DIE ZEIT, Nr. 22, 2001

 


 

Der teure Weg aus der Armut

 

Premierminister Blair hat immer neue Sozialprogramme aufgelegt. Trotzdem geht es in Englands Ghettos nur langsam aufwärts.

Von Thomas Fischermann

Harte Töne hatte Tony Blair im letzten Wahlkampf angeschlagen. Die "Kosten des sozialen und ökonomischen Versagens" wollte er einsparen: Sozialhilfe, die der Steuerzahler aufbringt, wenn jemand seine Familie nicht mehr aus eigener Kraft ernähren kann. Die "Arbeitsgesellschaft" sei das richtige Mittel dagegen, Arbeit überhaupt die "beste Form der Sozialhilfe". Zur Arbeit dürfe der Staat seine Bürger notfalls auch zwingen. Ganz anders wurde es da einigen Anhängern von Old Labour, aber auch Sozialarbeitern, Gemeindepfarrern, Gewerkschaftern. "Welfare to Work? Man sollte erst einmal über Welfare to Health nachdenken", regte sich Alan Marsh auf, ein Sozialforscher am Policy Studies Institute.

Und jetzt, vier Jahre später? Die Arbeitsgesellschaft ist immer noch Blairs wichtigstes Ziel. Und tatsächlich gibt es im ganzen Land nur noch 1,5 Millionen Arbeitslose. Das haben die Briten vor allem der glänzenden Konjunktur der vergangenen Jahre zu verdanken - allerdings auch Tony Blairs Welfare-to-Work-Programmen (Raus aus der Sozialhilfe, ran an die Arbeit), und das ging nicht ohne Erhöhung des Sozialbudgets.

Am konsequentesten hat New Labour bisher den "New Deal für junge Leute" umgesetzt: Arbeitslose im Alter von 18 bis 24 Jahren müssen sich in Jobfragen beraten lassen, lernen Lebensläufe formulieren, und dann müssen sie sich entscheiden: Job, ABM, Weiterbildung, Unkraut im Park ausrupfen. Sonst bekommen sie zur Strafe für ein paar Wochen die Sozialhilfe gekürzt. Ein aufwändiges Programm, es kostet im Jahr eine gute Milliarde Mark, aber selbst nach vorsichtigen Schätzungen haben schon 60 000 junge Leute dadurch einen dauerhaften Job gefunden.

Nur - kann Arbeit wirklich alle sozialen Probleme lösen? Was ist mit denen, die aus den New Deals "aus unbekannten Gründen" verschwinden, einfach abhauen? Was ist mit den ungewöhnlich vielen Briten, die gar nicht erst nach Arbeit suchen und deshalb gar nicht in der Statistik auftauchen?

Sie haben für ihr Verhalten oft gute Gründe. Nach wie vor ernähren manche Billigjobs in England nicht ihren Mann. Die Regierung weiß das, und sie hat die Steuersätze und Sozialversicherungsbeiträge für Geringverdiener gesenkt, den Mindestlohn angehoben, das wöchentliche Einkommen für arbeitende Familien aufgestockt. Das Einkommen der unteren Schichten ist unter Labour insgesamt gestiegen (wenn auch lange nicht so schnell wie das der oberen Schichten). Trotzdem bleiben genug Probleme. Am unteren Rand des Arbeitsmarktes wechseln Jobber immer wieder aus der Arbeitslosigkeit auf Billiglohnstellen und fliegen wieder heraus. Arbeitsforscher sprechen vom no pay-low pay-Zyklus, auszubrechen gelingt nur wenigen. Tony Blair hat nun erklärt, er wolle auch "diese Barrieren niederreißen".

Die soziale Ausgrenzung

Das beginnt damit, dass bei jedem Jobverlust alle Papiere neu ausgefüllt werden müssen. Mitunter verliert man bei Abschluss eines Arbeitsvertrags die günstige Sozialwohnung und braucht dann eine neue Bleibe. Eine andere Barriere ist die "regionale Beharrung": Briten ziehen selten aus Gegenden mit schlechten Beschäftigungschancen weg, weil sie sich das Leben anderswo (etwa im teuren London) nicht leisten können. Auch die schlechte Ausbildung ist oft ein Hindernis. Wer den New Deal einhalten will, muss auch ein besseres System der Berufsausbildung installieren.

Doch die wahren Probleme liegen noch tiefer. Die Regierung spricht selber vom Problem der "social exclusion", der sozialen Ausgrenzung. Sie hat eine Arbeitsgruppe namens Social Inclusion Unit einberufen und lässt dort im Soziologenjargon die multiple Deprivation untersuchen, die vieldimensionale Benachteiligung mancher Bevölkerungsgruppen. Es geht um die Bewohner von Armuts- und Arbeitslosenghettos, aber auch um viele versteckte Arme überall im Land, die aus vielen Gründen dauerhaft vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen bleiben.

So haben Old-Labour-Anhänger im Verlauf von Tony Blairs Amtszeit verwundert registriert, wie plötzlich Experten für Kinderpsychologie ins Finanzministerium vorgeladen wurden, wie das Sozialbudget (wenn man es richtig rechnet) anstieg, obwohl die Arbeitslosenquote sank, und dass die Regierung ein Sozialprogramm nach dem nächsten auflegte: Hilfe für Kinder, Regenerationsprogramm für verarmte Innenstädte und Industriereviere, Sonderübergangsprogramme für schwer vermittelbare Arbeitssuchende, "Beschäftigungszonen". Vieles davon ist in Steuererlassen und Sondertöpfen versteckt, damit es nicht ganz so auffällt und die Mittelschichten verschreckt.

Ein steiniger Weg. Das New Policy Institute verfolgt jährlich 50 "Indikatoren der sozialen Ausgrenzung" unter den Briten - und davon blieben unter Blair 24 konstant (darunter Einkommensverteilung, Selbstmorde, Ängste), 17 verbesserten sich (etwa Arbeitslosigkeit, Telefonanschlüsse, Schulabschlüsse), neun verschlechterten sich (die Zahl der Niedriglohnempfänger, der jugendlichen Straftäter oder der Fettleibigen). Ungelöst bleibt auch das Problem des öffentlichen Dienstes: Auch hochrangige Kabinettsmitglieder geben zu, dass die Regierung zu zögerlich in den Aufbau der kaputtgesparten Schulen, Buslinien und Krankenhäuser investiert hat. Der Weg in die inclusive society wird für Tony Blair also teuer - erst recht, sollte demnächst die Konjunktur wieder abflauen.
 

(c) DIE ZEIT   22/2001

 


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