Der europäische Integrationsprozess - eine Bedrohung für die Gemeinden?

Referat zur Jubiläumsfeier 25 Jahre Einwohnerrat Obersiggenthal, 27.5.1999

Dr. Andreas Ladner, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

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Herzlichen Dank für die Einladung. Ich habe sie sehr gerne angenommen, vor allem auch deshalb, weil eines meiner ersten Forschungsprojekte mich auf die Suche nach den Gemeindeparlamenten in der Schweiz führte, das war vor rund 10 Jahren. Damals habe ich 493 Parlamente gefunden. Zahlreiche dieser Parlamente sind, übrigens ganz ähnlich wie in Obersiggenthal, in den 1970er Jahren entstanden. Ich betrachte es als eine Ehre zur Geburtstagsfeier eines solchen Parlaments ein kleines Referat zu halten. Der Titel meines Referats heisst: Der europäische Intergrationsprozess - eine Bedrohung für die Gemeinden?

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Am 6. Dez. 1992 hat die Gemeinde Obersiggenthal mit 54.8 Prozent "Ja-Stimmen" beschlossen, dem Europäischen Wirtschaftsraum beizutreten. Die Schweiz hat sich bekanntlich anders entschieden. Sie wollte den EWR nicht und damit ihre Sonderstellung innerhalb Europas bewahren. In langwierigen Verhandlungen ist es in den letzten Jahren gelungen, ein bilaterales Abkommen mit der EU zu treffen. Verhandelt wurde im Rahmen des europäischen Binnenmarktes vor allem über die Freizügigkeiten von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital.

Die bilateralen Verträge haben zum Ziel, die Nachteile des EWR-Neins für die Schweiz in Grenzen zu halten und eine politische und kulturelle Isolation zu verhindern. Die Verträge kommen noch vor den Nationalratswahlen im Herbst in die Räte, was nicht von allen Parteien gleichermassen geschätzt wird. Ausstehend ist zwar auch noch die endgültige Zustimmung der Vertragspartner, und verschiedene Referendumsdrohungen liegen in der Luft. Insgesamt sind die Chancen jedoch intakt, dass das Vertragswerk angenommen wird.

Die bilateralen Verträge sind nur der Anfang einer Regelung des Verhältnisses Schweiz-Europa. Weitere Abkommen werden notwendig sein. Bereits spricht man von Verhandlungen im Asylbereich und im Zusammenhang mit Fluchtgeldern und dem Bankgeheimnis. Es ist davon auszugehen, dass die Anpassung der Schweiz an Europa noch lange nicht abgeschlossen ist. Und voraussichtlich wird es noch ein paar Kröten zu schlucken geben. Was aber genau auf uns zukommen wird, ist nicht leicht vorherzusehen. Und wir wissen auch nicht, welche Position die Schweiz gegenüber Europa in Zukunft einnehmen wird.

Sicher ist, Europa ist nicht auf dem Stand von 1992 stehengeblieben und hat seinen endgültigen Zustand noch nicht erreicht. Der europäische Integrationsprozess schreitet scheinbar unaufhaltsam voran. Die Schweiz kann sich diesem Prozess nicht entziehen, und sie kann - was noch schwerer wiegt - ihn kaum beeinflussen. Der europäische Integrationsprozess hat auf alle Fälle Auswirkungen auf die Schweiz, ob sie nun der EU beitritt oder nicht. Die Schweiz ist auf Europa angewiesen und Europa - wenngleich ein bisschen weniger - auf die Schweiz.

Wie aber sieht es mit den Gemeinden aus? Welche Auswirkungen hat der europäische Integrationsprozess auf die Schweizer Gemeinden? Stellt er eine Bedrohung dar? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, sich zuerst kurz auf die Eigenheiten der Schweizer Gemeinden zu besinnen und sich etwas genauer mit dem europäischen Integrationsprozess auseinanderzusetzten.

Was ist spezifisch an den Schweizer Gemeinden?

Die Schweiz leistet sich den Luxus einer ausgesprochen komplexen territorialen Feingliederung mit allen Vor- und Nachteilen der Dezentralisierung. Zur Zeit zählen wir 2903 Gemeinden. Die Mehrheit dieser Gemeinden ist, man muss es immer wieder betonen, ausgesprochen klein. 40 Prozent hat weniger als 500 Einwohner, 60 Prozent weniger als 1000. Dabei - auch das gilt es zu betonen - wohnen heute nur noch wenige Leute in derart kleinen Gemeinden. 60 Prozent der Bevölkerung lebt in Gemeinden mit mehr als 5000 Einwohnern Obersiggenthal gehört übrigens mit rund 7500 Einwohner (1997: 7462 Einw.) zu den grossen Gemeinden. Obersiggenthal liegt in der Grössenrangliste knapp hinter Rapperswil so ungefähr auf Rang 160.

Charakteristisch an den Schweizer Gemeinden ist vor allem ihre Finanz- und Steuerhoheit. In kaum einem anderen Land der Welt können die lokalen Einheiten über einen derart grossen Anteil des Gesamtsteueraufkommens bestimmen. In kaum einem anderen Land geniessen die Gemeinden eine grössere Autonomie. Wenngleich man sich darüber streiten kann, was die Kernelemente dieser Autonomie in Wirklichkeit sind und wie weit von Autonomie gesprochen werden kann, wenn 80 bis 90 Prozent der Ausgaben gebunden sind und das Bundesgericht die Gemeinden letztlich den Kantonen unterstellt. Die Gemeinden sind trotz ihrer grossen Bedeutung Bestandteil einer komplexen Zuständigkeitsordnung und letztlich von Bund und Kantonen abhängig. Auch die Verankerung der Gemeinden und Städte in der neuen Bundesverfassung (Art. 50) wird daran nichts ändern.

Die wichtigsten Etappen des europäischen Integrationsprozesses

Zum europäischen Integrationsprozess. Wie verlief dieser Prozess bis anhin und was ist von ihm in Zukunft zu erwarten? Betrachten wir die einzelnen Etappen etwas genauer. Die Stichworte dazu heissen Maastricht, Währungsunion, Amsterdam und Süd- und Osterweiterung

Der Vertrag von Maastricht (seit 1. Nov. 1993 in Kraft) schaffte unter anderem

Seit dem 1. Januar 1993 ist der EG-Binnenmarkt mit Freizügigkeiten für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapital sowie einer gemeinsamen Aussenhandelspolitik, einer gemeinsamen Wettbewerbspolitik und einer gemeinsamen Struktur- und Regionalpolitik vollendet und zu einem grossen Teil von den Mitgliedstaaten umgesetzt. Mit der Währungsunion (vgl. Ziff. 222.01.1) wurde der EG-Binnenmarkt zu einem harmonisierten Wirtschaftsraum mit einer gemeinsamen Währungspolitik. Die letzte Phase der Währungsunion begann am 1. Januar 1999 mit der unwiderruflichen Festlegung der Umwandlungskurse für die teilnehmenden nationalen Währungen und der Einführung des Euros.

Der Vertrag von Amsterdam, unterzeichnet am 2. Oktober 1997, soll bis spätestens Mitte dieses Jahres von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden. "Amsterdam" führt die Vertiefung der EU fort:

Es wurden aber auch Defizite erkannt und zu beheben versucht: Die EU ist zudem gewachsen.

In Österreich, Finnland und Schweden führten Volksabstimmungen über einen EU-Beitritt zu Ja-Mehrheiten, worauf diese Staaten auf den 1. Januar 1995 EU-Mitglieder wurden. Norwegen lehnte den Beitritt in einer Volksabstimmung am 28. November 1994 ab und verblieb - mit Island und Liechtenstein - EWR-Vertragspartei.

Zur Zeit läuft die Ost- und Süderweiterung. Sie wird voraussichtlich ein anwachsen der EU-Staaten von 15 auf über 20 bringen. Sie wird seit 1993 vorbereitet. Die entsprechende Strategie der EU besteht darin, die zahlreichen Beitrittskandidaten schrittweise mit Hilfe finanzieller, administrativer und politischer Unterstützung beitrittsfähig zu machen.

Seit der EWR-Abstimmung hat sich Europa also weiterentwickelt. Aus der EG ist die Europäische Union geworden. Nicht nur die Zahl der beteiligten Länder hat zugenommen und wird noch weiter zunehmen, auch rücken die Länder näher zusammen. Die Schweiz wird sich in Zukunft mit einem grösseren und geeinteren Europa konfrontiert sehen, welches nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und politische Interessen verfolgt.

Auswirkungen der europäischen Integration auf die Schweizer Gemeinden

Stellt dieser europäische Integrationsprozess und damit auch das zukünftige Europa eine Bedrohung für die Schweizer Gemeinden dar? Was steht beispielsweise für die Gemeinde Obersiggenthal auf dem Spiel? Wird es Obersiggenthal in Zukunft überhaupt noch geben? Dies sind, meine Damen und Herren, die Fragen, die wir uns zu diesem festlichen Anlass stellen wollen.

Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft und ohne Zweifel sind in verschiedenen Bereichen ganz eindeutig auch die Gemeinden tangiert. Die grosse Unbekannte bleibt jedoch die zukünftige Stellung, die die Schweiz gegenüber Europa einnehmen wird. Je näher die Schweiz an die EU heranrückt, desto grösser werden die Anpassungsleistungen sein.

Ganz allgemein kann zwischen drei Gruppen von Auswirkungen unterschieden werden. Es sind dies:

Beinträchigungen, unabhängig von der zukünftigen Position der Schweiz in Europa

Wenden wir uns zuerst den Beeinträchtigungen zu, welche unabhängig von der Schweizer Stellung innerhalb von Europa zu gewärtigen sind.

Hier hat der Bundesrat seine integrationspolitische Strategie festgelegt. Sie wird gemäss Integrationsbericht durch folgende Konstanten bestimmt:

- eine Unterstützung des Integrationsprozesses;

- dem Bestreben, den Marktzugang für schweizerische Exporte zu verbessern und
- seit 1992 - systembedingte wirtschaftliche Benachteiligungen des Standortes Schweiz zu vermindern;

- dem Willen, der politischen und kulturellen Isolierung des Landes entgegenzuwirken.

Bereits heute werden beispielsweise sämtliche Gesetze und Erlasse auf ihre Europakompatibilität geprüft und dort wo möglich und sinnvoll - vor allem in den technischen Bereichen - Anpassungen vorgenommen. Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz. EU-Normen sind nicht zu umgehen.

Direkte Auswirkungen zeigen sich auch heute schon in den Bereichen der Marktöffnung und der Schaffung von Wettbewerbsstrukturen. Zu denken ist hier etwa an die Liberalisierung des Submissionswesen, welche auch, aber nicht ausschliesslich, ein Produkt der europäischen Integration ist.

Qualifizierten ausländischen Anbietern, die trotz grösserer räumlichen Entfernung wirtschaftlicher sind, muss bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen gleiche Chancen eingeräumt werden. Die Bevorzugung von Bewerbern nur weil sie aus der Gemeinde kommen, wird immer weniger möglich.

Diese Liberalisierung der Vergabe- und Beschaffungspraxis bietet die Möglichkeit, unproduktive Strukturen, die durch einzelstaatliche Normen geschützt waren, aufzubrechen. Und die Durchsetzung von entsprechenden Regelungen ist schliesslich auch deshalb von hohem Wert, weil zum einen die technischen Standards und Normen der Mitgliedstaaten vereinheitlicht und zum anderen nationalstaatliche Rechtssysteme einander angeglichen werden (Horst Frank, Oberbürgermeister von Konstanz).

Die Vorteile sind also ganz kurz: Mehr Konkurrenten, örtliche und regionale Seilschaften werden verhindert.

Die Nachteile: Das Submissionsverfahren wird komplizierter, dauert länger. Die Gemeinden haben weniger Spielraum, wenn es um Strukturmassnahmen zur Förderung des einheimischen Gewerbes geht.
 
 

Beeinträchtigungen bei Annahme der bilateralen Verträge

Wenig tangiert werden die Gemeinden durch die bilateralen Verträge, einmal abgesehen von denjenigen Gemeinden, die von den grösseren Lastwagen betroffen sein werden. Es ist kaum zu erwarten, dass die Schweiz von einer Zuwanderungswelle überrollt wird. Einseitige Migrationsbewegungen, auch europainterne, sind nicht erwünscht und es ist damit zu rechnen, dass im schlimmsten Falle die notwendigen Korrekturen ergriffen werden können.

Zu Beeinträchtigungen kommt es - vorausgesetzt die bilateralen Verträge werden angenommen - allenfalls im Bereich der Personalhoheit: Die Freizügigkeit für Beschäftigte in der Verwaltung findet nur dann keine Anwendung, wenn hoheitliche Befugnisse ausgeübt werden. Kommunen müssen daher bei der Einstellung in den meisten Bereichen EU-Bürger berücksichtigen. Vielleicht werden sich also schon bald Holländer und Österreicher um das Amt des Gemeindeschreibers bewerben können.
 
 

Beeinträchtigung bei EU-Beitritt

Die grössten Auswirkungen auf die Gemeinden hat ein allfälliger EU-Beitritt. Drei Punkte möchte ich hier ganz besonders erwähnen. Es sind dies die Wirtschaftsförderung, die direkte Demokratie und das Stimm- und Wahlrecht für Ausländer.

Beginnen wir mit der Wirtschaftsförderung: Den EU-Mitgliedern ist es untersagt, staatliche Beihilfen jeglicher Art zu gewähren, es sei denn diese Beihilfen sind im EG-Vertrag vorgesehen und von der Kommission genehmigt. Vor allem im Rahmen der Regionalförderung und innerhalb des Strukturfonds sind direkte regionale Entwicklungsmassnahmen aber möglich, bei denen eine möglichst weite Beteiligung der lokalen Behörden gewährleistet ist.

Die Beeinträchtigung im Bereich der Wirtschaftsförderung erachte ich als unproblematisch. Für die Wirtschaft und auch für das Gewerbe werden die Ansätze zu einer Liberalisierung und Deregulierung ­ wie bereits beim Submissionswesen - zwar eine Herausforderung darstellen, sie werden aber letztlich zu einer Stärkung der Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit führen.

Zum zweiten Punkte, der direkten Demokratie: Der Bundesrats schreibt in seinem Integrationsbericht, dass zwischen der Zugehörigkeit zur Europäischen Union und den Volksrechten ein Spannungsfeld besteht, das nicht ignoriert werden darf. Die Verfahren Referendum und Initiative können beibehalten werden. Der Kreis der Fragen dürfte jedoch eingeschränkt werden.

Die bis heute vorliegenden Untersuchungen liefern insofern ein beschwichtigendes Resultat, als dass der Anteil der Vorlagen, die in einem Konflikt zum EU-Recht stehen, relativ bescheiden ist.

Höchstens 15 Prozent der obligatorischen und fakultativen Referenden der letzten Jahre auf nationaler Ebene wären in einem Konflikt mit dem EU-Recht gestanden.. Und bei den kantonalen Vorlagen liegt dieser Anteil noch etwas tiefer. Auf Gemeindeebene fehlen die entsprechenden Untersuchungen, es ist jedoch davon auszugehen, dass der Anteil der problematischen Vorlagen sich etwa in dieser Grössenordnung befindet oder noch etwas kleiner ist.

Ganz allgemein gilt jedoch: Die direkte Demokratie ist in den letzten Jahren zu einer kaum mehr zu bewältigenden Daueraufgabe angewachsen. Hält diese Entwicklung an, so wird man in seinem politischen Leben bald über mehrere Tausend hochkomplexe politische Fragen zu entscheiden haben. Viele Themen interessieren nur noch wenige, was die tiefen Beteiligungsquoten belegen.

Wir werden in Zukunft wohl kaum darum herumkommen uns zu überlegen, wie wir die Zahl der Vorlagen beschränken können. Wir werden uns überlegen müssen, in welchen Fragen die direkte Demokratie überflüssig ist und in welchen Fragen nicht darauf verzichtet werden kann.

Damit wären wir bei der Qualität der Vorlagen. Hier bin ich der Meinung, dass es, wenn es uns gelingt, die direkte Demokratie zu verwesentlichen und wenn wir uns mit den wirtsschafts- und gesellschaftspolitische Zielen der EU einverstanden erklären können, kaum mehr Vorlagen geben wird, die in einem Konflikt mit dem EU-Recht stehen. Können wir das nicht, so besteht auch keine Grundlage für einen Beitritt.

Die eigentliche Knacknuss stellt der dritte Punkt dar, das Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer: In der EU besitzen alle Unionsbürger das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen. Alle in der Gemeinde wohnhaften Unionsbürger werden - nach einem allfälligen EU-Beitritt der Schweiz - an Gemeindewahlen und voraussichtlich auch an Gemeindeversammlungen und Abstimmungen teilnehmen können, respektive in den Gemeinderat oder das Gemeindeparlament gewählt werden können.

In der Schweiz hatte die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Ausländer bis anhin keine Chance. Entsprechende Vorstösse sind in den letzten Jahren immer wieder abgelehnt worden. Die EU-Gegener werden dieses Argument gnadenlos auffahren, um einen Beitritt zu verhindern, und die EU-Befürworter sind gut beraten sich seriös damit auseinanderzusetzen.

Welche Auswirkungen hat das Wahlrecht für Unionsbürger in Wirklichkeit? Obersiggenthal würde mit einem EU-Beitritt zwischen 300 und 400 neue Stimmberechtigte erhalten. Dieser Anteil dürfte weniger als ein Zehntel aller Stimmberechtigen ausmachen, ein Grossteil dieser Leute lebt schon seit längerem in der Gemeinde und nimmt rege am sozialen Leben teil. Es würde wohl kaum zu einer Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse kommen und auch in Sachfragen würde nicht anders entschieden. Und ist es nun wirklich so unsinnig, niedergelassenen Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die hier leben, arbeiten und Steuern bezahlen, politische Rechte zu gewähren? Einer noch besseren Integration wäre dies auf jeden Fall förderlich.

Die Einführung des Stimmrechts für Unionsbürger wäre zudem nicht anderes als ein weiterer Schritt weg von dem auf vererbten Vorrechten beruhenden Bürgerprinzip hin zu einem modernen und letztlich auch demokratischeren Einwohnerprinzip. Erlauben sie mir hierzu einen kurzen Blick in die Geschichte.

Die Schweizer Einwohnergemeinden in der heutigen Form sind nämlich gar nicht so alt. Bis Ende des 18. Jahrhunderts bestanden vorwiegend Nutzungs- und Bürgergemeinden, die auf dem Bürgerprinzip, der persönlicher Mitgliedschaft, beruhten. In der Bundesverfassung von 1848 wurde zwar die Niederlassungsfreiheit für alle Schweizer verankert, das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten blieb jedoch den Gemeindebürgern vorbehalten.

Erst mit der Bundesverfassung von 1874 wurde explizit die Regelung des Stimm- und Wahlrechts für alle Schweizer festgeschrieben. Der niedergelassene Schweizer besitzt seither auch alle Rechte der Gemeindebürger, mit Ausnahme des Mitanteils an Bürger- und Korporationsgütern und des Stimmrechts in rein bürgerlichen Angelegenheiten.

Dieser Übergang zum Einwohnerprinzip erwies sich damals, vor allem auch wegen der gesteigerten Mobilität innerhalb der Schweiz, als die modernere und angemessenere Organisationsform. Die Ausweitung des Stimm- und Wahlrechts auf niedergelassene Unionsbürger im Zeitalter der Globalisierung wäre also nichts anderes als ein weiterer Schritt in Richtung einer vollständigen Umsetzung des Einwohnerprinzips.
 
 

Die europäische Integration - eine Chance für die Schweizer Gemeinden

Der europäische Integrationsprozess wird weiter voranschreiten, daran kann die Schweiz nichts ändern. Dieser Prozess darf nicht als Bedrohung für die Gemeinden wahrgenommen werden. Er bietet eine Chance, sich mit den eigenen Verfahren und Strukturen auseinanderzusetzen.

Die entscheidende Frage aus Sicht der Gemeinden ist schliesslich, ob die kommunale Selbstverwaltung gestärkt oder geschwächt wird. Nahezu alle EU-Staaten kennen - wenngleich in unterschiedlichem Masse - eine verfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung. Die EU bekennt sich zum Grundsatz der Subsidiarität, dieses Bekenntnis hat sich in den letzten Jahren noch verstärkt.

Allerdings gilt auch je länger je mehr: nur starke Gemeinden können ihre Autonomie auch wahrnehmen. Damit die Gemeinden ihre Stärke behalten können, müssen sie sich den gewandelten Bedingungen anpassen. In diesem Sinne sind heute Reformen gefragt.

Zahlreiche Gemeinden haben bereits heute, teils aus freien Stücken, teils der Not gehorchend, damit begonnen, nach neuen Lösungen zu suchen.

In den Ihnen vermutlich nicht unbekannten Gemeinden Endingen und Unterendingen denkt man über eine bessere Zusammenarbeit und sogar über eine Fusion nach. Eine kürzlich durchgeführte Befragung zeigt, dass die Mehrheit der Bevölkerung erstaunlicherweise für eine Zusammenlegung der Feuerwehr ist, und zwar sowohl in Endingen wie auch in Unterendingen. Ein Zusammenlegen der Verwaltung können sich die Unterendinger hingegen noch nicht vorstellen, während die Endinger diesbezüglich keine Probleme haben. Und von einer Fusion, wie sich eine Mehrheit der Endinger wünscht, sind die Unterendinger noch weit entfernt.

Auch die Gemeinde Obersiggenthal hat Mut zu Reformen bewiesen als sie vor 25 Jahren das Gemeindeparlament einführte. Das war für eine Gemeinde von damals rund 7000 Einwohnern keine Selbstverständlichkeit. Obersiggenthal gehört zudem schon seit längerem zu den wenigen Gemeinden mit einem vollamtlichen Gemeindenpräsidenten. Im Kanton Bern beginnt man erst heute damit, das Gemeindepräsidium zu professionalisieren und der Kanton Zürich mit seinen vielen grossen Gemeinden zählt noch heute nur drei vollamtliche Präsidenten.

Die Gemeinden sind heute aufgefordert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Mit Strukturen und Verfahren, die bei den meisten Gemeinden noch aus dem letzten Jahrhundert stammen und wichtige Teile der Bevölkerung von einer politischen Beteiligung ausschliessen, sind die Aufgaben und Probleme des nächsten Jahrhunderts nicht zu lösen.

In diesem Sinne soll und kann der europäische Integrationsprozess von den Gemeinden als Chance aufgefasst werden. Unabhängig davon, wie das Verhältnis der Schweiz in Zukunft auch aussehen mag.

Es wird darüber diskutiert und gestritten werden müssen, über was wir an der Urne und in den Parlamenten entscheiden wollen, wer sich an diesen Entscheidungen beteiligen darf und in welchem Perimeter, in welchem geographischen und politischen Raum, entschieden werden soll. Die heutigen Lösungen sind immer nur Lösungen auf Zeit. Die kommunale Selbstverwaltung in ihren wesentlichen Punkten steht trotz europäischem Integrationsprozess nicht zur Disposition und starke Gemeinden, die die Zeichen der Zeit erkennen, haben von der europäischen Integration nichts zu befürchten. Ich gehe davon aus, dass Obersiggenthal zu diesen Gemeinden gezählt werden darf, und wünsche Ihnen damit ein schönes Fest.