politischen Parteien, wie sie im politischen System und Prozess agieren. Einerseits wird dabei auf den innenpolitischen Forschungsansatz abgestellt, anderseits auf die vergleichende Analyse. Es kann generell keine Einheitlichkeit ausgemacht werden. Das beginnt schon bei der Klassifikation selber, also auf welche Weisen Parteien eingeteilt werden können und wie dies begründet wird.

In diesem Referat sollen vier Texte verschiedener Autoren aus der Zeitspanne von 1954 bis 1976 vorgestellt und damit ein Bogen über die unterschiedlichen Forschungsansätze gespannt werden. Dieser stellt gewissermassen eine Übersicht über die vier Arbeiten dar, der Vergleiche zulässt, aber auch gleichzeitig mit einer wissenschaftstheoretischen Note die Entwicklung einer Forschungsfrage und deren fortschreitende Erkenntnis illustrieren soll.

2.Begriffsklärung

Der Terminus «Typologie» im generellen Sinn bezeichnet eine auf Grundlage von Typen angelegte systematische Ordnung von Phänomenen. Im Unterschied zu einer Klassifikation, die Gegenstände in klar getrennte Klassen einteilt, werden hier den Phänomenen Eigenschaften zugeteilt, also Typen geschaffen, die unterschiedlich viele und voneinander unterscheidbare Merkmale aufweisen (Nohlen 1998: 653).

In unserem Fall haben wir es mit Parteitypen zu tun. Diese können nach verschiedensten Merkmalen unterschieden werden (Nohlen 1998: 468f.). Eine erste Unterteilung erfolgt nach der Dynamik der Betrachtung. Im statischen Sinne lassen sich klassifikatorische und komparative Typologien folgendermassen unterteilen:

1.Motivation und Zielvorstellungen: Patronage-, Klassen-, Weltanschauungs-, Programm- oder Plattformpartei.

2.richtungspolitische Ziele / die ideologischen politischen Familien: Konservative, Liberale, Christlich-Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten etc.

3.Organisationsform und -struktur: Komitee-, Ortsgruppen-, Zellen-, Milizenparteien.

4.Besonderheiten der (sozialen) Mitglieder-/Anhänger-/Wählerbasis: Honoratioren-, Mitglieder-, Massen-, Volks-, Kaderparteien.

5.Strategie- und Handlungsbesonderheiten: Omnibus- oder Taxiparteien.

6.Funktion im und Haltung zum politischen System: System-/Antisystem-, Anpassungs-, Mobilisierungs-, Widerspruchsparteien.

Eine dynamische Betrachtungsweise sucht nach Entwicklungstypologien. Diese erfasst die Entstehung, den Aufstieg und Niedergang der Parteien im Wandel der Zeit. Als Beispiel sei der von Kirchheimer beschriebene Wandel von Massenintegrations- zu Volksparteien, Gegenstand des ersten Referates von Marc, erwähnt.

Es geht an dieser Stelle nicht darum, jede einzelne Klassifikation zu betrachten und jeden Begriff zu erläutern. Die Auflistung soll als Orientierungshilfe dienen und die Stossrichtung für den unten behandelten Stoff anzeigen.

Die von mir betrachteten Texte arbeiten nur teilweise mit den obenerwähnten Typologien. Ihr eigentlicher Fokus liegt mehr darin, wie auf einer höheren Ebene, quasi von oben und aussen betrachtet, die politischen Systeme einzelner Länder, aufgeschlüsselt nach ihren Parteien, dargestellt werden können. Es geht m.a.W. nicht darum, festzustellen, welche Ziele die Partei X verfolgt und wie sie intern strukturiert ist, zu welch anderen ähnlichen Parteien sie gezählt werden kann etc., sondern ob man Strukturen in der polity des Parteiengefüges findet, die auf mehrere Länder zutreffen. Das Erkenntnisinteresse ist, für die einzelnen Länder einen konkreten Begriff zu finden, der ihr Parteiensystem auf staatlicher Ebene adäquat beschreibt. Die eine oder andere Typologie kann dazu als Wegweiser dienen, indem sie beispielsweise eine erste Unterteilung ermöglicht oder als ein Kriterium unter vielen einer Einteilung dient.

3.1Duverger: Dualismus

Duvergers Text ist der älteste der vier (1954). Dies zeigt sich schon in seiner wissenschaftlichen Vorgehensweise. Er kann sich kaum auf bestehende Literatur beziehen und wendet für seine Klassifikation ein vergleichsweise einfaches Schema an. Auch nach 45 Jahren hat dieser Text noch einen Wert für uns: Duverger ist Ausgangspunkt eines Teils der Parteienforschung und unserer Betrachtung. Methodisch lässt sich sein Beitrag folgendermassen charakterisieren: dualistische Wahrnehmung von Parteisystemen (Zweiparteiensystem als Mass aller Dinge) abgeleitet aus der Soziologie, historisch-genetische Herleitung des Bestehenden (historische Ereignisse als Belege), ideologisch (Inhalte der Parteipolitiken), rein qualitativ, mehr auf Partei- als auf Staatsebene angesiedelt, ländervergleichend mit Schwerpunkt Frankreich.

NachDuvergers Betrachtung existieren in diversen Ländern Westeuropas seit dem 19. Jahrhundert Zweiparteiensysteme, die im Laufe der Zeit als Struktur erhalten blieben, sich aber mit anderem (ideologischen) Inhalt füllten. Das Wahlrecht für die Besitzenden hat das bürgerliche Zweiparteiensystem mit den Kontrahenten Konservative und Liberale geschaffen. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende Radikalismus hat nach Duverger das Zweiparteiensystem nicht aus den Angeln gehoben, sondern stellte lediglich eine Aufspaltung der Liberalen dar. Mit dem Aufkommen des Sozialismus (Änderung der Wahlgesetze in den westeuropäischen Ländern) jedoch wird ein neues Parteiensystem geschaffen, das das alte ablöst. Neu stehen sich Konservative (nach erfolgtem Einschluss der Liberalen oder deren Auflösung) und systemtreue Sozialisten gegenüber. Systemtreue ist eine grundlegende Voraussetzung, damit das politische System funktionieren kann. Deshalb berücksichtigt Duverger die Marxisten nicht, denn für ihn ist das Zweiparteiensystem unvorstellbar, wenn die eine Partei in ihrer Struktur totalitär ist. 

Aus dieser historischen Herleitung folgert Duverger, dass das Zweiparteiensystem der «Natur der Sache» entspricht (1990: 288), d.h. dass sich eine politische Entscheidung stets zwischen zwei Alternativen bewegt und so eine beständige Dualität von Tendenzen widerspiegelt. Daraus folgert er, dass es wohl Zentrumsparteien gibt, aber keine Zentrumstendenz oder Zentrumsdoktrin. Zentrum ist lediglich ein gedanklich bestimmter Punkt auf der politischen Landkarte, wo sich die moderaten Linken und die moderaten Rechten treffen. Andersherum gesagt ist das Zentrum nur gerade die künstliche Gruppierung des rechten Flügels der Linken und des linken Flügels der Rechten. Der Autor führt mehrere Beispiele an, um zu zeigen, dass das Zentrum irrelevant ist. So nennt er die grundsätzlich dualistische Einteilung der politischen Einstellung der Bürgerinnen und Bürger in progressiv und konservativ, die (historischen) politischen Kämpfe zwischen stets zwei Kontrahenten in Frankreich, z.B. Katholiken gegen Protestanten. In Zeiten, wo die Gesellschaft mit grossen fundamentalen Problemen konfrontiert wird, gruppieren sich die Meinungen der Bevölkerung an zwei Polen, so Duverger.

Duvergerschliesst keineswegs die Existenz von Multipluralismus, also mehreren Parteien in einem System, aus, relativiert aber diese sogleich. Bestehen in einem Land Meinungsverschiedenheiten, die von zahlreichen unstabilen, fliessenden und kurzlebigen Gruppen vertreten werden, dann ist dies kein Beispiel für Multipluralismus. Dies widerspiegelt vielmehr ein Land, das sich noch in einer prähistorischen Ära des Parteiensystems befindet und eine Ausdifferenzierung zu einem Zwei- oder Multiparteiensystem vor sich hat. Als Beispiele gelten die zentraleuropäischen Länder zwischen 1919 und 1939. Einen weiteren Grund für die Relativierung stellt für den Autor die Diversität dar. Für ihn gibt es unzählige Varianten von Multiparteiensystemen, angefangen von drei Parteien bis zu unendlich vielen, mit allen möglichen Zwischenschattierungen. Er konstruiert daher, ausgehend von der «natürlichen» Tatsache des Zweiparteiensystems, seine Version des Multipluralismus. Nach dieser resultieren mehrere Parteien aus erstens Meinungsverschiedenheiten der ursprünglich zwei Parteien und zweitens den dazugehörigen Überschneidungen. Anhand des zeitgenössischen Beispiels von Grossbritannien 1950 beschreibt er, wie innerhalb der Labour-Partei die Moderaten die Regierung Attlee unterstützten, wie eine radikalere Gruppe teilweise querschlägt und wie die konservative Opposition ein homogeneres Bild abgibt. Aus diesem einen Beispiel induziert Duverger, dass es in jeder Partei verschiedene Lager gibt. So lange diese nun innerhalb der Parteien agieren, bleibt das «natürliche» Zweiparteiensystem unverändert. Verselbständigen sie sich, entsteht aus dem ursprünglichen Zweiparteiensystem ein Mehrparteiensystem. Gleichzeitig entstehen mit diesen Veränderungen Zentrumsparteien.

Das interessantere Konzept in diesem Zusammenhang stellt das “overlapping”, das Überschneiden, dar. Nach Ansicht Duvergers kommt es häufiger vor als die vorhin erörterte Aufsplittung aufgrund von Meinungsverschiedenheiten. Per Definition entsteht das Überschneiden, wenn eine Anzahl nicht-zufälliger Zweiteilungen von Meinungen verschieden kombiniert wird und sich als Resultat davon verschiedene Allianzen bilden. Mit unserem heutigen Wissen und dem Beitrag von Lipset/Rokkan würden wir an dieser Stelle von Cleavages sprechen, Konfliktlinien, die nicht bei allen Parteien oder Akteuren deckungsgleich sind. Duverger, ausgehend von diesen Meinungsverschiedenheiten, ordnet im Sinne der klassifikatorischen Typologie die einzelnen Positionen in Bezug auf Konfliktlinien den Parteien zu und damit diese gleichzeitig den richtungspolitischen Zielen. Für Frankreich findet er drei Meinungsdualitäten, nämlich 

klerikal—antiklerikal,

Freiheit—Planung /Vorschrift und

Westen—Osten (in Bezug auf die Machtblöcke im Kalten Krieg). 

Die Parteien lassen sich folgenden Lagern zurechnen: Kommunisten: Osten, Planung, antiklerikal —­ Progressive Christen: Osten, Planung, klerikal —­ Sozialisten: Westen, Planung, antiklerikal —­ MRP (Mouvement Républicain Populaire): Westen, Planung, klerikal —­ Radikale: Westen, Freiheit, antiklerikal —­ Rechte und RPF (Rassemblement du Peuple Français, heute RPR [Rassemblement Pour la République] = Gaullisten): Westen, Freiheit, klerikal. Das Entstehen von mehreren Parteien in Frankreich ist darauf zurückzuführen, dass eine gleiche politische Grundeinstellung in verschiedenen Meinungen resultiert. Wenn zwei Individuen in einer Frage die gleiche Meinung teilen, bedeutet das noch lange nicht, dass dies auch für eine andere zutrifft. Gäbe es in Frankreich nur einen Punkt, in dem sich die politischen Geister schieden, beispielsweise in der Frage pro oder kontra Kommunismus, dann existierten nur gerade eine kommunistische und eine anti-kommunistische Partei. Das Gleiche gilt für die Religion: Wäre sie die einzige Meinungsverschiedenheit, dann würden sich alle Franzosen auf eine katholische und eine freidenkerische Partei verteilen.

Duverger geht zusammengefasst von einem durch die politische Soziologie und Geschichte definierten Zweiparteiensystem aus, das grundlegend ist für alle Länder. Mehrparteiensysteme sind dabei als Abwandlungen oder Vorstadium zu diesem dualistischen Parteisystem zu verstehen. Mehrparteiensysteme entstehen durch Meinungsverschiedenheiten über diverse grundlegende politische Fragen. Gleichgesinnte scheren aus den bestehenden zwei Parteien aus und bilden neue Allianzen, sprich neue Parteien.

Die Kritik an Duverger setzt an verschiedenen Punkten an. Seine Argumentation der «natürlichen», also axiomatischen Gegebenheit von Dualismus auf der Ebene von Parteien oder von Meinungen, steht auf schwachen Beinen. Sie ist zwar nachvollziehbar. Eine historische und teils soziologische Begründung genügen hingegen nicht. Nicht zu jeder Sachfrage lassen sich Ja- und Neinstimmen restlos verteilen. Enthaltungen kommen auch vor, die u.U. Alternativlösungen mit anderen Stossrichtungen darstellen. Natürlich geht es in einer parlamentarischen Abstimmung darum, ob das Nein oder das Ja überwiegt. Politik ist jedoch nicht nur schwarz-weiss. Duvergers Alleingeltungsanspruch des Parteiendualismus ist schon deshalb problematisch, weil er die Einparteiensysteme gänzlich ausklammert und die Mehrparteiensysteme nicht als alleinstehend, sondern als Abart der Zweiparteiensysteme betrachtet. Diese Betrachtungsweise ist bestimmt einfacher als die zahlreichen Schattierungen von Mehrparteiensystemen aussagekräftig typologisieren zu müssen. Zweifellos ist das schweizerische Parteiensystem aus dem Dualismus Konservative—Liberale heraus entstanden, die BGB als neue gewichtige Partei durch Abspaltung vom Freisinn. Dies gilt jedoch nicht im gleichen Ausmass für die Sozialdemokraten, die selbständig als dritte Partei hochgekommen sind. Ohne einen systematischen europäischen Vergleich heranziehen zu können, ist es denkbar, dass die Schweiz hier ein Stück weit vom Idealtypus Zweiparteiensystem abrückt. Nicht jede Partei entsteht tel quel aus Abspaltungen oder Überschneidungen schon bestehender Konfliktlinien. Einige entstehen aus neuen politischen oder sozialen Lagen heraus, beispielsweise die Grünen, die den Konflikt über den Umgang mit der natürlichen Umgebung thematisierten (nur gab es die 1954 noch nicht).

Die Qualität von Duvergers Text liegt darin, dass er eine Klassifikation nach Ideologie vornimmt, basierend auf den Konfliktlinien, in seinem Sprachgebrauch «Meinungsdualismus» genannt. Dieses Vorgehen ermöglicht, auf einfache Art die von Parteien vertretenen Positionen bzw. Ideologien zu erfassen und sie international entsprechend definierten «politischen Familien» zuzuordnen.

3.2Dahl: Oppositionsstrukturen

Dahl schlägt 1966 in seinem Text eine neue Klassifikation vor. Er bewegt sich auf der Ebene der Parteien und der übergeordneten des Staates. Er beschreibt die Parteisysteme von verschiedenen westlichen Ländern in Bezug auf das Oppositionsverhalten. Das bedeutet, die unabhängige Variable ist das gegebene Parteisystem eines Landes und die Haltung und Funktion der politischen Parteien zum System die abhängige Variable. Seine qualitative Untersuchung geht von einer binären Vorstellung des Parteisystems aus: Es gibt entweder Dualismus oder Pluralismus (nur Zwei- oder nur Mehrparteiensysteme) für ein Land. Im Gegensatz zu Duverger stehen diese nebeneinander, es gibt kein Primat des Dualismus.

GemässDahl kann Opposition in einem Land verschiedene Formen annehmen. Entweder ist sie konzentriert in einer einzigen Organisation oder dann verteilt auf verschiedene, voneinander unabhängige. Das Parteiensystem eines Landes ist eine wichtige Determinante in Bezug auf die Konzentration bzw. Anzahl der Oppositions(bewegungen) ist. So findet sich die grösste Konzentration von Opposition in Zweiparteiensystemen, wo die nicht an der Regierung beteiligte Partei einen beträchtlichen Teil der Opposition auf sich vereinigt. In Mehrparteiensystemen hingegen ist die Opposition auf zahlreiche Parteien verteilt. An dieser Stelle wendet sich Dahl gegen eine zu einseitige Betrachtung von ausschliesslich Zweiparteiensystemen. Er weist darauf hin, dass dieses von der englischsprachigen Welt verbreitete Modell ausserhalb nur wenig Verbreitung gefunden hat, gerade mal acht Länder lassen sich dazu zählen. Bei näherer Betrachtung variiert aber auch hier die Ausprägung des Oppositionsverhaltens recht gross. Der Autor kommt zum Schluss, dass Mehrparteiensysteme die natürliche Art darstellen, wie Regierung und Opposition ihre Konflikte lösen. Zweiparteiensysteme nach dem Modell einerseits Grossbritanniens oder anderseits der USA betrachtet er als Abweichung. Eine Duverger diametral gegenüberstehende Feststellung!

Konzentration von Opposition hat eine weitere Dimension, jene der parteiinternen Einheit. Dies zeigt sich z.B. in der Stärke des Fraktionszwangs, wo eine alleinstehende Oppositionspartei in mehrere Lager zerfallen kann. Solche zahlreichen Unterteilungen machen es schwierig, Parteisysteme einzelner Länder zu charakterisieren. Daher schlägt Dahl vier Kategorien für diese vor: 

1.Zweiparteiensysteme mit hoher parteiinterner Einheit (Beispiel Grossbritannien).

2.Zweiparteiensysteme mit tiefer parteiinterner Einheit (USA).

3.Mehrparteiensysteme mit relativ hoher parteiinterner Einheit (Schweden, Norwegen, Niederlande).

4.Mehrparteiensysteme mit tiefer parteiinterner Einheit (Italien, Frankreich).

Dies entspricht einer klassifikatorischen Typologie auf Staatsebene nach numerischer Anzahl Parteien und auf Parteienebene nach interner Machtverteilung. Das bedeutet weiter, dass die Ausprägung eines Parteisystems auch die Strategie der Opposition definiert.

Die Konkurrenzfähigkeit einer oppositionellen Gruppierung basiert teilweise auf dem Grad ihrer Konzentration. Strikte Konkurrenz herrscht dort, wo in einem homogenen Zweiparteiensystem die Parteien bei Schlüsselabstimmungen im Parlament (Misstrauensvoten, wichtigen Budgetposten) auf Stufe Partei, nicht intern, klar auseinandergehen. Prominentes Beispiel ist Grossbritannien. Es gibt aber auch Zwischenformen. So stehen sich in den USA anlässlich von Präsidentschaftswahlen die zwei Parteien klar gegenüber, bei Sachabstimmungen im Kongress sind die Fraktionsdisziplin und somit die Parteienkonkurrenz ungleich schwächer. In Mehrparteiensystemen ist eine scharfe Konkurrenz undenkbar, da eine Partei nicht die Mehrheit gewinnen kann und deshalb auf Allianzen angewiesen ist. Aus all diesen Erkenntnissen kann geschlossen werden, dass die Konkurrenzstärke der Opposition sich nach der Anzahl und der Art der bestehenden Parteien richtet. Dahl stellt zum Schluss eine verfeinerte Einteilung vor, welche die Typen von Parteisystemen nicht mehr wie oben primär nach Anzahl Parteien und sekundär nach parteiinternem Zusammenhalt, sondern zuerst nach Konkurrenz, Kooperation und Koalition und in zweiter Linie nach Anzahl einteilt, beides unterschieden nach dem Oppositionsverhalten bei Wahlen und im Parlament. Es sind dies folgende Systeme: 

1.strikt konkurrenzierend (Grossbritannien). 

2.kooperativ-konkurrenzierend (USA: zwei Parteien; Frankreich, Italien: mehrere Parteien).

3.koalierend-konkurrenzierend (Österreich: zwei Parteien, kein Beispiel für mehrere Parteien).

4.strikt koalierend (Kolumbien). 

Zusammengefasst geht Dahl davon aus, dass das Parteiensystem eines Landes die Struktur seiner Parteien und das dazugehörige Oppositionsverhalten prägt. Systeme lassen sich nach dem Grad der gegenseitigen Konkurrenzierung unter den politischen Gruppierungen charakterisieren. Die Anzahl existierender Parteien interessiert nicht in erster Linie, sie lässt sich auch nicht auf ein definitives Muster festlegen.

Ein Schwachpunkt in Dahls Arbeit (es wird nur dieser Text betrachtet und nicht die Umstände, also das Buch, in dem er erschien; das gilt für alle vier Arbeiten) ist mangelnde Belegung seiner Einteilung. Warum die Einteilung so ist wie sie ist, lässt sich nicht so einfach nachvollziehen. Fehlender empirischer Gehalt und wenig Beispiele, also ein kleines N, tragen dazu bei. Weiter werden die Begriffe Konkurrenz, Kooperation und Koalition nur kurz gestreift und nicht erklärt oder miteinander in einen Zusammenhang gestellt.

Positiv zu vermerken ist die klare Absage an den Parteiendualismus. Zwölf Jahre nach Duvergers Fixierung darauf eröffnet uns Dahl eine erweiterte Sichtweise. Er streicht auch einen gewissen Funktionszusammenhang zwischen Parteiensystem und Oppositionsverhalten und -strukturen heraus; ebenfalls ein Novum, verglichen mit unserem ersten Text.

3.3Blondel: Wahlen

Zwei Jahre nach Dahl veröffentlicht Blondel seinen Beitrag zur Parteienforschung. Mit ihm begeben wir uns wieder zurück zu einem Ansatz, der direkt auf die Parteien gerichtet ist, ohne wie bei Dahl den Umweg über die Opposition zu machen.

Blondel strebt eine möglichst umfassende Darstellung von westlichen Parteisystemen an. Er operiert einerseits mit numerischen Kriterien, d.h. mit den tatsächlichen Wähleranteilen, mit deren Hilfe er Typen bildet, andererseits ordnet er die Parteien den politischen Familien zu. Seine eher quantitative Untersuchung bewegt sich einerseits auf der System- bzw. Staatsebene und, in vermindertem Ausmass, auf Parteiebene.

Blondel geht davon aus, dass eine Analyse von Parteisystemen die Anzahl Parteien, deren Stärke, deren Verortung im ideologischen Spektrum, die Basis, auf die sie sich abstützen und die Art ihrer Führungsstruktur umfasst. Im Rahmen der Betrachtung von westlich-liberalen Demokratien genügt ihm eine Beschränkung auf die ersten drei Punkte. Mit dem einfachen Kriterium der Wählerstärke (Anzahl Stimmen pro Partei in Parlamentswahlen von 1945­66) bildet er vier Gruppen von Parteien.

1.Zweiparteiensystem: In fünf Ländern (USA, Neuseeland, Australien, Grossbritannien und Österreich) erringen die zwei grossen Parteien mindestens 90% der Stimmen.

2.Dreiparteiensystem: In weiteren fünf Ländern (BRD, Luxemburg, Kanada, Belgien und Irland) vereinigen die zwei grössten Parteien 75­80% der Stimmen auf sich.

3.Mehrparteiensysteme (vier bis sechs wichtige Parteien): In sechs Ländern (Dänemark, Schweden, Norwegen, Italien, Island) bekommen die zwei grössten Parteien zwei Drittel der Stimmen und

4.in drei Ländern bringen es die zwei grössten Parteien auf die Hälfte der Stimmen (Schweiz, Frankreich, Finnland, Niederlande).

Erstaunlich im Zweiparteiensystem sind die minimalsten Unterschiede in der Wählerstärke zwischen den zwei Parteien. Sie reichen von einem bis zu drei Prozentpunkten. Daraus kann geschlossen werden, dass Zweiparteiensysteme von westlichen Demokratien eine Tendenz zum Gleichgewicht zwischen den zwei Parteien aufweisen. Im Dreiparteiensystem sind die Disparitäten einiges grösser, sie reichen bis zu 17 Prozentpunkte. Eine Vorstellung von drei in etwa gleich grossen Parteien in diesem System muss deshalb relativiert werden. Blondel weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang zutreffender von einem Zweieinhalbparteiensystem gesprochen werden muss. Eine weitere Präzisierung nimmt er für die dritte Gruppe vor. Hier haben wir es mit einem Mehrparteiensystem zu tun, in dem eine dominante Partei etwa 40% oder weniger als die Hälfte aller Stimmen einheimst. Somit ist die vierte Gruppe eigentlich jene der Mehrparteiensysteme: Es existiert keine dominante Partei, unter den etablierten finden sich drei oder vier, die gut Koalitionen eingehen können.

Nachdem nun die eine Seite der Charakteristiken der Parteiensysteme beschrieben ist, bleibt noch jene der Ideologien, eine Klassifikation, die schwierig vorzunehmen ist in diesem Rahmen der westlichen Demokratien. Der Autor untersucht zu jedem Land einer bestimmten Gruppe, wo sich die Parteien verorten lassen und wie gross sie sind. In der ersten Gruppe weisen alle Länder ausser den USA eine grosse sozialistische Partei, eine grosse konservative oder christliche Partei und eine sehr kleine Partei im Zentrum (liberal bzw. radikal) auf. Blondel hat für die USA die Republikaner und Demokraten zum Zentrum gerechnet. Die Länder der zweiten Gruppe weisen zwei Typen von Parteisystemen auf. Belgien, Luxemburg und die BRD ähneln den Ländern der ersten Gruppe, ausser dass ihre Zentrumspartei stärker ist, aber immer noch objektiv schwach (rund 10% Wähleranteil) und dies zu Lasten von einer der zwei Grossen. Die beiden anderen Länder Kanada und Irland haben eine schwache sozialistische Partei, dafür ein stärkeres Zentrum, und die starke Partei rechts ist nicht die christliche, sondern die konservative. Ebenfalls zwei verschiedene Untergruppen machen die dritte Gruppe aus. In Dänemark, Norwegen und Schweden finden wir die sozialistische Partei als stärkste, neben ihr schwache Zentrumsparteien, Agrarparteien (in dieser Untersuchung ein Spezialfall) und Konservative. In Island und Italien bilden die Konservativen bzw. die Christlichen die stärksten Parteien, begleitet von einer recht einflussreichen kommunistischen Partei, die damit das linke Lager spaltet und die Sozialisten schwächt. Die Länder der vierten Gruppe haben keine dominierende Partei, die Stimmen verteilen sich relativ gleichmässig über das ganze Spektrum (Schweiz und Holland mit kleinerer Varianz). Blondel zieht den Schluss, dass es in westlichen Demokratien sechs Parteiensysteme gibt. Das eine Extrem die USA, wo die zwei dominanten Parteien 99% der Wählerstimmen erhalten. Das andere Extrem die letzte Gruppe, wo keine Partei mehr als 25% der Wählerstimmen erzielt. Grössere Parteien im Mehrparteiensystem entstammen entweder dem linken oder rechten Lager, nicht aber dem Zentrum. Gleichzeitig existiert eine Reihe von theoretisch möglichen Parteisystemen nicht. So gibt es kein wirkliches Dreiparteiensystem. Parteisysteme westlicher Demokratien entwickeln sich also nicht beliebig.

Blondel, auf einen Punkt gebracht, erkennt die Anzahl Parteien und ihre Wählerstärke, gepaart mit ihrer Einordnung im politischen Spektrum als wichtigste Determinanten für das Parteiensystem. In seiner klassifikatorischen Typologie ordnet er 19 westliche Demokratien in sechs Gruppen ein, vom Zweiparteiensystem zum Mehrparteiensystem ohne dominierende Partei.

Blondel lässt eine Betrachtung nach Oppositionsstrukturen aus und erweitert die Möglichkeiten zur Klassifikation deutlich, was ein Gewinn ist. Sein numerisches Verfahren ist nachvollziehbar und brauchbar, seine Anzahl Fälle ist im Vergleich zu Dahl doppelt so gross und objektiv gesehen gut ausgeschöpft. Eine kritische Bemerkung muss bei der Einteilung nach politischen Familien angebracht werden. Hier ist nicht klar, auf was er sich stützt: sind es Parteinamen, -programme, -abstimmungsverhalten oder -exponenten?

3.4Sartori: Zweidimensionalität

Der letzte Text ist zugleich der längste, neuste (1976) und wertvollste der Viererauswahl. Er stellt einen markanten Fortschritt dar, indem er das Untersuchungsobjekt neu und sehr umfassend angeht. Von Beyme (1992: 327f.) bemerkt dazu:

«(...) dass die bloss numerische Klassifikation seit G. Sartori (1976) durch ein
inhaltliches Kriterium abgelöst wurde, nämlich das der für Regierungsbildungsprozesse relevanten Parteien.»

Mair (1990: 356) schreibt ähnlich anerkennend:

Sartori’s typology clearly represents the most extensive and elaborated attempt to understand the key elements which distinguish between competitive party systems and
has now gained widespread acceptance in the literature.”

Sartori hat einen numerischen Ansatz, den er mit qualitativen Kriterien verknüpft, sonst aber nicht quantitativ verfährt. Er stellt sich gegen den Dualismus wie ihn Duverger vertritt. Er betrachtet zum einen die System-/Staatsebene und arbeitet zum andern mit der klassifikatorischen Typologie nach Funktion und Haltung zum politischen System.

Im ersten Abschnitt seiner Arbeit holt Sartori weit aus und bewertet die bestehende Literatur zum Thema. Die Grundfrage lautet, wie die Parteisysteme der über 100 Länder der Welt in ihrer grossen Vielfalt geordnet und dargestellt werden können. Eine, wenn auch umstrittene Variante erschöpft sich im reinen Zählen der Parteien innerhalb eines Systems. Eine weitere Methode lässt die numerische Komponente beiseite und betrachtet nur die Haltung der Parteien zum System (La Palombara und Weiner entwerfen eine vierteilige Typologie: hegemonisch-ideologisch / hegemonisch-pragmatisch / subversiv-ideologisch / subversiv-pragmatisch). Blondel, wie wir gesehen haben, operiert mit klaren, vorhandenen Wahldaten, um die Cluster von Parteitypen zu konstruieren. Unter dem Eindruck dieser unbefriedigenden Vielfalt von Ansätzen macht sich Sartori auf, die Geschichte von Beginn weg neu zu betrachten. Die Anzahl Parteien bleibt für ihn eine entscheidende Grösse, sie zeigt grob in welchem Ausmass die politische Macht fragmentiert, gestreut oder konzentriert ist. Je grösser die Anzahl Parteien, desto mehr Beziehungen entwickeln sich zwischen ihnen, desto komplexer wird das politische System. Die Frage ist nicht, ob das Zählen der Parteien relevant ist, aber ob das numerische Kriterium, das herangezogen wird, wirklich das Gesuchte hervorbringt. Sartori verneint dies in Bezug auf den Stand der Forschung, er kritisiert insbesondere die (bequeme) binäre Einteilung Zweiparteien-/Mehrparteiensystem, die ein viel zu grobes Raster darstellt. Er schlägt deshalb neue Zählregeln vor, die einer besseren Klassifikation dienen sollen. 

Die grundlegende Frage der Zählregel laut: Welche Parteien sind relevant, sind demnach mitzuzählen? Ab welcher Stärke also ist eine Partei wichtig? Wie schwach muss sie sein, damit sie nicht mehr interessiert? Datenbasis sind die Wählerstimmen und die Anzahl Parlamentssitze, die einer bestimmten Partei zufallen. Eine Fünfprozent-Klausel ist in diesem Zusammenhang wenig sinnvoll, denn die Relevanz einer Partei ist nicht nur eine Funktion der relativen Machtverteilung im System, sondern auch ihrer Position auf der Links-Rechts-Skala. Das Beispiel der italienischen Republikaner zeigt, dass sie mit nur zwei Prozent Wähleranteil häufig das Zünglein an der Waage gespielt hat. In einem weiteren Schritt für die Erstellung von Zählregeln sind die Parteien als Instrumente des Regierens zu betrachten: Je zahlreicher die Parteien, desto mehr muss ihr Regierungs- bzw. Koalitionspotenzial betrachtet werden. Auch hier gilt analog, dass eine Partei zwar klein sein kann, aber ein hohes Gewicht bei Koalitionsverhandlungen hat. Eine erste Zählregel lautet demzufolge: Eine kleine Partei wird nicht mitgezählt, wenn sie über Zeit überflüssig ist in dem Sinne, dass sie nie für eine Koalitionsmehrheit gebraucht wird. Sie wird dann gezählt, wenn sie über Zeit mindestens einmal die Regierungsmehrheit mitbestimmt. Die zweite Zählregel betrachtet eine Partei dann als relevant, wenn sie durch ihre Existenz und ihr Auftreten die Taktiken und die Richtung des Parteienwettbewerbs unter den Regierungsparteien ändert, z.B. indem diese neu gegen- oder füreinander arbeiten. Dieser Einfluss kann als «Erpressungs-» oder «Sabotagepotenzial» beschrieben werden. Als Sabotageparteien sind z.B. Anti-System-Parteien zu betrachten, die ihre Vetomacht im Parlament gezielt ausspielen. Kurz: Eine Partei wird dann nicht gezählt, wenn sie weder Koalitions- noch Sabotagepotenzial aufweist. Die Zählregeln erlauben nun, eine Klassifikation der Parteiensysteme zu erstellen. Sartori präzisiert an dieser Stelle (ähnlich wie in Abschnitt 2 «Begriffsklärung») die unterschiedlichen Begriffe: Klassifikation basiert auf einer Ordnung von gegenseitig abgegrenzten Klassen, die durch die Zuordnung eines bestimmten, übergreifenden Kriteriums zu eben diesen Klassen, entsteht. Eine Typologie ist wie eine Matrix: Hier werden ganze Bündel von Attributen, also mehrere Kriterien, zur Einordnung verwendet. In diesem Sinne bringen Zählregeln (singuläres Kriterium) Klassen hervor. Sartori findet deren sieben:

1.eine Partei,

2.hegemonische Partei,

3.prädominante Partei,

4.zwei Parteien,

5.limitierter Pluralismus,

6.extremer Pluralismus,

7.atomisiert.

Im Gegensatz zur bestehenden Literatur teilt Sartori «Einparteiensystem» auf drei Klassen auf, ein wichtiger Verfeinerungsschritt. Gleichwohl eine neue Klasse stellt die siebte dar. Sie ist als residuale Klasse aufzufassen, weil es keinen grossen Unterschied mehr macht, ob zehn, zwanzig oder mehr Parteien vorkommen. Auf sie wird weiter nicht eingegangen. Dennoch reicht diese Klassifikation zuwenig weit. Die erste Klasse ist immer noch zu unscharf und limitierter Pluralismus muss vom extremen klar abgegrenzt werden, hier reicht allein die Anzahl der Parteien als Kriterium nicht, denn es könnte sich entweder um eine Segmentierung (= Aufsplittung der Gesellschaft in mehrere Ethnien oder Konfessionen) oder Polarisierung (= nennenswerte ideologische Distanz/Differenzen zwischen den einzelnen Parteien) handeln. Als Konsequenz muss der Übergang von der Klassifikation zur Typologie gemacht werden, als neue Dimension tritt Ideologie dazu. «Ideologie» wird analytisch in ihrer Distanz, d.h. als bestimmendes Kontinuum der Links-Rechts-Skala, und in ihrer Intensität, d.h. ihrem Affekt, ihrer Durchschlagskraft bestimmt. Mit dieser zweidimensionalen Typologie lassen sich die Pluralismen adäquater beschreiben. Ausgehend von obigem Muster der Fragmentierung (= zahlenmässige Zersplitterung der Parteien) lassen sich die Klassen limitierter (einer tiefen Fragmentierung) und extremer Pluralismus (einer hohen Fragmentierung entsprechend) bestimmen. Ist nun ein Parteiensystem, unter Beachtung der ideologischen Dimension, fragmentiert, aber nicht polarisiert, gehört es zum (ideologisch) moderaten Pluralismus; ist es fragmentiert und polarisiert, gehört es zum polarisierten Pluralismus. Limitierter und extremer Pluralismus werden also durch diese zwei neuen, aber breiter abgestützten Typen ersetzt. Damit wird nicht die Aufteilung, sondern die fragmentierte oder polarisierte Verteilung der Macht dargestellt. Die einzelnen Typen der neuen Einteilung lassen sich folgendermassen charakterisieren.

Polarisierter Pluralismus.Auf operationeller Ebene liegt die Grenze zum moderaten Pluralismus zwischen fünf und sechs Parteien, weil die Interaktionen zwischen sechs und mehr Parteien anders ablaufen als bei fünf und weniger. Beispiele von Parteisystemen, wo polarisierter Pluralismus zu verzeichnen war/ist, sind die Weimarer Republik, die Vierte Republik in Frankreich, Chile (bis September 1973) und Italien. Diese sind charakterisiert durch: ­— 1. Existenz von relevanten Anti-System-Parteien. Diese Parteien, dazu zählen v.a. die Faschisten und Kommunisten, untergraben die Legitimität der gewählten Regierung und sind darauf aus, das System zu stürzen. Sie weisen eine maximale ideologische Distanz zur Regierung auf. ­— 2. Es existiert eine bilaterale Opposition. Es gibt zwei Parteien in der Opposition, die sich gegenüberstehen und ihre Kräfte nicht zusammentun können. Jede für sich steht der Regierung näher. —­ 3. Es gibt eine oder mehrere Parteien im Zentrum, d.h. auf der Links-Rechts-Skala ist die metrische Mitte besetzt. Das bedeutet trianguläre oder multipolare Interaktionen. Diese Positionierung macht die Mitte unattraktiv und bremst zentripetale Kräfte. ­— 4. Alle diese Punkte machen das wichtige Charakteristikum Polarisierung aus. Zwei Pole stehen sich in maximaler ideologischer Distanz gegenüber, die Konfliktlinien gehen tief, Konsens herrscht wenig und die Legitimität des politischen Systems wird in Frage gestellt. —­ 5. Zentrifugale Kräfte überlagern die zentripetalen, die Mitte verliert Stimmen an eines oder beide extremen Enden. ­— 6. Es herrscht ein betontes ideologisches Muster, das die Einstellungen der Bevölkerung widerspiegelt, obwohl vielleicht die dazugehörigen Konfliktlinien vernachlässigbar sind. Die Parteien differieren nicht nur in Bezug auf die zu machende Politik, sondern auch im Bereich von fundamentalen Fragen und Prinzipien. ­— 7. Die Anwesenheit von Opposition ohne Verantwortung. Die Zentrumspartei als Dreh- und Angelpunkt des polarisierten Pluralismus hat als Aufgabe, quasi ewig zu regieren, wobei die extremen Parteien von einem Regierungswechsel fast schon per Definition ausgeschlossen sind. Statt alternativer Koalitionen gibt es periphere Wechsel, d.h. es wechseln sich Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien ab. ­— 8. Es herrscht ein politischer Stil von übertriebenen Versprechungen, im Gegensatz zu einem wirklich wettbewerbsgeprägten System. Dies hängt mit Punkt sieben zusammen. Eine Opposition, die keine Verantwortung übernimmt, muss sich nie dazu verpflichten, ihre Versprechen wahr zu machen; eigentlich eine unfaire Art des Wettbewerbs.

Moderater Pluralismus und segmentierte Gesellschaften.Als Klasse betrachtet, umfasst moderater Pluralismus drei bis fünf relevante Parteien. Mehr als fünf bedeutet nicht automatisch extremer Pluralismus, in diesem Fall muss vielmehr anhand der Kriterien beider Typen entschieden werden, wo das entsprechende Parteisystem zutreffender eingeordnet werden kann. Der Typ moderater Pluralismus lässt sich zwischen dem Zweiparteiensystem und dem extremen Pluralismus einordnen. Länderbeispiele sind die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Schweiz, Österreich und der Libanon. ­— 1. Ein Merkmal ist das Vorhandensein einer Koalitionsregierung, denn berücksichtigt man die Anzahl wichtiger Parteien, kann keine für sich eine Mehrheit gewinnen, die Macht muss aufgeteilt werden. ­— 2. Daraus entwickelt sich eine bipolare Konstellation, regiert wird in einer möglichen Alternation von zwei Koalitionen. Es findet eine Annäherung an die Mechanik des Zweiparteiensystems statt. ­— 3. Es gibt keine nennenswerten Anti-System-Parteien und auch keine bilaterale Opposition, die von zwei Polen her das System bedrängt, denn alle Parteien sind auf ein mögliches Regieren ausgerichtet. Jene Parteien, die nicht für die Koalition berücksichtigt werden, opponieren aus einer politischen Ecke heraus, es herrscht unilaterale Opposition. ­— 4. Das bedeutet, dass es keine Polarisierung gibt, sprich keine grosse ideologische Distanz zwischen den Parteien. ­— 5. Damit hängt zusammen: Der Wettbewerb ist geprägt von zentripetalen Kräften.

Zweiparteiensystem.Dies ist der bestbekannte Typ. Er ist simpel, wird von wichtigen Ländern praktiziert und stellt einen paradigmatischen Fall dar. Sartori stellt sich jedoch klar gegen Duvergers «dualistische Scheuklappen», die ihn zu «erstaunlichen Fehlwahrnehmungen» verleitet hätten (Sartori 1990: 328). Länderbeispiele zu finden gestaltet sich recht schwierig. Sartori macht mit seinem strengen Massstab in einer fast schon ironischen Art und Weise die diesbezüglichen Vorschläge der Literatur zu Kleinholz (1990: 339f.). Von den fünf Beispielen Grossbritannien, USA, Neuseeland, Australien und Kanada lässt er keines so richtig gelten, was überhaupt nicht gegen deren mögliche Existenz spricht. ­—1. Die wahlgewinnende Partei geht aus einem Wahlkampf mit einer anderen grossen Partei hervor und regiert alleine, aber befristet. Dieser Modus funktioniert unter den gegebenen Bedingungen gut, z.T. besser, als wenn mehr Parteien beteiligt wären. ­— 2. Die andere Partei übernimmt die Rolle der Opposition und verkörpert gleichzeitig die permanent mögliche Alternative, die vom System vorgesehen ist, d.h. die Machtrotation. —­ 3. Der Wettbewerb ist zentripetal, d.h. die Parteien versuchen, dort ihren Wähleranteil abzuschöpfen, wo er am grössten ist; gemäss der Theorie der Normalverteilung ist das die Mitte. Dies gilt i.e.S. nur für jene Länder, die eine solche Verteilung der Einstellungen und Meinungen aufweisen. Anderseits schafft gerade das Zweiparteiensystem eine Art Konfliktreduktion oder Konsens, bzw. Bewegung zur Mitte hin. Der Grund liegt darin, dass die Parteien Aggregate von zahlreichen Meinungen darstellen, also ein breites Spektrum abdecken müssen, da sie nur zu zweit sind. Unter dem Dach einer solch umfassenden Partei bilden sich extreme Positionen viel weniger aus. —­ 4. Die Existenz einer dritten Partei ist möglich. Sie zwingt aber die Wahlsiegerin nie zu Koalitionsverhandlungen und gefährdet langfristig in keiner Weise den Machtwechsel der zwei grössten Parteien.

Prädominante Partei.Sartori wehrt sich gegen die verbreitete Ansicht der Literatur, die aus der Existenz einer dominierenden Partei automatisch auch ein dominantes Parteisystem macht. Er grenzt sich deshalb vom herrschenden Verständnis des Begriffs «dominant» ab und operiert mit «prädominant». Drei Länder (und ihre entsprechenden Parteien) können zu diesem Typus gezählt werden: Norwegen, Schweden, Dänemark (Sozialisten) und Indien (Kongresspartei). —­ 1. Es existiert eine Hauptpartei, die in Parlamentswahlen regelmässig die Mehrheit der Sitze gewinnt (Ausnahme: Jene Länder ohne Regel der absoluten Mehrheit bzw. mit Minderheitenregierung wie in Skandinavien) und eine Machtrotation praktisch nicht vorkommt. —­ 2. Drei aufeinanderfolgende absolute Sitzgewinne bei Wahlen etablieren diese Partei als prädominant. Gleichzeitig kann sie diesen Status jederzeit wieder verlieren, je nach Ausgang der Wahlen. —­ 3. Die prädominante Partei hat keinen diktatorischen Status, neben ihr existieren ganz legal andere Parteien, die jedoch kaum ernsthafte Konkurrentinnen sind. —­ 4. Das System der prädominanten Partei ist ein Typ, keine Klasse. Das Kriterium ist nicht in erster Linie die Anzahl Parteien, sondern die spezifische Verteilung der Macht unter ihnen. Das System kann dabei aus einem Zweiparteiensystem oder einem hoch fragmentierten System heraus entstehen.

Sartori beendet seine Betrachtung mit einem grafischen Modell. Er operiert mit einem Quadranten, die eine Achse mit der ideologischen Distanz (von klein zu hoch), die andere mit dem Grad derParteifragmentierung (von tief zu hoch) beschriftet. Hier zeigt sich, dass die einzige noch verbleibende Kombination von hoher ideologischer Distanz und tiefer Parteifragmentierung in der Realität nicht existiert, da sie den Zusammenbruch des Systems bedeutet.

Zusammengefasst spannt Sartori, basierend auf der bestehenden, nach ihm revisionsbedürftigen Literatur, einen neuen, weiten Forschungsbogen mit dem Erkenntnisinteresse der möglichst umfassenden Darstellung von Parteisystemen. Er legt bisherige, einengende Betrachtungsweisen wie den Dualismus von Duverger beiseite. Er berücksichtigt über das rein numerische Verfahren der Zählung (das er zusätzlich verfeinert) hinaus die zweite Dimension der Ideologie und teilt Parteisysteme nicht in Klassen ein, sondern schafft die aussagekräftigeren Typen. Dies sind gleichzeitig die Qualitäten seiner Arbeit, mit denen er die Forschung in grossem Masse bereichert.

Kritisch zu bemerken ist einerseits eine fehlende Systematik und Ungleichgewichtung der verschiedenen Parteitypen. Wenn für ein Typ in einer Auflistung detailliert die Charakteristiken erläutert werden, müsste er bei allen mehr oder weniger gleich verfahren. Sonst entsteht der Eindruck einer Gewichtung, deren Kriterien nicht klar sind. Weiter ist die unklare Verwendung des Begriffs «Segmentierung» zu nennen, der im Text kurz auftaucht, aber nicht als Bezeichnung für einen Typ gebraucht wird und in der Schlussgrafik trotzdem diesen Status erhält, hingegen die vorher verwendeten Begriffe an dieser Stelle nicht konsequent wiedergegeben werden.

4.Zusammenfassung

Die Darstellung der vier Texte zeigt deutlich, wie und welche Ansätze verfolgt werden, um die politischen Systeme der verschiedenen Länder in Bezug auf ihre Parteien darzustellen. Ein Destillat daraus zu gewinnen ist schwierig, zu verschieden sind diese Ansätze. Zweifellos sollte Sartori das grösste Gewicht beigemessen, sein Text zuerst angeschaut werden, während die anderen drei als mögliche Alternativen gelten. Es lässt sich auch ein Stück weit der Wandel im wissenschaftlichen Arbeiten beobachten, obwohl die Texte nur minimal kleine Ausschnitte aus der Forschung sind und keineswegs repräsentativ sein müssen. Angefangen bei Duverger, der sich zu seiner Zeit auf sehr wenig Literatur stützen konnte und rein qualitativ wirkte bis Sartori, der das zahlreich vorhandene Material kritisch beleuchtet und durch neue Erkenntnisse weiterbringt, indem er noch über das rein Numerische hinausgeht. Hier zeigt sich m. E. gut, wie im Sinne des kritischen Rationalismus jedes Wissen nur vorübergehend ist, bis es von neuem abgelöst, bzw. falsifiziert wird. Nicht jeder der vier Autoren forscht zwar in dieselbe Richtung. Es werden aber hier und dort Bezüge gemacht, ältere Erkenntnisse aufgenommen und weiter verbessert oder verworfen. Wie eingangs bereits erwähnt, zeigt sich hier ein kleines Stück Wissenschaftsgeschichte, die den Wert des ersten Textes, der heute klar an Aussagekraft eingebüsst hat, für dieses Interesse noch etwas erhält.

5.Vor- und Nachteile von Typologien

+Typologien erlauben, je nach Erkenntnisinteresse, ein Parteiensystem in Bezug auf wenige oder viele Kriterien zu erfassen und einfach darzustellen.

+Typen von Parteien oder Parteisystemen liefern Grundlagen für (international) vergleichende Studien.

+Besonders Entwicklungstypologien sind mögliche Leitlinien für historische Forschungen.

+Wahlprognosen und -analysen können sich auf Parteitypen als Strukturmerkmal stützen.

­Die grosse Anzahl Kriterien verzettelt die Forschung, jeder entwickelt einen eigenen Ansatz.

­Typologien können Schwerpunkte falsch setzen oder die Wahrnehmung von Parteien in einer Richtung verzerren.

­Das Operieren mit einer grossen Anzahl Kriterien, welche zwar die Realität präziser abbildeten, ist nicht sinnvoll, Analyse und Darstellung werden zu kompliziert.

­Die Literatur ist sich uneinig in den Erkenntnissen und auch in den Begriffen, es herrscht zu grosse Vielfalt statt Einheit. 

Verwendete Literatur

Von Beyme, Klaus (1992). «Parteiensysteme». In: Lexikon der Politik (Band 3, Die westlichen Länder), hrsg. von Manfred G. Schmidt, S. 326­332. München: C.H. Beck.

Blondel, Jean (1990). “Types of Party System.” In: Mair, Peter (ed.): The West European party system. Oxford University Press, pp. 302­310. Excerpted from Blondel, Jean (1968): Canadian Journal of Political Science 1/2. The Canadian Political Science Association.

Dahl, Robert (1990). “Party Systems and Patterns of Opposition.” In: Mair, Peter (ed.): The West European party system. Oxford University Press, pp. 296­301. Excerpted from Dahl, Robert (1966): Political Oppositions in Western Democracies. New Haven: Yale University Press. 

Duverger, Maurice (1990). “The Two-Party System and the Multiparty-System”. In:Mair, Peter (ed.): The West European party system. Oxford University Press, pp. 285­295. Excerpted from Duverger, Maurice (1954): Political Parties: Their Organization and Activity in the Modern State. New York: John Wiley & Sons. 

Nohlen, Dieter (1998). Lexikon der Politik (Band 7, Politische Begriffe) (Hrsg.). München: C.H. Beck.

Sartori, Giovanni (1990). A Typology of Party Systems.” In: Mair, Peter (ed.): The West European party system. Oxford University Press, pp. 316­349. Excerpted from Sartori, Giovanni (1976): Parties and Party Systems: A Framework for Analysis. Cambridge University Press.