Proseminar Politische Parteien
11.
Mai 2000
Anita Kanziger
Falkenhöheweg 1
3012 Bern
Matrikelnummer: 98-103-963
Ich möchte im Laufe dieses Berichts die verschiedenen Ausprägungen, welche Änderungen in den Parteiensystemen annehmen können, dokumentieren. Ein einziges Modell reicht dazu nicht aus, da von der Entstehung von neuen Parteien bis zu einer wachsenden ablehnenden Haltung gegenüber Parteien in Westeuropa alles möglich ist (Flanagan und Dalton 1990: 232). Deshalb sprechen Flanagan und Dalton von zwei Mustern, welche die Veränderungen in Parteiensystemen reflektieren: Realignment und Dealignment. Diese Begriffe lassen sich wörtlich nicht ohne Mühe ins Deutsche übertragen. Dieter Nohlen lieferte die folgenden Definitionen:
¨„Dealignment
bezeichnet die Lockerung, den Rückgang und/oder die Auflösung der
über Sozialstruktur, Milieus und Parteiidentifikation vermittelten strukturellen
und stabilen Bindungen in der Wählerschaft an die Parteien“ (Nohlen 1998,
Band 7: 106).
¨„Realignment
ist ein Fachterminus der US-amerikanischen Wahlforschung für solche Wahlen,
bei denen es nach einer kurzfristigen Phase der Auflösung der über
Sozialstruktur, Milieus und Parteiidentifikation vermittelten langfristig stabilen
Bindungen der Wählerschaft an die politischen Parteien (Dealignment) zur
Herausbildung einer neuen dauerhaften Formierung in Wählerschaft und Parteiensystem
kommt“ (ebd.: 535).
Im
folgenden möchte ich versuchen, Änderungen in den westlichen Parteiensystemen
der letzten Jahrzehnte aufzuzeigen und deren Gründe zu suchen. Es soll
also herausgefunden werden, welche Faktoren zu Realignment oder Dealignment
führen können. Einzelne Staaten sollen dabei mit Ausnahme der
Schweiz nur am Rande oder gar nicht analysiert werden. Ich werde mich
dabei vorwiegend auf die Arbeit von Scott C. Flanagan und Russell J. Dalton
(1990: 232-246) stützen.
Lipset
und Rokkan (1967) brachten die sozialen Konfliktlinien und, davon abhängend,
die Parteiensysteme eines Landes mit historischen Ereignissen in Verbindung.
In ihren Analysen konzentrierten sie sich auf zwei „Revolutionen“ während
der Modernisierung in West-Europa: die nationale und die industrielle Revolution.
Mit der nationalen Revolution ist der Prozess der Bildung und Formierung einer
Nation beziehungsweise eines Nationalstaates bezeichnet (Nohlen 1998, Band 7:
407). Als die sich modernisierenden Staaten für ihre nationale Integration
und die Zentralisation der politischen Macht kämpften, entstanden zerlegte
(engl.: segmental) Konfliktlinien, die den jeweiligen Staat religiös, ethnisch
und regional teilten. Bei der späteren industriellen Revolution kam es
zu ökonomischen Konfliktlinien (Flanagan und Dalton 1990: 233).
Die
Probleme rund um die segmentierten Konfliktlinien aus der Zeit der nationalen
Revolutionen konnten in den meisten Fällen jedoch schon vor dem Aufkommen
von Massenparteien, kurz nach der Jahrhundertwende, gelöst werden. So waren
es vor allem die ökonomischen Streitlinien, die im zwanzigsten Jahrhundert
noch relevant blieben. Doch auch diese büssten ihre Relevanz in den letzten
Jahrzehnten ein: Die Polarisierung eines Parteiensystems und somit auch ausgeprägte
soziale Konfliktlinien erreichen ihren Höhepunkt nämlich dann, wenn
neue Parteien, die die bislang ungenügend repräsentierten Gruppen
vertreten, ins Parlament und das politische System eintreten. Diese Parteien
unterscheiden sich von den etablierten Parteien insofern, dass sie eine bis
anhin nicht vertretene Wählerschaft mobilisieren können und dadurch
oft auch extremere Oppositionspositionen einnehmen (ebd.: 233-234).
Sind
sie einmal in einem festen Parteiensystem, sehen sich diese „neuen“ Parteien
dazu veranlasst, sich den Grenzen des möglichen Wandels anzupassen und
Kompromisse einzugehen, um überhaupt Fortschritte erzielen zu können.
Sie mässigen ihre Parolen und erweitern ihre Programme so, dass sie immer
wieder neue Wähler anzulocken vermögen (ebd.: 234). So lautet die These von Flanagan
und Dalton: „The longer a party system remains frozen around a fixed set of
institutionalized cleavages, the greater will be the tendency for party platforms
to converge“ (ebd.).
Die
Institutionalisierung einer bestimmten Partei-Ausrichtung verlängert zusätzlich
die Repräsentation einer Konfliktlinie im Parteiensystem. Die unterschiedlichen
Haltungen der Parteien in Bezug auf einzelne Streitfragen werden so für
die Wähler immer weniger relevant und und es kommt zu laufend abnehmenden
Differenzierungen zwischen den einzelnen Parteien. Auf diese Weise wird es für
die Wähler schwieriger, zwischen den Parteien klare Unterschiede festzustellen.
Diese Faktoren führen nach Flanagan und Dalton zu immer gleich oder ähnlich
bleibenden Mustern in der Ausrichtung der Parteien und bringen ausserdem mit
sich, dass die Partei-Bindungen schwächer und die Volatilität im Wählerverhalten
grösser werden (ebd.).
Für
die Schwächung der Parteibindungen ist aber nicht nur die Institutionalisierung
einer bestimmten Partei-Ausrichtung verantwortlich. In den letzten Jahren tauchten
auch in der Schweiz - erste Anzeichen dafür auf, dass die klassischen
Konfliktlinien entlang von Klassen, welche die Parteiensysteme in Arbeiter-
und bürgerliche Parteien unterteilten, verschwinden würden. Gründe
dafür sind vor allem in sozioökonomischen Veränderungen wie der
Homogenisierung der Gesellschaft und der Lebensweisen, besserer Bildung, grösserem
Wohlstand und dem hohen Entwicklungsstand der Industrie zu suchen. Zusätzlich
haben die kleiner werdenden Unterschiede in den Werthaltungen und Interessen
zwischen den Klassen und die erhöhte soziale Mobilität dazu beigetragen,
dass das Kriterium der Klassenzugehörigkeit bei Wahlen und Abstimmungen
immer unwichtiger wird. Schliesslich hat sich auch die Klassenstruktur selbst
geändert. Die neue Mittelklasse der Schweiz beispielsweise passt keineswegs
mehr zur Vorstellung der traditionellen Konfliktlinie, welche eine Unterteilung
zwischen Lohnbezügern und Arbeitgebern vornimmt (ebd.: 234-235). Damit
haben heute auch die Sozialdemokraten in der Schweiz zu kämpfen. Für
sie ist eine klare Positionierung schwieriger geworden.
Der
heutige Prozess des Realignments unterscheidet sich von dem in früheren
Jahren. Früher war dieses oft durch die Mobilisierung neuer Wähler
bedingt. Heute hingegen liegt der Grund für den Untergang der ökonomischen
Streitlinien nach Flanagan und Dalton vorwiegend darin, dass die Nachkriegs-Generationen
weniger Interesse für wirtschaftliche Belange aufbringen können (ebd.:
236).
Es
kann behauptet werden, dass wachsender Reichtum und Überfluss in hochentwickelten
Staaten tendenziell die Relevanz von ökonomischen Konflikten mindert, und
diejenige von nicht-ökonomischen Konflikten (hierbei geht es vor allem
um Werthaltungen) erhöht (ebd: 237). Daraus ist auch die Entstehung der
Grünen Partei in der Schweiz zu erklären. Für die Nachkriegsgenerationen,
die wirtschaftliche Not meist nur vom Hörensagen kennen, sind Themen wie
beispielsweise die Erhaltung der natürlichen Ressourcen, der Umweltschutz
und die Suche nach Alternativen zur Atomenergie meist viel wichtiger als die
klassischen Konflikte rund um die Verteilung von wirtschaftlichen Gütern.
Nicht
nur die schwindende Relevanz der alten Streitlinien entlang von Klassen, sondern
auch die Entstehung von neuen Konflikten und sozialen Spannungen können
die herkömmlichen Alignment-Muster sprengen. Erik Allardt sprach in diesem
Zusammenhang beispielsweise von der Bildungsrevolution, welche die politischen
Orientierungen der jüngeren Gruppen in hochentwickelten industriellen Gesellschaften
änderten. Dies führe zu neuen cleavages (Konfliktlinien) im Bereich
der Generationen und der Bildung. Auf diese Weise sei die „Neue Linke“ entstanden,
die sich vorwiegend aus jüngeren Bevölkerungsgruppen und der Mittelklasse
(nicht der Arbeiterklasse) zusammensetze. Dies habe jedoch in den 1970er- und
1980er Jahren eine Gegenbewegung, die „Neue Rechte“ (Stichwort Zürcher-Flügel
der SVP), deren Programm unter anderem die Erhaltung von traditionellen Werten
und die Entschlackung des Wohlfahrtsstaates beinhalte, ins Leben gerufen (Allardt
1968).
Scott
C. Flanagan und Russell J. Dalton nehmen an, dass diese neu entstandenen Konfliktlinien,
wegen der dabei entscheidenden Stellung der Nachkriegs-Generationen und der
hohen Geschwindigkeit der industriellen Transformationen, vorübergehenden
Charakter aufweisen. So würden im Laufe der Zeit mit grosser Wahrscheinlichkeit
die Konfliktlinien entlang der Generationen durch stabilere Konfliktlinien entlang
von sozialen Gruppen, wie zum Beispiel den Gewinnern und Verlierern der sozialen
Veränderungen und der postindustriellen Entwicklung, ersetzt. Die Bildung
werde zur primären Ressource in den aufkommenden Informations-Gesellschaften
und der Bildungsstand, das Wissen und spezialisierte Kenntnisse würden
sich zu Hauptdimensionen der sozialen Unterschiede und Konflikte entwickeln
(Flanagan und Dalton 1990: 239).
Im
Gegensatz dazu geht das funktionale Modell davon aus, dass viele Veränderungen
im Zusammenhang mit der postindustriellen Entwicklung den Kontext des politischen
Wettbewerbs und die Haltungen der Bürger fundamental änderten. Dieses
Modell sieht vor allem den Verlust von Parteifunktionen und den Verlust der
Parteiidentifikationen und bindungen vieler Wähler als Gründe
für die wachsende Instabilität in den Parteiensystemen an. Für
diese Instabilität wird im funktionalen Modell also einerseits der Funktionsverlust
von Parteien verantwortlich gemacht. Die Vertreter dieses Modells sehen im Dealignment
keinen vorübergehenden Prozess. Sie sind vielmehr davon überzeugt,
dass die Rolle der Parteien auch künftig laufend kleiner werden wird und
die Parteien früher oder später durch andere Institutionen ersetzt
würden (ebd.: 239-240).
Was
meinen Flanagan und Dalton mit dem Funktionsverlust der Parteien? Welche Funktionen
nehmen diese nicht mehr wahr? Eine Hauptfunktion von Parteien wäre das
Ordnen und die Artikulation von öffentlichen Interessen. Doch die steigende
Zahl von Gruppenforderungen und neuen Issues (Streitfragen) hat dazu geführt,
dass die Parteien diese Funktion nur noch in beschränktem Ausmass wahrnehmen
können. Auch die Informationsfunktion der Parteien (Information der Bürger
und Kritik an den Geschäften der Regierung) ist in den letzten Jahren immer
mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Diese Aufgabe haben vermehrt die
Medien, die im Gegensatz zu Parteien als objektive, unvoreingenommene und vor
allem schnelle Berichterstatter gelten, übernommen. Eine weitere Parteifunktion
wäre die Interessenaggregation, um die Öffentlichkeit mit klaren Alternativen
versorgen zu können. Doch die Fähigkeit der Parteien, dieser Funktion
angemessen nachzukommen, hat in den letzten Jahrzehnten laufend abgenommen,
da sich die Parteiprogramme inhaltlich immer mehr gleichen. Auch postindustrielle
Interessen, wie beispielsweise die Bildungsreform, die Rechte von Minderheiten
und die Atomenergie, werden vor allem von den Massenparteien nicht angemessen
berücksichtigt, da sie befürchten, sie würden dadurch mehr Wähler
verlieren als gewinnen. Schliesslich ist nach Flanagan und Dalton auch die Funktion
der Rekrutierung von politischen Aufgabenträgern in den vergangenen Jahrzehnten
immer mehr in den Hintergrund getreten, denn auch diese Aufgaben würden
heute vermehrt die Medien wahrnehmen. (ebd.: 240-241). Es sind also die Massenmedien
und die Interessengruppen, die vermehrt die Input-Funktionen der Parteien wahrnehmen.
Nicht
nur die Input-, sondern auch die Output-Funktionen können von den Parteien
nicht mehr optimal erfüllt werden. So fällt beispielsweise die Verteilung
der politischen Ämter immer seltener den Parteien zu. Aus historischer
Perspektive hatten die Parteien immer die Kontrolle über den Entscheidungsprozess
in modernen Massendemokratien. Sie kontrollierten sowohl die Exekutive als auch
die Legislative. Auch diesen Einfluss mussten sie in letzter Zeit teilweise
an die Bürokratie abtreten. Nicht zu vergessen ist die Tatsache, dass die
sinkende Relevanz der klassischen Streitlinien und die Konvergenz vieler politischer
Parteien, dieselben oft orientierungslos zurückgelassen haben. Sie verfügen
oft nicht über klar formulierte Ziele. Durch den vermehrten Einsatz von
Meinungsumfragen zeigte sich auch der Öffentlichkeit, dass Parteien dem
eigentlichen Mehrheitswillen durchaus manchmal einen Strich durch die Rechnung
machen und nicht immer nach dem Willen einer Mehrheit agieren. Eigentlich hätten
aber die Parteien, als die gewählten Repräsentanten des Volkes, die
Aufgabe, für die Legitimität der Regierungsentscheidungen zu sorgen.
So erstaunt es nicht, dass vielerorts das Verlangen nach mehr direkter Demokratie
aufgekommen ist (ebd.: 241-242).
Nicht
ausschliesslich der Funktionsverlust von Parteien kann für die wachsende
Instabilität der Parteiensysteme verantwortlich gemacht werden. Auch die
sinkende Parteiidentifikation und die abnehmenden Parteibindungen der Bürger
führen zu Dealignment und so zu Instabilität und Volatilität
in den heutigen Parteiensystemen. Parteibindungen nehmen aus verschiedenen Gründen
ab:
Ein
höheres allgemeines Bildungsniveau der Wähler hat dazu geführt,
dass diese besser mit der Komplexität in der Politik umgehen können
und politische Entscheidungen selbständiger zu treffen vermögen. Hinzu
kommt, dass sich durch die Massenmedien die Kosten für die Beschaffung
von Informationen deutlich verringert haben und die Wähler nicht mehr zwingend
auf Parteien angewiesen sind, um an Informationen zu gelangen. Auch das Aufkommen
von neuen oder vormals sehr kleinen Parteien und die Instabilität des Parteiensystems
haben dazu geführt, dass langfristige Parteibindungen nicht unbedingt mehr
verlässliche Führer für die Meinungsbildung sind. Schliesslich
hat auch die Verlagerung von eher langfristigen und allgemeinen Konfliktlinien
zu engeren issues, die auf Spezialinteressen beruhen, dahingehend gewirkt, dass
die Parteiidentifikationen für die Entscheidungen der Wähler nicht
mehr so relevant sind. So scheint der Trend dahingehend zu sein, dass für
immer mehr Wähler die Person des Kandidaten, seine individuellen Einstellungen
und Positionen wichtiger sind, als die Partei, welcher er angehört (ebd.:
243-244). Es liegt nahe, als Beispiel für diese Erscheinung die Person
Christoph Blochers, Zugpferd und Meinungsführer des zürcherischen
Parteiflügels der SVP, anzuführen.
Zusätzlich
zum Funktionsverlust und den abnehmenden Parteibindungen sehen Flanagan und
Dalton auch im Wertewandel einen Grund für Dealignment. Der sehr weit fortgeschrittene
Industrialismus habe zur Entwicklung von postmateriellen Werten geführt,
welche selbstbestimmtes politisches Verhalten und die Unabhängigkeit von
hierarchischen Organisationen wie Parteien förderten (ebd.: 244).
Schluss
Scott
C. Flanagan und Russell J. Dalton relativieren mit „Models of change“ (1990:
232-246) die These von den „frozen party systems“ von Seymour M. Lipset und
Stein Rokkan (1967). Etwas mehr als zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von Lipsets
und Rokkans Aufsatz haben sich die Umstände in den westlichen Parteiensystemen
und deren Einflussfaktoren soweit geändert, dass Flanagan und Dalton Lipsets
und Rokkans Thesen nicht mehr unterstützen konnten. Flanagan und Dalton
sind der Meinung, dass sich die Parteiensysteme in Westeuropa entsprechend den
sich ändernden politischen Rahmenbedingungen dynamisch anpassen.
Flanagan
und Dalton haben in ihrem Aufsatz in anschaulicher Weise versucht zu erklären,
welche Faktoren zu Realignment oder Dealignment führen können. In
der Institutionalisierung einer bestimmten Parteiausrichtung und der schwindenden
Relevanz der ökonomischen Streitlinien entlang von Klassen sehen sie Faktoren,
die zu Realignment führen können. Dealignment wird nach Flanagan und
Dalton durch den Wertwandel und den Verlust sowohl der Parteifunktionen als
auch der Parteiidentifikationen und -bindungen ausgelöst.
Bibliographie
¨Allardt, Erik, Past and Emerging Cleavages, in:
Stammer, Otto (Hsg.), Party Systems, Party Organizations, and the Politics of
the New Masses, Berlin 1968
¨Dalton, Russell J., Flanagan, Scott C., Beck,
Paul Allen, Electoral Change in Advanced Industrial Democracies, Princeton 1984
¨Flanagan, Scott C., Dalton, Russell J., Models
of change, in: West European Politics, London 1990, S. 232-246
¨Nohlen,
Dieter, Lexikon der Politik, Band 7. Politische Begriffe, München 1998
¨Sidjanski, Duson et al., Les Suisses et la politique, Bern 1975