Proseminarbeitrag zum Seminartext

„THE TWO-PARTY SYSTEM AND 

THE MULTIPARTY SYSTEM“

von Maurice Duverger

Schriftliche Vortragsfassung

Vortrag gehalten am 25. Mai 2000

im Rahmen des Proseminars

„Politische Parteien“

Universität Bern

RWW-Fakultät

Institut für Politikwissenschaft

Betreut durch: Dr. Andreas Ladner

Eingereicht am 24. Mai 2000 von 

Christian Leder

Bühlstrasse 51

3012 Bern

Tel. 031 / 301 07 57

Mat. Nr. 98-115-926

1. Einführende Bemerkungen

In unserer Erkundungsreise/Entdeckungsfahrt durch die Klassiker der Parteienforschung sind wir heute bei Maurice Duverger angelangt. Grundlage der folgenden Diskussion ist der Seminartext mit dem Titel „The Two-Party System and the Multiparty System“, der in Form eines Exzerptes einem ebenfalls in die Parteienforschung einführenden Werk entnommen ist; nämlich dem Buch „The West European Party System“ von Peter Mair. Peter Mair ist uns ja durch den gerade eben vorgestellten Text „Myths of electoral change..“ bekannt.

1.1 Beziehung zwischen Exzerpt und Original

Dazu muss gleich eine Bemerkungen gemacht werden: Wie gesagt handelt es sich beim Seminartext um ein Exzerpt. Der Inhalt ist also auf recht engem Raum zusammengestaucht, was den Umstand mit sich bringt, dass der Text ­ zumal in Englisch ­ nicht ganz einfach zu verstehen ist; mindestens hatte ich bei meiner ersten Lektüre Schwierigkeiten, die vom Autor durchdachten Zusammenhänge vollständig nachzuvollziehen. Bei meiner Darstellung des Textes werde ich mich denn aus erwähntem Grunde stark an den Originaltext anlehnen. In seinem Klassiker „Die Politischen Parteien“, lässt sich Duverger auf ganzen 70 Seiten über die Frage nach den Anzahl Parteien in einem Parteiensystem aus- derselbe Inhalt wird in unserem Exzerpt auf gerade einmal 10 Seiten präsentiert. Das erwähnte Buch von Duverger mit Titel „Die Politischen Parteien“ ist 1951 unter dem Originaltitel „Les Parties Politiques“ in Paris erschienen, wo Duverger Professor an der Sorbonne in Paris war. „Les Parties Politiques“ wurde in viele Sprachen übersetzt, was alleine schon Rechenschaft über die Bedeutung dieses Werkes abzugeben vermag. Ich werde mich jedoch, wie gesagt, auf die deutsche Übersetzung beziehen, die 1959 erschienen ist.

1.2 Zur Person von Maurice Duverger

Ausser dass Duverger wie erwähnt Professor an der Sorbonne in Paris war, konnte ich über seine Person nichts Konkretes in Erfahrung bringen. Als ich nach einenhalb Stunden auf dem Internet kein brauchbares Portrait des angeblichen ‚Klassikers‘ gefunden habe und danach bei meiner Recherche durch die NZZ-Jahrgänge 96-99 feststellen musste, dass darin der Name »Duverger« kein einziges Mal erwähnt wird, um schliesslich beim Blick in den Brockhaus und die englische Enzyklopädie erneut enttäuscht zu werden, gab ich es endgültig auf, mehr über die Person von Duverger herauszufinden. Vielleicht werden wir in der anschliessenden Besprechung auf diesen Punkt zurückkommen und in dieser spezifischen Sache einmal mehr vom Ladner’schen Wissensvorrat schöpfen können.

1.3 Das wissenschaftliche Werk Duvergers

Um das zugegeben recht eingeschränkte Bild von Duverger ein wenig zu bereichern, ist es vielleicht sinnvoll, einen kleinen Überblick über seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu geben. Auch hier müssen wir uns mit der Darstellung eines Ausschnittes begnügen ­ ich kann nicht sicher sagen, was Duverger alles veröffentlicht hat. Sicher ist jedoch, dass seine 1951 veröffentlichte Darstellung der politischen Parteien sein bedeutendstes Werk darstellt. Später hat er noch Bücher zu politikwissenschaftlichen Themen mit den Titeln „Sociologie politique“ und „Institutions politiques et droit constitutionnel“ veröffentlicht. In den beiden später verfassten Werken „La Cinquième Republique“ und „La monarchie républicaine“ wendet sich Duverger offenbar mehr einer spezifisch historischen Untersuchung der französischen Politik zu, indem er nach den Strukturen und dem Funktionieren der Politik in der republikanischen Monarchie fragt.

2. Zum Text „The Two-Party System and the Multiparty System“

Wie oben erwähnt, bewegen wir uns mit der Auseinandersetzung mit dem Originaltext von Duverger ganze 50 Jahre zurück, nämlich zurück in die späten 40er und ersten 50er ­Jahre, in denen der Text ja entstanden ist. Wenn ich mir soviel an Kritik schon vorwegzunehmen erlaube, darf ich in diesem Zusammenhang feststellen, dass der Text auf den heutigen Leser veraltet wirkt. Dies mag für das Exzerpt weniger gelten als für den Originaltext, wenigstens in seiner deutschen Übersetzung. Auch ist Duvergers Text der älteste, den wir hier ihm Rahmen des Proseminars zu lesen bekommen. An gegebener Stelle werde ich Im Laufe des Referates noch konkreter die obsolete Wirkung einiger Textstellen erläutern.

Schon der Titel des Textes zeigt uns den darin behandelten Themenbereich. Es geht also um Parteiensysteme. Dass es nun um angebliche Systeme geht, klärt uns zudem über die gegenüber unserem Untersuchungsgegenstand eingenommene Betrachtungsperspektive auf. Wir wollen demnach nicht einfach „Parteien“ anschauen. Vielmehr geht es im folgenden um die Betrachtung von Parteien in Parlamenten, um die Betrachtung der zwischen Ländern unterschiedlichen Verteilungen von Parteien auf die Sitze in einem Parlament. Dabei interessiert uns vorgängig die Frage, ob wir plausible Hypothesen über systematische Zusammenhänge zwischen der Verteilung der Parteien im Parlament und äusseren Faktoren aufstellen können. 

In Duvergers Hauptwerk „Die Politischen Parteien“ ist der vom Exzerpt berücksichtigte Auszug im ersten Kapitel mit Titel „Die Anzahl der Parteien“ des zweiten Teils von zwei Teilen des Buches verordnet. Wenn Duverger das inhaltlich von uns berücksichtigte Kapitel mit „Die Anzahl der Parteien“ überschreibt, so dürfen wir wiederum nicht unbeachtet lassen, dass Duverger im Teil des Buches zu den „Parteisystemen“ in mehreren, dem ersten folgenden Kapiteln noch weitere Aspekte des Parteiensystems, wie „Die Grösse der Parteien und ihre Bündnisse“ im 2. und „Parteien und politisches Regime“ im 3. Kapitel, behandelt. Zeichnet sich also ein Parteiensystem durch mehrere ‚Merkmale‘ der Interaktion der Parteien aus, so beschränken wir uns in unserer Betrachtung auf den von Duverger unter dem Titel „Die Anzahl der Parteien“ behandelten Aspekt eines Parteiensystems. 

Bei der Klassifizierung der Anzahl Parteien unterscheidet Duverger grob zwischen zwei Erscheinungstypen. Deren erster ist der sogenannte Parteiendualismus, der aus der Dominanz von zwei Parteien entsteht, von Duverger als „Zweiparteiensystem“ bezeichnet. Der zweite Typ zeichnet sich durch die Aufteilung in mehr als zwei Parteien aus, Duverger spricht hier vom sog. „Mehrheitssystem“. In Anlehnung an Duverger werde auch ich nun nacheinander auf die beiden Erscheinungen, die beiden „Systeme“, eingehen.

Neben den beiden genannten Typen gibt es noch einen dritten: die Einheitspartei. Die Gegenüberstellung von Parteienpluralismus und Einheitspartei hat eine grosse Bedeutung, vor allem aber war sie über lange Zeit die Richtschnur für eineTeilung der Welt in „Ost“ und „West“, als die sie heute nicht mehr angewendet werden kann. 

Doch wollen wir uns nun der Gegenüberstellung von Zwei- und Vielparteiensystem zuwenden. Wie bereits beschrieben, kommt diese Gegenüberstellung in unserer Erörterung der Frage nach der Anzahl der konkurrierenden Parteien in einem politischen System gleich. Die Zahl der Parteien soll hier als die Anzahl der Parteien verstanden werden, die innerhalb des gesetzgebenden Gremiums entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung auszuüben vermögen.

Die Zahl der Parteien entfaltet dort ihre grösste Bedeutung, wo vom politischen System her eine Kammer einer anderen ein Misstrauensvotum aussprechen kann und diese sogar aufzulösen im Recht steht. Ist die Zahl der Parteien hier aber auf eine oder zwei beschränkt, wird in den meisten Fällen dieselbe Partei in beiden Räten über die Mehrheit der Sitze verfügen, was das Kontrollinstrument des Misstrauensvotums teilweise ausser Kraft setzt.

Kommen wir nun aber zur schon oft erwähnten Gegenüberstellung von Zwei- und Vielparteiensystem:

2.1  Das Zweiparteiensystem

Unser Exzerpt beginnt mit der Darstellung dreier Typen, die sich in der Zeit seit dem 19. Jahrhundert entwickelt und teils gegenseitig abgelöst haben: »Wendet man sich nach einer Beschreibung der räumlichen Verbreitung des Zweiparteiensystems seiner Erscheinung in der Zeit zu, so lassen sich drei verschiedene Typen feststellen, sie seit dem 19. Jahrhundert einander gefolgt sind« (Duverger 1959: 227). Im Grunde zeichnen sich diese hier von Duverger aufgestellten Typen durch die Kombination der beiden konkurrierenden Parteien samt ihrer jeweiligen Welt-Haltungen aus.

Zunächst hat das Zensuswahlrecht einen (1) bürgerlichen Dualismus zwischen Konservativen und Liberalen hervorgebracht. Die ‚Konservativen‘, hauptsächlich bestehend aus Aristokratie und ländlicher Bürgerschicht, stehen für die Werte der Autorität, der Tradition und generell der Unterordnung unter geordnete Verhältnisse ein, während sich die grösstenteils städtisch rekrutierten ‚Liberalen‘, meist Kaufleute, Industrielle und Intellektuelle, auf die Ideale der französischen Revolution berufen und damit für einen Individualismus und Rationalismus einstehen. Diese Teilung war vor allem in protestantischen Ländern anzutreffen, wo hingegen in katholischen der beschriebene Parteiendualismus durch eine weitere religiöse Opposition durchbrochen wurde; wobei der Katholizismus auf der Seite der Konservativen untergebracht wurde.

Mitte des 19. Jahrhunderts schien der bisherige Parteiendualismus durch vermehrtes Auftreten eines (2) »Radikalismus« aufgesprengt zu werden. Dieser Radikalismus trat in Form eines »Linksradikalismus« zu Tage, meist als innere Spaltung der bisherigen ‚Liberalen‘, der wiederum mit der Entstehung der sozialistischen Bewegungen und sozialistischen Parteien einher ging. Vielfach konnte sich die neue Dreiteilung des restriktiven Wahlrechts wegen nicht sogleich auch im Parlament durchsetzten: »Die Entwicklung des Sozialismus hat dagegen eine völlige Modifikation des früheren Parteiendualismus bedeutet. In einigen Ländern wurde sie durch das beschränkte Wahlrecht aufgehalten, so dass der Dualismus sich noch im Parlament erhielt, während im Volk schon drei Parteien arbeiteten. Da das Wahlrecht für die Gemeinden und Städte häufig weniger beschränkt war, so drangen sozialistische Abgeordnete in die Gemeinderäte und Stadtverordnetenversammlungen ein, aber nicht in die gesetzgebenden Versammlungen, es sei denn, in sehr geringer Zahl« (Duverger 1959: 227f). So kommt es, dass die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und das Auftreten der sozialistischen Parteien in den Parlamenten zusammenfallen. In Ländern, in denen das allgemeine Wahlrecht schon vor Entstehen des Sozialismus bestand, konnte sich dieser auch entsprechend kontinuierlich entfalten. Vielerorts wurde nun also der eigentliche Parteiendualismus durch die neue Dreiteilung verdrängt.

Duverger macht nun aber den Umstand geltend, dass in den allermeisten Fällen diese Dreiteilung nur ein Zwischenstadium war, das schliesslich wieder in der Herausbildung einer klassischen Zweiersituation endete, dass die Dreiteilung demnach nur ein vorübergehender Zustand gewesen sei, weshalb man auch weiterhin von einem Zweiparteiensystem sprechen könne: »Sonst ist der Dualismus überall nur für eine längere oder kürzere Zeit unterbrochen worden, um in einer neuen Form wieder zu erscheinen, die fast genau dem Klassenkampfschema der marxistischen Lehre entspricht, d.h. in der Form des Gegensatzes einer bürgerlichen und einer sozialistischen Partei« (Duverger 1959: 228).

In der Zeit, da sich in Amerika um McCarthy eine starke, äusserst emotionell angeheizte Front gegen das marxistische Gedankengut bildete, glaubte auch Duverger bezüglich der ‚Anzahl der Parteien‘ eine (3) dritte, eine gefährliche Strömung auszumachen: »Einen ganz neuen Charakter gewinnt aber die Frage mit dem Auftauchen einer dritten Art von Dualismus, der zwar bis jetzt noch nirgendwo Wirklichkeit geworden ist, sich aber schon in einigen Ländern, wie z.B. Italien abzeichnet, nämlich das Gegenüber von kommunistischer Partei und ðwestlicherÐ Partei« (Duverger 1959: 229). Dass Duverger hier schon stark durch die Anti-Kommunismus-Debatte eingenommen ist, lässt sich schon rein dadurch erkennen, dass er sich dazu verleiten lässt, von »westlicher« Partei als Opponent gegenüber der kommunistischen Partei zu sprechen. Die Möglichkeit einer Vorherrschaft der kommunistischen Partei im Parlament betitelt Duverger als »katastrophal« (Duverger 1995: 229). Hier fügt er denn auch die Unterscheidung zwischen einem relativen („technical“) und einem absoluten („metaphysical“) Dualismus an: »Es sind also zwei Arten des Dualismus zu unterscheiden: ein relativer Dualismus, bei dem sich die Opposition der beiden Konkurrenten nur auf untergeordnete Ziele und auf die Mittel erstreckt, die allgemeinen Anschauungen aber und die Grundlage der Ordnung von beiden Seiten anerkannt werden; und ein absoluter Dualismus, bei dem sich die Gegnerschaft auf die Grundlage der Ordnung selbst bezieht, auf die Gesamtkonzeption des Lebens und damit zu einem Religionskrieg wird. Nur der erste Dualismus ist lebensfähig« (Duverger 1959: 229). Duverger macht das Auftreten solcher absoluter Dualismen von sogenannten »totalitären« Parteien abhängig, mit denen ja hier nur wieder die „Kommunisten“ gemeint sein können.

Weiter gibt sich Duverger deutlich als Anhänger des Zweiparteiensystems zu erkennen, indem er nämlich den dualen Charakter von Meinungen und damit auch den Dualismus von Parteien auf ein gar metaphysisches Gesetzt zurückführen will. Zum Beispiel sagt er dazu: »Bei all dem scheint der Dualismus der Parteien ein natürliches Phänomen zu sein« (Duverger 1959: 229). Unter Anführung soziologischer Theorieversuche stützt Duverger seine These des ‚natürlichen Parteiendualismus‘ auf der Erklärung des menschlichen Temperamentes, das entweder radikal und revolutionär oder eher zurückhaltend und konservativ sein kann und deshalb, sozusagen als anthropologisches Fundament der menschlichen Meinungsbildung, jeden Konflikt als dualistisch erscheinen lässt: »Wenn immer die öffentliche Meinung sich vor grosse, grundsätzliche Fragen gestellt sieht, zeigt sich die Tendenz, sich um zwei entgegengesetzte Pole zu kristallisieren« (Duverger 1959: 231). Dass sich bei einer Diskussion um eine Sache zwei entgegengesetzte Haltungen bilden, ist ja noch verständlich und wird unserer Alltagserfahrung auch keineswegs widersprechen. Wo ich jedoch Kritik anbringen zu müssen glaube, ist die unverfrorene Übernahme dieser Erscheinung, wenn wir es einmal so benennen wollen, auf die Ebene von Parteien. Denn was Duverger hier in meinen Augen nicht beachtet, ist die Möglichkeit des Vorhandenseins mehrerer Konfliktlinien, die ja wiederum mehrere sich entgegenstehende Meinungen provozieren, die keineswegs in zwei Parteien untergebracht werden müssen, wie uns ja gerade die jüngste Vergangenheit lehrt. Wir können doch immer mehr beobachten, dass die althergebrachten Parteien sich in der Meinung zu einer Sachentscheidung immer mehr in sich teilen, in Fragmente zerfallen und diese Fragmente überparteilich sich in ihrer Meinung zu vorübergehenden Meinungspartnern zusammenschliessen. Dass nun die Gewerkschaften einmal das gleiche wollen wie Herr Blocher, nämlich die Aufstockung der AHV-Kasse durch einen Teilerlös des Nationalbankgoldes, ist nur ein Beispiel aus der aktuellen Politik.

Das oben von Duverger vertretene metaphysische Prinzip des Dualismus von Meinungen und eben auch von Parteien wird durch seine Aussage noch verstärkt und untermauert, dass es in der Politik keine Mitte geben könne. Eine solche sei von vornherein ausgeschlossen:

»Jede Politik bedingt eine Alternative zwischen zwei Lösungen, denn die vermittelnden Lösungen lehnen sich an die eine oder andere an. Das besagt nichts anderes, als dass es in der Politik keine Mitte gibt. Es mag wohl eine Partei der Mitte geben, aber keine ðRichtungÐ der Mitte, keine Ideologie der Mitte. ðMitteÐ nennt man den geometrischen Ort, an dem sich die Gemässigten der entgegengesetzten Richtung sammeln, die Gemässigten der Rechten und die Gemässigten der Linken. Jede Mitte ist in sich selbst gespalten ­ die linke und die rechte Mitte, denn sie selbst ist nur die künstliche Zusammenfassung des rechten Flügels der Linken und des linken Flügels der Rechten. Es ist die Bestimmung der Mitte, zerteilt, hin und her geworfen, aufgelöst zu werden. [...] Eine eigentliche Mitte entsteht nur durch Überlagerung der entgegengesetzten Positionen« (Duverger 1959: 229f).

Auf das Problem der Mitte werden wir später beim Vielparteiensystem noch zurückkommen. Beim Parteiendualismus stellt sich die Frage nach der Mitte ja nicht, dominieren zwei Parteien, markieren sie ja gewissermassen die Endpunkte der Skala, wobei eine Dritte Partei fehlt, die sich dazwischen positionieren könnte.

Ausgeblendet wird in unserem Exzerpt die Erläuterung des Zusammenhangs zwischen dem Parteiendualismus und dem Wahlsystem, der Duverger im Original immerhin ein eigenes Unterkapitel widmet. Wir alle werden denn aber der Tendenz bewusst sein, die ein einfaches Mehrheitswahlrecht in Richtung hin zum Parteiendualismus aufzeigt. Weil aber Duverger hierzu eine Erklärung in Form von zwei analytisch zu unterscheidenden Faktoren entworfen hat, und gerade dieses Analyseschema eines der noch heute teils zitierten geistigen Fragmente Duvergers ist, möchte ich nicht unterlassen, es hier kurz vorzustellen. Zum Beispiel erklärt auch Lijphart in Bezug auf diesen von Duverger stammenden Erklärungsversuch die Tendenz der Mehrheitswahl, einen Parteiendualismus hervorzubringen (Lijphart 1999: 165). Wie gesagt werden beim Mehrheitswahlrecht nach Duverger zwei Faktoren aktiv, die auf das Bestehen eines Parteiendualismus drängen: Ein mechanischer Faktor und ein psychologischer Faktor.

Der (1) mechanische Faktor besagt, dass eine bestehende dritte Partei bei der Sitzvergabe überverhältnismässig benachteiligt wird, da ihr Anteil an Abgeordnetensitzen krass unter dem eigentlichen Stimmenanteil bleibt. Zwar wird auch schon die zweite Partei in dieser Richtung benachteiligt, doch ist die statistische Benachteiligung im Falle der dritten Partei noch weitaus gewichtiger. Hier wirkt sich vor allem auch die Grösse der Wahlbezirke aus. Der zweite, der (2) psychologische Faktor, betrifft nun das individuelle Verhalten des Wählers, der nämlich schon bald einmal merken wird, dass er mit seiner Unterstützung der dritten Partei seine Stimme nicht wirklich entscheidend unterbringen kann, dass seine Stimme gar verloren ist, wenn seine Partei von den zwei führenden bei der Sitzverteilung in einem kleinen Wahlbezirk vollständig übermann wird. Der Wähler wird deshalb dazu übergehen, seine Stimme auf den weniger unangenehmen Rivalen seiner eigentlich präferierten Partei zu übertragen, um damit den Erfolg des unangenehmen Gegners zu verhindern.

Zusammen wirken sich beide Faktoren - wie soeben erläutert - gegenüber dem Parteiendualismus äusserst erhaltend aus. Auch Duverger kommt zum Schluss, dass »das Verfahren der einfachen Mehrheitswahl [..] einen bestehenden Parteiendualismus gegen Parteienspaltungen und gegen die Entstehung neuer Parteien sichern« kann (Duverger 1959: 240).

2.2  Das Vielparteiensystem

Auch hier möchte ich den Einstieg kommentieren, den uns Duverger in diesem Kapitel bietet. »Häufig werden Vielparteiensysteme und Pareilosigkeit verwechselt. Ein Land, in dem zahlreiche unbeständige, vorübergehende und flüssige Gruppen sich bilden, entspricht nicht dem eigentlichen Begriff des Vielparteiensystems. Es befindet sich noch in der Vorgeschichte der Parteibildung, in einer Phase der allgemeinen Entwicklung«, in der es noch gar keine richtigen Parteien gibt (Duverger 1959: 242). Hier wird ganz klar deutlich, weshalb Duverger auf uns heute ein bisschen veraltet wirkt ­ weil er sich über Einsichten auslässt, die heute in unseren Breiten nicht mehr von Belangen sind, zumindest bei zeitgenössischen Analysen. Wie auch immer; wir wenden uns nun dem Vielparteiensystems zu.

Duverger fasst das Vielparteiensystem ganz klar als Abwandlung des Parteiendualismus auf, wobei zwei Gestaltungsformen zum Entstehen eines Vielparteiensystems führen können, nämlich die mit Spaltung und Überlagerung bezeichneten.

Bei der (1) Spaltung tritt eine neue Partei als Abspaltung eines Teils einer hergebrachten Partei in die politische Arena hinaus. Meist splittert sich ein Teil einer bestehenden Partei in der Folge von Unstimmigkeiten, die oft mit dem Auftreten neuer Konfliktlinien auftreten, von der alten Partei ab. Meist also in Reaktion auf das Auftreten neuer Konfliktlinien. Wie Duverger sagt, ist das Resultat einer solchen Aufsplitterung die Existenz von Parteien der Mitte. Wir haben nun aber oben gehört, dass es eine eigentliche Partei der Mitte nach Ansicht Duvergers gar nicht geben kann. Gemäss dieser Gesetzmässigkeit wird sich denn eine vermeintliche Partei der Mitte selbst wieder in rechts und links aufspalten, oder sich nach einer der beiden Richtungen hin orientieren.

Häufiger als der Prozess der Spaltung ist jedoch die (2) Überlagerung. »Sie kommt dadurch zustande, dass es verschiedene Arten dualistischer Gegensätze (Konfliktlinien) gibt, die nicht miteinander zusammenfallen. Ihre Überschneidung gibt dann ein Vielparteiensystem« (Duverger 1959: 244; Anmerkung von Leder). Hierzu finden wir in unserem Textauszug einen Versuch zur graphischen Illustration des Tatbestandes der »Überlagerung«. Und zwar sind insgesamt sechs Meinungsträger aufgeführt, die zu drei Konfliktlinien verschiedene Haltungen einnehmen. Die drei Konfliktlinien betreffen erstens die religiöse Ausrichtung, mit Ausprägung klerikal oder nicht-klerikal, zweitens den Gegensatz von »West« und »Ost« und drittens die Haltung gegenüber dem ‚Markt‘, mit den Ausprägungen ‚Planwirtschaft‘ oder ‚Marktwirtschaft‘. Die sechs angeführten Meinungsträger zeichnen sich nun eben durch ihre eigentümliche Kombination ihrer ‚Ausprägungen‘ aus:

Tab 1. Parteien und ihre Haltung gegenüber drei Konfliktlinien.
Beispiel von Maurice Duverger zur Überlagerung von Parteien (in Duverger 1990: 294).

 
Kommunisten
östlich
Planwirtschaft
nicht-klerikal
fortschrittliche Christen
östlich
Planwirtschaft
klerikal
Sozialisten
westlich
Planwirtschaft
nicht-klerikal
MRP (Volksrepublikaner)
westlich
Planwirtschaft
klerikal
Rechte und R.P.F.
westlich
Marktwirtschaft
klerikal
Radikale
westlich
Marktwirtschaft
nicht-klerikal

Wir haben hier also ein idealisiertes Beispiel, indem es drei Konfliktlinien gibt. Jeder Konflikt ist nach der Auffassung von Duverger dualistisch in zwei Haltungen geteilt, die ihr gegenüber eingenommen werden können. Da nun eine Mehrzahl von Konfliktlinien eine Vielzahl von möglichen Kombinationen der Haltungen jeder einzelnen gegenüber hervorbringen kann, werden sich ­ sofern durch das politische System, allem voran das Wahlverfahren, überhaupt möglich ­ mehrere Parteien bilden, die sich durch eine ihr spezifische Kombination der Haltungen gegenüber den verschiedenen Konfliktlinien auszeichnen. Da es dabei theoretisch mehr Kombinationen als Konfliktlinien gibt, kommt es unweigerlich zu Überschneidungen mehrerer Parteien in ihrer Haltung gegenüber einem Teil der bestehenden Konfliktlinien, wie sie im obenstehenden Beispiel etwa zwischen den Sozialisten und den Radikalen entstehen, die in ihrer Haltung gegenüber der Konfliktlinie Ost/West und dem religiösen Gegensatz einher gehen.

Auch hier besteht, wie oben schon angetönt, ein enger Zusammenhang zwischen der Möglichkeit zur Entstehung eines Vielparteiensystems und dem angewandten Wahlverfahren. Ein Vielparteiensystem kann sich somit nur bei Bestehen eines gegenüber dem einfachen Mehrheitswahlrecht gemässigteren Verfahrens, im günstigsten Fall bei Anwendung eines Proporzverfahrens, durchsetzen. Ansonsten werden sich unter Bestehen verschiedener Konfliktlinien innerparteiliche Gruppen herausbilden, die sozusagen durch das Wahlsystem zur äusseren Solidarität mit ihrer Mutterpartei gezwungen sind, da sie ansonsten als vermeintliche kleine souveräne Splitterpartei durch die zwei oben beschriebenen Faktoren benachteiligt und vielleicht sogar vom Parlament ausgeschlossen würden.

3. Neuauflage des Problems. Die empirische Untersuchung Arend Lijpharts.

Die Frage nach den verschiedenen Parteiensystemen hat durch die Arbeit Arend Lijpharts seit den 80er-Jahren im politikwissenschaftlichen Diskurs wieder an Bedeutung gewonnen. Lijphart hat sich zu Beginn der 80er-Jahre an eine empirische Umsetzung der Frage nach den Parteiensystemen gemacht. Das 1984 erschienene Buch Democracies wurde dann vor einem Jahr, also 1999, von der Nachfolgeversion Patterns of Democracy abgelöst. Der ganzen empirischen Untersuchung wird im Grunde die Dimension ‚Zweiparteien- oder Vielparteiensystem‘ zugrundegelegt. Lijphart entwickelt nun Operationalisierungen für 10 Variablen, die er später zu zwei Variablen aggregiert, die jedes der von ihm untersuchten Länder auf einem Kontinuum zwischen Zweiparteien- und Vielparteiensystem positionieren kann. Lijphart versucht demnach, die Frage nach den verschiedenen Parteiensystemen empirisch zu beantworten, während Duverger viel stärker qualitativ vergleichend und historisch analysierend vorgegangen ist.

Literaturverzeichnis:

Duverger, Maurice (1959). Die politischen Parteien. pp. 217-290. Tübingen: Mohr.

Duverger, Maurice (1990). The Two-Party System and the Multiparty System. In: Mair, Peter (ed.). The West European Party System. Oxford University Press. pp. 285-295. Excerpt form ‚Political Parties: Their Organization and Activity in the Modern State‘ (1954), Book II, Chapter 1.

Lijphart, Arend (1999). Patterns of Democracy. Yale University Press