DIE ZEIT, Nr. 22, 2001

 


 

Leben und Überleben in Benchill

 

Am 7. Juni wird in Großbritannien gewählt. Tony Blair hatte versprochen, das Elend in den Großstadtslums zu bekämpfen. "Arbeit statt Sozialhilfe" war sein Programm. Was ist daraus geworden? Zum Beispiel im ärmsten Viertel des Landes, einem Vorort von Manchester?

Von Andreas Molitor

 

Wir müssen weiter voranschreiten, bis der letzte Slum von der Landkarte verschwunden ist.
Aus dem Wahlprogramm der Labour Party, 1950

Wann Donna Hall das Leben endgültig aus den Händen geglitten ist, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Vielleicht schon, bevor sie im Herbst 1997 von Kenninghall Road Num- mer 3 in das Haus Renton Road Nummer 35 zog, nur etwa 200 Meter weiter, wer weiß? Damals schon galt diese Straße als eine der übelsten Ecken in Benchill, jener Sozialsiedlung im Süden Manchesters, von der im Folgenden die Rede sein wird. In die Renton Road wurden jene hoffnungslosen Sozialfälle eingewiesen, die kein Vermieter mehr haben wollte. Nun kann man niemanden mehr fragen, was hier geschah. Donna Hall nicht, weil sie fort ist mit den Kindern. Unbekannt verzogen. Die Nachbarn auch nicht. Weil hier keiner mehr wohnt. Die ganze Renton Road wird abgerissen.

Über Berge von Matratzen, Müllsäcken und rostigen Hundefutterdosen führt der Weg zu Donna Halls Behausung. Man muss nicht einmal einbrechen, das haben andere längst erledigt. Die Haustür liegt im Flur, darauf klebt noch ein dreieckiges Warnschild mit einem roten Haus und einer schwarzen Gestalt, die sich davonmacht. This is a homewatch area, ist dort zu lesen, "hier wird aufgepasst". In Wahrheit traute sich in die Renton Road schon lange keine Polizeistreife mehr. Die verkohlte Holzstiege hoch, an Donna Halls Schlafraum mit der verkeimten Matratze vorbei zu den beiden Kinderzimmern - Verschlägen eher - jedes etwa zwei mal drei Meter, mit rußschwarzer Teletubbies- und Bärchentapete. Zwei Kinder also.

Auf dem Küchenboden, inmitten von Schutt und Ruß, liegen Dutzende durchgeweichter Briefe und Rechnungen. Während ihre kleine Welt langsam versank, wurde sie von den Sozialbehörden weiterhin pflichtgemäß verwaltet. Die Wohnungsbehörde teilte ihr mit, dass "Ihrem Antrag auf Umsetzung in eine andere Wohnung nicht stattgegeben wird, weil Sie trotz mehrfacher Aufforderung die erforderlichen Unterlagen nicht beigebracht haben".

Wie mag es hier zugegangen sein? Schaffte sie es noch, den Müll rauszustellen, für die Kinder warmes Essen zu kochen? Zwischen den Briefen steckt eine Muttertagskarte, mit einem kugeligen Bärenkind, Blumenstrauß in der Tatze, das sich an seine Bärenmama schmiegt. With Love Mummy on Mother's Day. Darunter stehen in ungelenker Kinderhandschrift vier Namen: Layton, Carrieanne, Alexander, Joshua. Donna Hall musste also vier Kinder durchbringen, nicht bloß zwei. Irgendwann, die Sozialhilfe war wohl wieder mal aufgebraucht, hat sie das Arbeitslosengeld von Richard Penney unterschlagen, Aktenzeichen NZ 086963 A. Wer war das? Hat er bei ihr gewohnt, hat er gesagt, dass er es ehrlich meint mit ihr? Aktenkundig ist, dass Donna Hall seinen Barscheck vom Arbeitsamt über 92 Pfund und 12 Pence bei der Bank eingelöst hat. Das Arbeitsamt verlangte den Betrag von Donna Hall zurück. 92 Pfund 12 Pence. Wollte Donna Hall damit ihre Telefonrechnung bezahlen? Sie telefonierte ausgiebig, viel zu viel für einen Sozial- fall mit vier Kindern, allein im April 1998 für 183 Pfund und 15 Pence. Dank der Einzelverbindungsübersicht ist Donna Hall eine gläserne Telefonkundin. In der Renton Road Nummer 35 wurde auch um halb zwei am Morgen noch telefoniert, meist dauerten die Gespräche nur wenige Sekunden. Waren es ihre Kinder? Haben sie abends irgendwelche Nummern gewählt, für fast 600 Mark im Monat? Und wo war Donna Hall?

Es ist amtlich, statistisch belegt und mit dem Stempel des zuständigen Ministers versehen: Benchill, wo Donna Hall hauste, ist unter den 8414 städtischen Wohngebieten Englands das ärmste. Nummer eins auf der Liste des Elends.

Im August vorigen Jahres präsentierte ein Team aus Statistikern und Sozialforschern der Universität Oxford das bislang feinste Messinstrument für Armut: den Index of Multiple Deprivation. Neben den gängigen Armutsindikatoren - Arbeitslosenquote, Zahl der Sozialhilfeempfänger und Haushaltseinkommen - berücksichtigten sie auch Gesundheit, Bildungsniveau und Wohnsituation. Zwei Jahre lang hatten die Forscher Daten gesammelt, gewichtet, interpretiert. Resultat war eine Armutsrangliste aller englischen Stadtbezirke - mit Benchill an der Spitze.

Wie schlecht, statistisch gesehen, geht es nun den 15 000 Menschen, die hier wohnen? Fast zwei Drittel der Haushalte leben ganz oder teilweise von der Wohlfahrt. 60 Prozent der Kinder erhalten freie Schulspeisung, weil die Eltern kein Geld für das Mittagessen haben. Zudem ist Benchill eine der ungesundesten Wohnstätten des Landes: Hier, wo schon Zehnjährige rauchend an den Ecken stehen, sterben fast doppelt so viele Menschen an Lungenkrebs wie im Schnitt. Auffallend häufig verschreiben die Ärzte Antidepressiva, Neugeborene kommen weitaus öfter als anderswo untergewichtig zur Welt - weil viele Mütter während der Schwangerschaft stark rauchen, Alkohol trinken und sich miserabel ernähren. Wer hier leben muss, stirbt im Schnitt fünf bis sechs Jahre früher als der statistische Durchschnittsengländer.

In Benchill, das legen die Daten nahe, hausen die Armseligen, die Überflüssigen; jene, die den Anschluss verloren haben; jene, deren Existenz als gesellschaftliches Phänomen britische Regierungen jedweder Couleur bis vor wenigen Jahren geleugnet hatten: die Unterklasse. Tony Blair bezeichnete bei seinem Machtantritt vor fünf Jahren diejenigen "ohne Chance, etwas aus ihrem Leben zu machen", tatsächlich als underclass. Die Soziologen sagen lieber: socially excluded, von der Gesellschaft ausgeschlossen.

Unterklasse, wie das schon klingt. Nach dreckigen Klos und Ausschlafen bis Mittag, nach fetten Muttis in Schlappen und stiernackigen Kerlen in Unterhemden, nach Kindfrauen mit Schwangerschaftsbäuchen und rotznasigen Straßenkindern. Und immer genug Bier im Kühlschrank. Wer möchte solche Nachbarn haben, wer möchte hier wohnen? Allein zwischen 1991 und 1998 zogen mehr als zehn Prozent der Einwohner aus Benchill fort. Den meisten, die hier blieben, scheint es egal zu sein, was aus ihrer Siedlung wird. Die Beteiligung an den Kommunalwahlen lag zuletzt bei unter zehn Prozent.

Am 7. Juni wählen die Briten ein neues Parlament; die Lage in den Elendsquartieren gehört zu den wichtigsten Wahlkampfthemen. Schon in den vergangenen 30 Jahren gab es nicht weniger als acht nationale Programme, die den abgestürzten Sozialsiedlungen Anschluss an den Rest des Landes verschaffen sollten - mit dem Resultat, dass die Armutslücke stetig größer geworden ist, auch unter New Labour. Während Großbritannien um Benchill und die anderen Enklaven der Armseligkeit herum heller und ein bisschen freundlicher geworden ist, scheint sich hier die Finsternis auf Dauer eingenistet zu haben. Dabei hatte Tony Blair vor den letzten Parlamentswahlen noch versprochen, "jenen verhängnisvollen Weg zu beenden, der zu einer Klasse arbeitslo- ser, gesellschaftsverdrossener Habenichtse führt". Vier Jahre später scheint man in den Benchills des Landes auf ebendiesem Weg ein weiteres Stück vorangekommen zu sein. Oder?

Nein, er will das nicht lesen. Graham knallt die Zeitungen mit solcher Wucht auf den Fußboden, dass die dicke Bibi, seine alte Schäferhündin, aus dem Schlaf hochschreckt, ihren kläglichen Schwanzstummel zwischen die Hinterläufe klemmt und sich trollt. "Brutstätte der Armut" verkündet die Schlagzeile des Mirror in fetten Lettern, "Schlimmste Gegend in ganz England" titeln die Manchester Evening News. Gemeint ist wieder Benchill. Sein Benchill. Hier lebt Graham Loose, 59, seit 40 Jahren. Sue, seine Frau, ist hier geboren, hat 9 Jungs und 2 Mädchen zur Welt gebracht und großgezogen. 11 Kinder. In 14 Jahren. Als Sue das erste Mal schwanger wurde, war sie 16. "Sieh dir diese Prachtfrau an", dröhnt der Familienvater, "11 Kinder gekriegt - und kein einziges Mal genäht worden."

Graham wuchtet sich aus dem Sessel, zieht die Jogginghose hoch und klopft sich auf die Wampe. "126 Kilo. Findest du, ich bin unterernährt, he? Jetzt sag doch mal, sehe ich etwa aus wie von Armut gezeichnet? Wie ein Slumbewohner?"

Früher fuhr Graham Loose mit dem Lastwagen durch ganz Europa, verdiente gut. Seit er sich vor 20 Jahren bei einem schweren Unfall einen Halswirbel brach, bezieht er Sozialhilfe und Arbeitsunfähigkeitsrente. Graham, Sue und die beiden Jüngsten, die noch daheim wohnen, leben von 1400 Mark im Monat. Allein rund 900 Mark davon gehen für Berge von Lebensmitteln drauf - weil sich auch die älteren Kinder von Sue bekochen lassen. Die Miete, 600 Mark, überweist das Sozialamt; Gas, Strom und Kommunalsteuer muss Graham selbst zahlen. Er ist mit seiner Frau noch nie in Urlaub geflogen, sie leisten sich keine Kneipenabende, kräftig getrunken wird nur am Silvesterabend, sagt er.

Keine Frage, gemessen am Gros der britischen Bevölkerung, sind Graham und Sue Loose arme Leute. Graham definiert Armut allerdings ganz anders als die Sozialforscher - nämlich darüber, ob alle satt werden. "Sieh in den Kühlschrank, der ist voll bis oben hin. Die Tiefkühltruhe in der Küche und die im Schuppen - beide voll." Er zeigt in Richtung Küche. "Sue kocht ein Abendessen, da bleibt nie was übrig. Mal Hackbraten, mal Hähnchen, mal Bratwurst, mit Kartoffelpüree und Bratkartoffeln, Blumenkohl dazu oder Rosenkohl, ordentlich Soße drauf, lecker!"

"Aber die Statistiken, Graham, die beweisen doch, wie schlimm es ist. Zwei Drittel der Leute hier leben von der Fürsorge!" - "Ach was, die Statistiken! Die Zahlen sind doch schon zwei, drei Jahre alt. Damals war Benchill wirklich schlimm, ach, es war ein Scheißhaufen. Aber seitdem ..." Graham zieht sich ächzend die Turnschuhe aus, sein Bauch ist ihm dabei im Weg. Es sind solche vom Wühltisch, 25 Mark das Paar. Er hat gleich fünf Paar gekauft. "... seitdem ist es schon besser geworden. Sieh dich doch mal um! Und in ein paar Jahren wird es hier wieder so hübsch und friedlich sein wie damals, als sie Benchill Garden City nannten. Die besten Zeiten kommen noch."

Doug Hesketh war gerade vier, als die Leute von der Sanierungskommission kamen und seinen Eltern erklärten, dass alles abgerissen wird: das Haus, in dem sie wohnten, und das ganze Viertel drum herum. 1961 war das. Was ihm aus der Zeit davor in Erinnerung geblieben ist, sind düstere Fabrikgebäude, ein schwarzer Kanal, an dem er nicht spielen durfte, und Toiletten in dunklen Holzverschlägen auf der gegenüber liegenden Seite der Gasse.

Dann rückten Bagger und Planierraupen an und rissen die baufälligen Mietskasernen nieder, Straßenzug für Straßenzug. So zogen sie von Miles Platting nach Benchill, der kleine Doug, sein Bruder und seine Eltern. Für die Arbeiterfamilien aus den Innenstadtslums von Manchester hatte die Stadt dort Garden City aufs Ackerland gesetzt, kleine Häuschen, draußen im Grünen, mit Bad, Kinderzimmer, Zentralheizung und kleinen Gärtchen, vorbildlich alles. Die Busse nach Trafford Park, das war das riesige Industriegebiet, wo auch Dougs Vater arbeitete, fuhren jetzt morgens eben ab Benchill und nicht mehr ab Miles Platting.

Im selben Jahr zog auch ein 19-jähriger Bursche namens Graham Loose nach Benchill, mit seiner Großmutter und seiner Mutter, die sich später zu Tode trank. Auch sie kamen aus einem jener Cityslums, auch sie staunten, wie sauber und hübsch und ordentlich hier alles war. Die Nachbarn allesamt rechtschaffene Leute, Arbeiterklasse, die Männer hatten Jobs, man konnte aus dem Haus gehen und die Tür offen stehen lassen, ohne dass etwas wegkam.

Doug Hesketh und die Jungs aus der Nachbarschaft hatten eine gute Zeit anfangs. Es gab Bäume, auf denen sie herumklettern konnten, ohne dass jemand sie verjagte. Die zehnjährigen Bengel, die George Best von Manchester United verehrten wie einen Gott, sie sammelten Kronenkorken von der Straße und kauften Brausepulver - auf die Handflächen geschüttet, die immer dreckig waren, und draufgespuckt, dass es schäumte. Später die ersten Zigaretten, heimlich im Park.

Dann ging die gute Zeit zu Ende. Es hing wohl damit zusammen, dass immer weniger Busse morgens nach Trafford Park fuhren und viele Väter den Tag über zu Hause blieben anstatt zu arbeiten. Einige fingen an, Bier zu trinken, schon morgens um zehn. Doug, der jetzt 14 war, kam nachmittags aus der Grammar School, auf die seine Eltern ihn geschickt hatten. Von der Bushaltestelle ging er am Park vorbei, wo seine Freunde rauchten, geklaute Schundhefte lasen, ihre Mädels knutschten und sich lustig machten über Doug in seiner lächerlichen Schuluniform. Er gehörte nicht mehr dazu.

Als Doug 16 war, lernte er ein Mädchen aus einem besseren Stadtteil kennen und zog nach Northenden, nur durch die Autobahn von Benchill getrennt. Die Familie und die Erinnerung an Armut und Kindheit ließ er in Benchill zurück.

Graham Loose blieb - und wurde Zeuge des steten Verfalls seines kleinen Garten Eden. Jedes Mal, wenn er von einer längeren Tour mit dem Lastwagen zurückkehrte, kam ihm die Siedlung verändert vor. Immer mehr nette Leute aus der Nachbarschaft zogen weg, für sie kamen neue Mieter, die den Müll hinter dem Haus vergammeln ließen. Solange es noch Arbeit gab für Benchill, hatte das Fabrikregime den Tagesablauf geprägt, für guten Lohn gesorgt, jedem und allem seinen Platz und seine Zeit zugewiesen. Mit dem Verschwinden der Arbeit war diese proletarische Fabrikkultur untergegangen. Was blieb, waren endlose Benchill-Tage.

Mitte der Neunziger war das einstige Idyll für die Menschen aus den Innenstadtslums längst selbst zum Slum verkommen, zu Manchesters sozialer Endlagerstätte, abgeschnitten vom Rest der Stadt, eingepfercht zwischen Autobahnen und Schnellstraßen. Der Thatcherismus hatte die Deprivierten sich selbst und den Wohlfahrtsbehörden gänzlich überlassen, das öffentliche Benchill war nach und nach stillgelegt worden: die Geschäfte, die Banken, das Schwimmbad, das Kino. Es blieben - die Menschen.

Fünf Jahre später. Inmitten mehrerer no-go areas, geschützt von Eisengittern und Natodraht, liegt die Thomas-Morus-Grundschule. Eine katholische Schule. Wie viele seiner Schüler aus kaputten Familien kommen? Rektor Dominic Mulcahy findet die Frage überflüssig. "20, 30, 70 Prozent? Ist uns egal. Wir konzentrieren uns hier auf den Unterricht, auf Mathematik, Geschichte, Geografie. Und natürlich auf Religion."

Mulcahy war Leiter einer der besten Grundschulen der Stadt. Vor zwei Jahren kam er nach Benchill, sollte ein Jahr aushelfen an der Thomas-Morus-Schule, die in schlechtem Ruf stand. Mulcahy ist geblieben. Er erfüllt hier eine Mission. Seine Prinzipien sind Pflicht und Strenge. Disziplin verlangt er und Ordnung und gutes Benehmen. Seit er hier Rektor ist, hat seine Anstalt in der städtischen Rangliste aller Grundschulen 63 Plätze gutgemacht.

Mulcahy öffnet die Tür seines Büros zum Flur. "Na, hören Sie was? Hier herrscht Ruhe, hier herrscht Disziplin. Wir verlangen viel von den Schülern - und sie schaffen es. Kommen Sie, ich zeig sie Ihnen." Auf dem Flur begegnet ihm ein Schüler. "Bestes Benehmen, bitte! Hände aus den Taschen!", ruft Mulcahy ihm zu. - "Yes, Sir", sagt der Junge. "Beste Klasse der Woche!", ist an der nächsten Tür angeschlagen. "96 Prozent Anwesenheit." Der Rektor öffnet. "Alle gut aussehenden Kinder aufzeigen!", ruft er in den Raum. Alle Hände schnellen nach oben. "Hände runter!" Der Rektor ruft einen Jungen, sechs Jahre alt vielleicht, aus der ersten Reihe. "Komm her, John Curtis, schnell, schnell, Junge!" Zur Lehrerin gewandt: "Haben Sie seine Hefte, Miss?" Die Lehrerin holt sie.

"Begrüße die Herren, John Curtis."

"Guten Tag", sagt der Junge zaghaft und schaut zum Rektor hoch.

"Lauter, John Curtis!"

"Guten Tag!"

"Niemand hat sich bisher um ihn gekümmert", fährt der Rektor fort. "Seine Leistungen waren, nun ja, nicht schlecht für John Curtis." Der Junge schaut immer noch den Rektor an. "Seit ein paar Wochen ist er bei uns. Er kann jetzt schreiben."

"Und lesen", sagt die Lehrerin und zeigt die Hefte. "Er war auf Level vier, jetzt schafft er Level sechs."

"Weiter so, John Curtis!", sagt Mulcahy.

Der Schulleiter schließt die Klassentür. "Das waren die durchgedrehten Kinder aus Benchill", sagt er stolz. "Sind sie nicht wunderbar?" Und dann fügt er hinzu: "Eines Tages werden sie diese Schule als bessere Menschen verlassen. Die Welt steht ihnen offen."

Vielleicht stünde es schon heute besser um Benchill, gäbe es dort mehr Menschen, die den Bewohnern der Siedlung etwas abverlangen, und seien es Pünktlichkeit und Disziplin. Und mehr Bewohner, denen ihr Stadtteil nicht egal ist.

Solche wie Graham Loose: Der Mann mit den prall gefüllten Tiefkühltruhen hat sich in den vergangenen drei, vier Jahren zum Chefkümmerer der Siedlung entwickelt. Mit Sue, seiner Frau, organisiert er Bingo-Nachmittage für die einsamen Alten, sie fahren mit ihnen im Bus nach Blackpool, wo das Leben bunt ist und laut und die Mädchen knackige Hintern haben. Daheim verschanzen sich die Alten ja schon nachmittags um vier in ihren Häuschen, man hört die Bolzen der Türverriegelungen zuschnappen.

Im kurzärmeligen T-Shirt, Sommer wie Winter, balanciert der kleine dicke Graham aus der Alders Road zwischen seiner kleinen Welt, die Benchill heißt, und der fremden Welt jener, die Benchill verwalten. Er lötet ein paar der Kommunikationsdrähte wieder zusammen, die durchgetrennt waren all die Jahre. 20-, 30-mal am Tag geht bei ihm daheim das Telefon: In der Mullacre Road ist eine Waschmaschine kaputt, die alte Mrs. Burns versteht ihre Heizkostenabrechnung nicht, und die Hendersons warten seit Tagen auf den Mann, der die Fenster wieder dicht machen soll. Meist rufen die Mieter Graham an und nicht Willow Park, die Wohnungsgesellschaft. Seinen Titel "Vorsitzender der Mietervereinigung" trägt er mit Stolz.

Graham glaubt an sein Benchill. Er hofft, dass endlich ein Ruck durch die Siedlung geht. Wenn die Wohnungsgesellschaft jetzt erstmals die rückständigen Mieten einfordert, findet er das nur gerecht. "Manche haben jahrelang nicht bezahlt, aber jetzt werden sie rausgeschmissen. Doug ist da hart." - "Doug?" - "Doug Hesketh, ja. Der treibt die Mieten ein." Ja, genau der. Irgendwie ist er doch nicht weggekommen aus Benchill.

Großbritannien steht vor der vielleicht entscheidenden Schlacht gegen die Zustände in den Wohnstätten der Ärmsten. Nachdem acht staatliche Programme gescheitert sind, läuft jetzt der neunte Versuch. Die 840 übelsten Wohngebiete erhalten in den nächsten vier Jahren rund eine Milliarde Pfund, damit sie Wiederbelebungsstrategien entwickeln können. Eigenverantwortlich. Die Zeit der paternalistischen Megasozialprogramme ist vorbei. "Wir helfen den ärmsten Gebieten, aber um ihre Zukunft kämpfen müssen sie schon selbst", sagt Tony Blair. "Das können wir nicht für sie machen."

In Benchill werden jetzt die ersten Erfolge der Mikro-Initiativen gegen Apathie und Mehltau sichtbar. Schließlich gibt es einen Geldregen: Mehr als 10 Millionen Pfund werden in Sozialprojekte und Vereine gepumpt. 14 Millionen hat die Wohnungsgesellschaft schon für neue Fenster, Badezimmer, Küchen und Überwachungskameras ausgegeben. Doch man muss schon sehr genau hinsehen, um die kleinen Fortschritte zu bemerken. Vor fünf Jahren standen in Grahams Straße ganze 13 Häuser leer, jetzt sind alle wieder bewohnt.

Der Weg aus dem Dreck führt über Trümmerfelder. Brutplätze der Kriminalität wie die Renton Road stehen Benchills Zukunft im Weg, sie werden platt gemacht. Nach 40 Jahren erleben die älteren Mieter zum zweiten Mal eine Slumsanierung per Bulldozer.

Statistisch gesehen, ist Benchill ein Paradies für Menschen, die arbeiten wollen. Vor kurzem wurden 2000 Leute auf einen Schlag gesucht - für den Bau einer zweiten Start-und-Lande-Bahn am Flughafen von Manchester, für die neuen Gaststätten und das Airport-Hotel. Eine Riesenchance für Benchill, aber bisher offenbar nur in der Theorie: Obwohl es bis zum Flughafen nur knapp vier Kilometer sind, arbeitet kaum jemand aus der Siedlung dort. Die meisten Bauarbeiter kommen aus London und Liverpool, sie schlafen im Container auf der Baustelle. Warum? Sind die arbeitslosen Jungs und Mädels aus der Siedlung in Englisch und Rechnen so schlecht, dass sie nicht einmal für eine Stelle als Kellnerin oder Hilfsarbeiter infrage kommen? Oder finden sie morgens nicht aus dem Bett, weil ihre Stütze so großzügig bemessen ist, dass Arbeit sich nicht lohnt? Hat die staatliche Fürsorge ganz Benchill am Ende süchtig gemacht?

Wenn dem so wäre, müsste die Arbeitslosigkeit bei 30 oder 40 Prozent liegen, was eine Auszeichnung vom Schlage "Brutstätte der Armut" auch erwarten lässt. Tatsächlich sind es nur 9,4 Prozent. Davon können die meisten Arbeitsamtsdirektoren in Ostdeutschland nur träumen. Von den 1200 registrierten Arbeitslosen Anfang der Neunziger ist nur ein Drittel übrig geblieben. Etliche haben sich still zu den 1500 Dauersozialfällen gesellt - sie tauchen in den Daten des Arbeitsamts nicht mehr auf. Die meisten jedoch, ein paar hundert immerhin, fanden eine Stelle. Auch Benchill hat also vom längsten Wirtschaftsboom nach dem Krieg profitiert. Englands ärmste Wohnsiedlung, so scheint es, hat sich auf den Weg gemacht.

Allerdings ist die Quote in Benchill immer noch fast dreimal so hoch wie im Landesdurchschnitt. Der Wert von 9,4 Prozent markiert, was man die "natürliche Arbeitslosenquote" der Siedlung nennen könnte. 428 Arbeitslose, 428 hoffnungslose Fälle. Barbara Murray, die Leiterin des örtlichen Arbeitsamts, hat ihre Dauerkunden abgeschrieben. Es fehle an allem: Bildung, Mobilität, Motivation. Ein Job muss gleich vor der Haustür sein, drei oder vier Kilometer Fahrtweg sind schon zu viel.

Für manche hat Arbeit noch nie zum Leben gehört. Sie wurden geboren in jener Zeit, als die Fabriken dichtmachten. Eine weitere Erklärung findet sich an den Wandtafeln mit der Aufschrift Latest Vacancies, wo die neuen Stellenangebote aushängen: Kellner gesucht für Airport-Café, Vollzeit, fünf Schichten rotierend, letzte Schicht bis drei Uhr morgens, 10,20 Mark die Stunde. Putzfrau gesucht, 17.30 bis 19 Uhr, 9,50 Mark. Wachmann gesucht, angenehme Erscheinung, Uniform wird gestellt, Bewerber muss zehn Jahre Beschäftigung nachweisen, 11,40 Mark.

Es sind Jobs für die Heloten der Dienstleistungsgesellschaft. Jobs für Benchill. 11,40 die Stunde, das macht knapp 2000 Mark im Monat. Brutto. Für eine Arbeit, die kaum mehr bietet als die Aussicht, bald wieder auf der Straße zu stehen. Unwillkürlich spürt man, auf welch bröckeligem Fundament das Arbeitsplatzwunder von Benchill steht. Schon der leise Hauch einer Rezession dürfte ausreichen, die meisten dieser Jobs hinwegzufegen.

Auch die älteste Tochter von Graham Loose wird wohl nichts Besseres finden als einen Arbeitsplatz der Kategorie Latest Vacancies. Gelernt hat sie nichts Ordentliches, die Emma, ein bisschen hinterm Bartresen ausgeholfen und dann zwei Kinder gekriegt, Conor und Keaton. Die sind jetzt vier und zwei. Der Vater ist arbeitslos. Emma hat ihn verlassen, "ich brauch den Kerl nicht", sagt sie. Wenn sie arbeiten ginge, glaubt die 22-Jährige, würde sie ja noch weniger Geld in der Tasche haben als die 330 Mark Sozialhilfe, die sie wöchentlich bezieht. Alles, was jetzt der Staat überweist - Miete, Gas, Strom, Kommunalsteuer -, müsste sie dann nämlich selbst bezahlen.

Ein guter Teil ihrer arbeitslosen Altersgenossen, kräftige, alleinstehende junge Männer vor allem, hat für die Billigvariante des Jobwunders nichts übrig. Sie entschieden: Wir haben keine Arbeit, wir suchen keine Arbeit. Ein Job konkurriert mit anderen, weit bequemeren Wegen, das gleiche Ziel zu erreichen: Sozialamt, ein bisschen Schwarzarbeit, Drogenhandel, Diebstahl.

Aber wollte Tony Blair mit seinem New-Deal-Programm nicht genau diese "neue Arbeitslosenklasse" von den staatlichen Sozialtöpfen "zurück zu nützlicher Arbeit führen"? Sollte der Müßiggang jener, die es sich seiner Meinung nach in der Fürsorge dauerhaft bequem machen, nicht finanziell bestraft werden, indem die Sozialhilfe gekürzt oder gestrichen wird, so wie sich das auch hierzulande neuerdings der Kanzler wünscht? Blairs sozialpolitisches Credo ist da eindeutig: "Die beste Form der Wohlfahrt ist Arbeit, egal in welcher Form."

Landesweit hat das Programm "New Deal für junge Leute" 60 000 junge Menschen in Jobs gebracht, und das ist nur die pessimistische Schätzung. Und in Benchill? Da betreuen die Leute vom New-Deal-Team ganze acht Fälle, da verteilt die strenge Hand der Blairschen Sozialreformen 100-Pfund-Barschecks - an jene Klienten, die brav zu den Beratungsgesprächen kommen. Charlie Dunbar und Kim Stride, die hier zuständig sind, haben alle Hoffnung längst fahren lassen, dass man all die Brians und Ritchies und Cathys aus der Siedlung kollektiv in Lohn und Brot bringen könnte. Zu groß sind die Lücken im Schreiben und Rechnen, zu ausgeprägt die Neigungen, an einem verregneten Tag daheim zu bleiben. Not employable - so jemanden stellt kein Chef ein. Man müsste sie erst an Arbeit gewöhnen, und wenn sie morgens nicht erscheinen, sie notfalls aus dem Bett holen. Aber wer soll das machen?

Und was ist aus den Arbeitsverweigerern geworden, denen Blair die Sozialhilfe streichen wollte? "Wir hatten einen", sagt Charlie Dunbar, "der kam am ersten Tag pünktlich, am zweiten zu spät, am dritten gar nicht, und am vierten Tag wurde er gefeuert." Pause. "Ja, was mach ich denn mit so einem? Vielleicht ist er noch nicht so weit." - "Oder es war der falsche Job", meint seine Kollegin. "Vielleicht macht er ja lieber was mit Pferden." In drei Fällen hat Dunbar beantragt, die Stütze zu kürzen. Was draus geworden ist, weiß er nicht.

Vier von Grahams neun Söhnen haben keinen Job. "Ach was, es sind nur drei", rechnet er wenig später vor. Dale hat ja jetzt wieder Arbeit, nachts in der Backfabrik. Hat Graham fast vergessen. Ändert sich ja auch ständig. Man sucht Jobs, hat Jobs, verliert Jobs. Gute und schlechte und ganz schlechte. Kraig und Dean und Philip zum Beispiel, die arbeiten für einen Arbeitsverleiher. Vier Tage hat er vielleicht was für sie, dann wieder zwei Wochen nichts. Paul ist Dachdecker, Carl ist Frühinvalide, mit 27, sie haben ihm kürzlich einen Tumor rausoperiert, John und Alan haben ein kaputtes Rückgrat, die können auch nicht mehr arbeiten, jedenfalls nicht so richtig, Aime kommt dieses Jahr aus der Schule, "was will sie eigentlich machen, Sue?" - "Weiß sie nicht", sagt Sue. - "Sie hat's mal mit Friseuse versucht", sagt Graham, "aber ich glaube, das war nichts." - "Und Mark, euer Ältester, was macht der?" - "Lastwagenfahrer, so wie ich", sagt Graham stolz. "Fernumzüge, kommt in ganz Europa rum. Aber im Moment ist er krank." - "Was hat er denn?" - "Schädelbruch."

Der Schlag mit dem Ziegelstein kam von hinten und mit Wucht. Im Dunkel der Straße hatten sie ihm aufgelauert. Mark Loose erinnert sich noch, dass er sich nach Haus schleppte, überall klebte Blut. Im Krankenhaus nähten die Ärzte die riesige Platzwunde am Schädel einfach zu. Ei- ne Röntgenaufnahme hielt niemand für nötig. Schließlich gibt es am Wochenende, wenn Benchill trunkig ist und wankt, jede Menge Schlägereien. Und Mark hatte eine Mordsfahne. Tags darauf fühlte er sich in der Arbeit zusehends schlechter. Zu Hause platzte die genähte Wunde auf, der Schädel war offen. Die Diagnose nun: Schädelbruch. Ein paar Stunden später, und Mark Loose wäre tot gewesen.

Sechs Wochen später. Ein Wohnzimmer. Graham, Mark und seine Frau Sharon. Im Vormittags-TV erklärt ein blondes Mädchen, dass es unbedingt berühmt werden will.

Weißt du, wer es war? - Mark: "Ja, ein 15-jähriger Bursche, der wohnt hier die Straße runter. Innerhalb von zwei Tagen hatten wir seinen Namen." Graham: "Ach was, am gleichen Tag noch." Was passiert jetzt mit ihm? Graham: "Er hat schon ein paar vors Maul bekommen, und er kriegt noch mal 'ne richtige Abreibung, wenn die Sache vor Gericht durch ist." Mark: "Schließlich hat er meine Frau und die drei Kinder bestohlen. Normalerweise verdien ich 200 Pfund die Woche, als Krankengeld krieg ich nur 68 Pfund, und das nun schon seit sechs Wochen."

Und jetzt? Graham: "Wir werden ihn nicht anrühren. Das wird einer von den jüngeren Burschen übernehmen." Mark: "Man klaut nichts von seinesgleichen. Wir sitzen doch alle im selben Boot." Graham: "Einem Kerl aus der Gegend hier wurde vor kurzem das Motorrad gestohlen. Wir kennen den Dieb (Mark und Sharon nicken). Um den tut's mir wirklich leid. Der Besitzer war gestern und vorgestern abend bei mir zu Hause und hat gefragt, ob ich weiß, wer seine Maschine hat. Wenn er das rauskriegt - also ... Sie werden den armen Hund mit der Nase im Dreck finden." Mark: "Erschossen. Gibt 'ne Menge harter Brocken hier."

Sharon: "Ansonsten sind's nette Burschen." Graham: "Ja, hier um die Ecke, das Haus rechts, da lebt so einer, und dann die Straße hoch, da wohnen zwei, das sind die richtig harten Jungs. Wenn du sie zusammen erlebst, einfach so, denkst du, was für nette Kerls das sind. Sie kommen zu uns nach Hause, Sue macht 'ne Tasse Tee ..." Sharon: "Dessie zum Beispiel, der ist immer so hilfsbereit ..." Graham: "... aber wenn du ihnen in die Quere kommst - aus und vorbei. Sie finden dich. Die sind durch eine harte Schule gegangen." Mark: "Sind wir alle. Zwischen 5 und 15, das waren schlimme Zeiten." Graham: "Ich hatte elf Kinder. Sie wurden gehänselt und verprügelt, weil ich kein Geld hatte, ihnen schicke Klamotten zu kaufen. Jetzt könnten sie es denen heimzahlen." Mark: "Wir sind neun Jungs." 

Graham (lacht): "Fast 'ne kleine Armee."

Nach einer Pause, Mark: "Eigentlich ist Benchill super." Sharon: "Jetzt, wo sie den Abschaum rausschmeißen." Mark: "Wir brauchen einfach mehr Polizei auf der Straße." Graham (steht auf): "Komm Junge, ich fahr dich rum. Ich zeig dir die guten Ecken. Und die schlimmen."

Der Wagen steht vor der Tür, Graham hat ihn nicht abgeschlossen. Warum sollte er auch? Die harten Jungs aus der Siedlung kennen seinen Peugeot. Er fährt die Woodhouse Lane hinab, vorbei an Schulen und Arztpraxen, hinter Stacheldraht, videoüberwacht, vorbei an Kinderspielplätzen, umringt von Eisengittern mit Speerspitzen. Sehr junge Mütter kommen vom Einkaufen, mit Kindern, die viel zu dünn angezogen sind, manche im Schlafanzug. Erroll Avenue. Wieder und wieder rammt der Bulldozer die Vorderfront von Haus Nummer 12, der Diesel röhrt über die Straße. Erroll Avenue wird saniert, also abgerissen.

Drei Jungs, elf Jahre alt vielleicht, lungern herum. Einer hat eine dicke Eisenstange in der Hand. Es ist elf Uhr vormittags. "Was macht ihr hier?", fragt der mit der Eisenstange. - "Sehen uns Benchill an." - "Benchill ist Scheiße", heißt es nur. - "Und wieso?" - "Na weil's eben Scheiße ist." - "Was ist mit Schule?" - "Geh ich nicht hin", sagt er und grinst. "Ist auch Scheiße."

Graham kann sich noch gut an die Anrufe der Lehrer erinnern: "Mr. Loose, wo ist Mark, wo ist Paul?" Und er konnte nur sagen: "Keine Ahnung, ich hab sie doch geschickt heut morgen." Er hat gehört, dass die Schwänzer neuerdings von der Polizei aufgegriffen werden. Findet er gut. Aber was passiert dann? Sie liefern sie bei der Schule ab oder daheim, und wenn die Leute von der Fürsorge auftauchen, öffnet niemand, oder die Eltern sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollen.

Renton Road, wo Donna Hall wohnte. Graham zeigt in eine kleine Sackgasse. "Hier darfst du nicht allein reingehen. Das ist eine no-go area. Die Stadt hat die Leute einfach hier reingestopft, jede Menge Pack." - "Wohnt da noch jemand?" - "Ja, schon. Furchtbare Leute." - Ein Mann kommt die Gasse entlang, sieht Graham im Auto und winkt ihm freundlich zu. Graham winkt zurück. "Das ist Tony, einer der schlimmsten Autodiebe hier." - "Er hat dir zugewinkt ..." - "Ja, hier in der Siedlung kennen mich alle. Ich bin beliebt hier, weißt du."

Die Verbrecher kennen Graham, und er kennt die Verbrecher. Wenn Chief Inspector Peter Aaronson von der örtlichen Polizei wissen will, was vergangene Nacht los war in Benchill, fährt er zu Graham, legt die Pistole ab, lockert den Schlips und sagt: "Tee, bitte." Graham mag Aaronson, und Aaronson mag Benchill, irgendwie. Einmal hat man ihn mit einer Stelle in einem besseren Stadtteil belohnt - nach ein paar Wochen war er wieder da.

Langsam fährt Graham am einzigen Laden der Gegend vorbei. Der Besitzer hat vor dem Eingang massive Eisenpoller in den Boden gerammt, damit die Vandalen nachts mit den gestohlenen Autos nicht mehr einfach seinen Laden rammen. Graham gibt wieder Gas und sagt, fast beiläufig: "Laut Statistik ist Benchill übrigens eine der friedlichsten Ecken, die man sich vorstellen kann, im Grunde genommen."

Tatsächlich, die Einbruchsrate gehört zu den niedrigsten in ganz Manchester. Aber was besagt das schon? Für die Polizeistatistik ist allein relevant, wo der Einbruch stattfindet, nicht, wo der Dieb wohnhaft ist. Benchills Ganoven stehlen nicht vor der eigenen Haustür, sondern lieber bei den Besserverdienern, nebenan im schmucken Didsbury etwa.

Weiter durch die Siedlung. Hier eine no-go area, direkt daneben das, was Graham "nette kleine Gegend" nennt, dann wieder eine no-go area. "Was heißt ‰nette kleine Gegend'?" - "Och, die Leute hier machen keinen Ärger. Wird's brenzlig, kommen sie raus und sagen: Hau besser ab, hier knallt's gleich!"

Gleich hinter der Klinik, mit neuem Herzzentrum, vorbildlich, verrottet ein Gebäude, halb abgerissen, halb abgebrannt. "Das Schwesternwohnheim", sagt Graham. "Sie reißen es ab. Das ging so nicht weiter. Die Schwestern wurden ständig vergewaltigt." Zurück zum Nordende der Siedlung. In Brookfield Gardens ist der Asphalt mit großen schwarzen Flecken übersät. Hier haben sie die geklauten Autos abgefackelt, nur so zum Spaß. Vergangene Nacht war die Polizei hier, zum ersten Mal seit Jahren. Graham hat 36 Beamte gezählt. "Die Ecke ist jetzt sauber", sagt er zufrieden.

Auch in den nächsten Nächten schickt Chief Inspector Aaronson seine Bobbys auf Streife durch Benchill, auf einmal geht das. "Die offizielle Begründung ist ...", beginnt er und überlegt. "Also die inoffizielle Begründung ist die, dass die Regierung gesagt hat, wir müssen vor den Wahlen die verdammte Kriminalitätsrate runterkriegen, hier habt ihr Geld, macht was." Aaronson quartiert verdeckte Ermittler in leer stehenden Wohnungen ein, sammelt Beweise gegen Dealer und Hehler, damit man sie aus Benchill ausweisen kann. "Rausschmeißen!" Graham findet das genau richtig. Die Konsequenzen solcher Säuberung sind ähnlich brutal wie das Verfahren selbst. Benchill soll wieder Garden City werden, indem es seinen sozialen Müll woanders abkippt. Was solche Leute dann dort anstellen, in Moss Side oder Hulme etwa, ist Graham egal. Sein Benchill mag von einer Sozialpolitik des Rauswurfs eine Zeit lang profitieren, als Programm zur Revitalisierung eines Gemeinwesens taugt die Methode nicht.

Graham würde gern dabei helfen, die Ganoven und Vandalen loszuwerden, einerseits. Er kann es aber nicht, weil er sich den ungeschriebenen Gesetzen des Systems Benchill beugt. Beugen muss. Wenn in der Nachbarschaft ein Auto geknackt wird, nennt er Chief Inspector Aaronson die Namen der Diebe nicht, selbst wenn er sie erkannt hat. "Hier wird keiner verpfiffen", sagt er. "Wer das macht, hat schnell einen Ziegelstein im Wohnzimmerfenster. Oder schlimmer." Man beginnt zu verstehen, warum es in Benchill bestenfalls in winzigen Schritten vorangehen kann. Selbst Graham, der Moderator, muss sich mit denen einlassen, die das Viertel ganz nach unten gebracht haben - sonst riskiert er einen Schädelbruch.

Dass auch im System Benchill etwas bewegt werden kann, wenn Menschen Verantwortung übernehmen, nur eben auf andere Weise, zeigt die Geschichte vom 105er Bus. Fast jede Nacht wurden bei der einzigen Buslinie, die durch Benchill fährt, die Scheiben eingeworfen. Die Busfirma wollte die Linie einstellen, denn jedes Fenster kostet 1000 Pfund. Da fuhr ein Mann aus der Siedlung abends, wenn es dunkel wurde, mit seinem Auto hinter dem Bus her - zur Abschreckung. Sieben Monate lang. In dieser Zeit flog kein einziger Stein auf den Bus. Eines Abends haben sie es doch versucht. Der Mann im Auto setzte hinterher und erwischte zwei von ihnen. Sie wurden zu je 500 Pfund Geldstrafe verurteilt. Seitdem ist Ruhe. Vor Gericht wurde der Name des Mannes, der den 105er Bus für Benchill gerettet hat, aus Gründen des Zeugenschutzes nicht genannt. Es ist einer, den in Benchill fast jeder kennt. Früher ist er mal mit dem Lastwagen durch ganz Europa gefahren.

 

(c) DIE ZEIT   22/2001

 


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