WoZ, 4.5.2000


 

Kämpfen und nicht nur den Doktor rufen

Pierre-Yves Maillard

 

Wer zur Zeit Molires seinen reichen Onkel umbringen wollte, musste nur einige moderne Doktoren davon Ÿberzeugen, dass der Onkel nichts dringlicher als ihre Hilfe brauche. In kurzer Zeit gelang es solchen Doktoren, dank abenteuerlichen Experimenten und Theorien aus der geringsten Grippe eine tšdliche Krankheit zu machen. Dies stellte ihre †berzeugungen nicht in Frage und brachte ihnen vonseiten des Erben grosse Anerkennung ein.
Auch bei der bevorstehenden Liberalisierung des Strommarktes wird es solch einen glŸcklichen Erben geben, nŠmlich David de Pury, der das nštige Kapital aufgetrieben hat, um sich das zukŸnftige Monopol am Hochspannungsnetz zu sichern. Er verfŸgt als VerwaltungsratsprŠsident von ÇLe TempsÈ Ÿber eine grosse Tageszeitung, die all den ÇDoktorenÈ, die ihn bei diesem Unterfangen unterstŸtzen, ihre Anerkennung ausspricht. ÇLe TempsÈ wird auch nicht mŸde, die Sozialisten vom Çdritten WegÈ zu Ÿberzeugen und das Loblied auf jene Doktoren der modernen Sozialdemokratie anzustimmen, die zuschauen oder ö ohne dafŸr zu kŠmpfen ö Ideen lancieren, wŠhrend die GŸter und Dienste der Allgemeinheit auf dem Markt und im Profit der AktionŠre verschwinden.
Gewisse Ideen des Doktor Bodenmann sind interessant, andere sind reine Provokationen, insbesondere im Bereich Landwirtschaft und bei den Eisenbahnen. Seis drum. Was fŸr uns heute zŠhlt, ist nicht, zu wissen, welche Technologie fŸr die Swisscom die beste wŠre, sondern ob es in einigen Jahren noch eine šffentliche Unternehmung in diesem Sektor geben wird. Seit der Abstimmung Ÿber die Gesetze zum Telekommunikations- und Postbetrieb hat die SP zwei wirkliche gute VorschlŠge gemacht. Andrea HŠmmerle verlangte, dass die Swisscom einen Teil ihrer Gewinne an einen Fonds abgibt, der ArbeitsplŠtze im šffentlichen Dienst in abgelegenen Regionen finanziert. Peter Bodenmann verlangte, alle Haushalte mit einem System auszurŸsten, das mit dem Telefonanschluss zugleich den Zugang zum Internet ermšglicht. Beim SP-Kongress in Davos 1996 hatten die Jungsozialisten und die SP Waadt fast gleich lautende Forderungen aufgestellt und mit einer Resolution verlangt, die Gesetze zu bekŠmpfen, wenn diese nicht durchgesetzt werden kšnnen. Wie Bodenmann selbst sagt, gibt es in der Schweiz eine starke Mehrheit, die den šffentlichen Dienst verteidigen will. Wir hŠtten Aussicht gehabt, das Referendum zu gewinnen, und im neuen Gesetzgebungsverfahren hŠtten die guten Ideen der SP mehr Gewicht gehabt.

Liberalisierung des Strommarktes
In Lausanne werfen die industriellen Dienste heute Gewinn ab, und dies zu Preisen, die im europŠischen Vergleich vorteilhaft sind. Sie haben in die Energiegewinnung aus der Kehrichtverbrennung und aus Naturgas sowie in ein Wasserkraftwerk investiert. Sie fšrdern die erneuerbaren Energien und die Verminderung des Wasser- und Stromverbrauchs. Sie finanzieren Sonnenenergieanlagen auf šffentlichen GebŠuden sowie Anlagen zur WŠrmerŸckgewinnung und sind dafŸr mit dem Preis der Stiftung ÇEnergiestadtÈ ausgezeichnet worden. Sie haben zudem ein Kabelnetz installiert, das in der ganzen Stadt die Verbreitung von dutzenden Fernsehprogrammen und Internetdiensten ermšglicht. RentabilitŠt, QualitŠt, technische Innovation und eine škologische Politik: Alles ist da.
Aber mit all dem wird es mittelfristig vorbei sein, wenn der franzšsische Elektroriese EDF ö mit einem Jahresgewinn von zwei Milliarden Franken ö die Freiheit erhŠlt, sich auf den Markt der Lausanner industriellen Dienste zu stŸrzen, ohne dass die Wechselseitigkeit garantiert ist. Der SP-Kongress 1999 in Neuch‰tel hat zu Recht darauf bestanden, dass die Strommarktšffnung nicht schneller durchgefŸhrt wird, als es die EU-Direktive vorsieht, zumal diese von Frankreich mit der gršssstmšglichen Verzšgerung umgesetzt wird. Auch in diesem Bereich fŸhrt kein Weg am Referendum vorbei, wenn die šffentliche Aufsicht und die škologische QualitŠt der Stromversorgung garantiert werden sollen.
Es geht mir nicht darum, die Betriebe des šffentlichen Dienstes zu ÇmumifizierenÈ. In Lausanne habe ich alle Schritte zu ihrer Modernisierung unterstŸtzt. Wenn die Modernisierungsideen fŸr die šffentlichen Betriebe, wie sie ein Citoyen und Hotelier aus Brig vorbringt, einen Sinn haben sollen, ist es besser, wenn zuvor dafŸr gesorgt wird, dass es solche Betriebe Ÿberhaupt noch gibt.

Kartelle in der Telekommunikation
Aber in der Schweiz und in Europa hat die sozialdemokratische Verblendung solche Ausmasse angenommen, dass, wŠhrend wir Ÿber die šffentlichen Dienste reden, diese bald nicht mehr als ÇšffentlichÈ und immer weniger als ÇeuropŠischÈ bezeichnet werden kšnnen. Dies wird deutlich, wenn wir einen Blick auf den strategisch so bedeutsamen Bereich der Telekommunikation werfen.
Zum Zeitpunkt der europŠischen Marktšffnung 1998 teilten sich drei ŸbermŠchtige, unter US-FŸhrung stehende Gruppen den Weltmarkt auf: erstens ATT mit Worldpartners und Unisource, zweitens Concert mit BT (British Telecom) und Telefonica sowie drittens Sprint, der Alliierte von France Telecom und Deutscher Telekom bei Global One.
Die europŠischen Firmen mussten Marktanteile abgeben, ohne auf dem US-Markt Fuss fassen zu kšnnen. Die dreizehn wichtigsten Internetanbieter sind US-amerikanisch, mit MCI-Worldcom an der Spitze. Die Folge davon ist, dass beispielsweise eine Verbindung ParisöLondon Ÿber die USA hergestellt wird und 17- bis 20-mal teurer ist als eine Verbindung Ÿber die gleiche Distanz in den USA selbst.
Die britische NTL, die in der Schweiz Cablecom auf Kreditbasis Ÿbernommen hat, gehšrt in Wirklichkeit drei anderen Konzernen: Microsoft, einer Filiale von ATT und France Telecom. France Telecom ist an Orange beteiligt. Concert (BT und ATT) steht hinter Sunrise. Hinter Diax steht die deutsche Viag Interkom, bei der wiederum BT eine gewichtige Kapitalbeteiligung hat. Neben dem Mobilnetz, dem Kabelnetz und dem Festnetz wird in der Schweiz auch ein WLL-Breitbandfunknetz aufgebaut. Drei US-Firmen haben den Zuschlag erhalten: Callino (Haupt- aktionŠre Intel und Chase Manhattan), Firstmark (Worldonline, CSFirstBoston, Microsoft im Verwaltungsrat) und UPC (Ucoma und Microsoft). Wo man an der Fassade kratzt, Ÿberall kommen die gleichen Firmen ans Licht: eine seltsame Art von Konkurrenz.
Aufgrund der 1997 verabschiedeten Gesetze wird die Swisscom auf allen Gebieten durch Anbieter konkurrenziert, die untereinander verbunden sind und hinter denen gigantisches Kapital steht. Wenn ein geschŸtzter Bereich von ausreichender Gršsse fehlt, fŸhrt die Konkurrenz stŠrkerer Anbieter im šffentlichen Betriebes eines Landes von unserer Gršsse. Wer šffentliche Dienste in der Schweiz will, muss ihnen daher einen TŠtigkeitsbereich in Form eines Monopols sichern. Alles andere ist nur schlechte Medizin.
Die sinkenden Preise scheinen die Kritik an der Liberalisierung der Telekommunikation zu entkrŠften. Ein Artikel in der Wirtschaftszeitung ÇCashÈ vom 31. MŠrz mit dem Titel ÇDie Tarife tauchen, die Rechnung wird teurerÈ zeigt, dass die stetige Ausbreitung der Mobiltelefonie die Verbilligung zur Illusion macht. Fix-zu-Mobil-Anrufe beispielsweise sind achtmal teurer als LokalgesprŠche. Eine Studie der europŠischen Handelsvereinigung ECTA zeigt, dass die Tarife fŸr Mobiltelefone in der EU, der Schweiz und in Norwegen 40 bis 70 Prozent Ÿber den effektiven Kosten liegen. Die KonsumentInnen dieser LŠnder zahlen jŠhrlich 7,3 Milliarden Franken zu viel (in der Schweiz rund 200 Millionen). Der Grund fŸr diese Preisverzerrung sind gemŠss Studie kartellistische Absprachen der Mobilfunkgesellschaften. Vor diesem Hintergrund versteht man besser, weshalb die Anbieter alle Telekommunikationsdienste vom Festnetz auf das Mobilnetz verlagern mšchten. Gleichzeitig wird einem auch klar, wie wichtig es ist, einen šffentlichen Dienst ohne Zwang zu Ÿberhšhten Renditen beizubehalten, der das Monopol auf das Festnetz hat und mit dem Telefon- auch den Internetanschluss zu gŸnstigen Tarifen anbietet.
Die Wege und Mšglichkeiten, Daten zu Ÿbermitteln, vervielfachen sich, die Investitionen in diesem Sektor auch. Das wirft weitere Fragen auf: Ist dies rationell? Wie viele Millionen werden in unnštige Netze investiert und mŸssen dereinst als reine Verluste abgeschrieben werden? Und wie sieht es beim Fernsehen aus? Die †bernahme von Cablecom durch einen Ÿberschuldeten Betreiber, der nicht einmal den vereinbarten Preis bezahlen konnte (die Bezahlung geschieht Ÿber eine Hypothek auf das Netz) wird den Druck verstŠrken, das Fernsehen reinen Marktkriterien anzupassen, um die notwendigen Renditen zu erzielen.

Eine linke Strategie
Technische VorschlŠge dŸrfen eine prŠzise Analyse der RealitŠt und eine klare Strategie nicht ersetzen. Das heisst: In Bereichen, die noch nicht liberalisiert worden sind, mŸssen zu weit gehende Liberalisierungsvorlagen, beispielsweise die aktuellen Versuche zur Strommarktliberalisierung, per Referendum bekŠmpft werden. Bei der Post und der Telekommunikation ist ö weil die SP schlechte Gesetze durchgehen liess ö an eine Initiative zu denken. Diese Initiative muss ehrgeizige und prŠzis formulierte AnsprŸche an die Dienstleistungen in diesen Bereichen stellen: ein breiter Zugang zu Telefon und Internet, ein dichtes Postnetz und umfassende postalische und finanzielle Dienstleistungen. Wichtige Aufgaben mŸssen als Monopole an šffentlichen Unternehmungen vergeben werden.
Entgegen dem, was gesagt wird, gibt es in der EU oft einen grossen Handlungsspielraum. Und selbst wenn wir mit der EU in einen Gegensatz geraten wŸrden, was den Grad der Entwicklung unserer šffentlichen Dienste, angeht ö wo wŠre das Problem? Wenn die Beitrittsverhandlungen beginnen, ist es mir lieber, die Schweiz verteidigt die QualitŠt und die Dichte ihrer šffentlichen Dienste als dass sie fŸr Ausnahmeregelungen kŠmpft, um das Bankgeheimnis und ihre Funktion als Steuerparadies zu retten.
Seit der ErklŠrung der Menschenrechte 1948 schien allseits anerkannt zu sein, dass die šffentlichen Dienste der Demokratie RealitŠt verleihen und Demokratie ohne sie nur formell eine wŠre. Heute reduzieren die Neoliberalen jeder Couleur die demokratische Regulierung auf gesetzliche Regelungen und ihre †berwachung. Aber wie kann die šffentliche Kontrolle gegenŸber mŠchtigen Multinationalen spielen? Wie kšnnen Konzerne gezwungen werden, gegen ihr Marktinteresse zu handeln und nicht die Steigerung, sondern die Verminderung des Verbrauchs anzustreben? Bei der ElektrizitŠt ist dies geboten und erst recht bei der Trinkwasserversorgung. Die sozialdemokratische Partei ist nicht mehr sie selbst, wenn sie nicht daran festhŠlt, dass das Wasser, das wir trinken, die Energie,
die wir fŸr unsere AktivitŠten brauchen, die Bildung, die MobilitŠts- und KommunikationsbedŸrfnisse keine Waren sind. Sie sind ö wie die soziale Sicherheit ö demokratische Rechte.