WoZ, 13.7.2000 |
Moritz Leuenberger
Wenn über den künftigen Weg der Sozialdemokratie nachgedacht wird, wird kaum
über Gramsci, Proudhon oder Anthony Giddens gesprochen, sondern über Blair,
Schröder oder Jospin. Es wird also die Zukunft der Sozialdemokratie nicht an
den Gedanken von Philosophen oder Utopisten, sondern an den Taten von Regierungschefs
diskutiert. Sozialdemokratische Politik wird danach beurteilt, was die Macher
in der Exekutive leisten. Das bedeutet einerseits, dass wir in einer Zeit der
Praxis und weniger in einer der visionären Ideen leben. Es wird hauptsächlich
über den Weg und nicht über das Ziel diskutiert, ja, die erbittertsten Auseinandersetzungen
erfolgen über einzelne Schritte und Schrittlein, ohne dass auch nur an den Weg
gedacht würde, geschweige denn an das Ziel. Ich denke an die Verlegung einer
Poststelle um 300 Meter, was die Gemüter unserer Genfer Genossen erhitzte. Ich
beklage das gelegentlich als ein kurzatmiges Geschnatter.
Doch zeigt diese engagierte Diskussion um konkrete Politik auch etwas anderes:
Eine Maxime der Sozialdemokratie ist die, Verantwortung wahrzunehmen, nicht
nur mit Initiativen und Referenden oder mit der Präsenz im Parlament, sondern
durch Arbeit in den Regierungen. Wir wollen Einfluss auf diese Gesellschaft
nehmen, wir wollen uns an der Macht beteiligen. Das tönt für manche, denen die
programmatische Orientierung wichtiger ist, immer noch etwas anrüchig, doch
ist diese Partizipation an der Macht nichts anderes als die Folge davon, dass
wir Verantwortung übernehmen.
Für diese Arbeit haben wir uns an einem Programm ö oder an einer Vision
zu orientieren. Sie ist der Fluchtpunkt, in welchem die Perspektiven zusammenlaufen.
Ohne Fluchtpunkt verlören sich die Perspektiven als Parallelen im Unendlichen.
Und ohne Perspektive bliebe der Fluchtpunkt unerreichbar. Beides, Ziel und Weg
dazu, gehören zu unserer Politik.
Pragmatik eines ethischen Sozialismus
So besteht zwischen Programmatik und Pragmatik kein Widerspruch. Pragmatik
ist die Kunst, richtig zu handeln, und richtig handelt nur, wer die programmatischen
Grundwerte in seine ethischen überlegungen für die tägliche Arbeit
einbezieht und sich nach ihnen ausrichtet. Das ist die Pragmatik eines aufklärerischen,
eines ethischen Sozialismus, eine Haltung, die ich einem so genannten "dritten
Weg" vorziehe, deshalb, weil der Weg zu einem Ziel immer wieder von neuem gesucht
werden muss, und nie ist ein einziger für immer vorgegeben. Wer die ethische
Reflexion bei seinen konkreten Handlungen unterlässt, verfällt in
einen Pragmatismus der Beliebigkeit, in orientierungslosen Utilitarismus. Beschränkt
er sich umgekehrt auf das Programm und liebäugelt damit, diesem ausschliesslich
aus der Oppositionsstellung zu huldigen, ohne es umsetzen zu müssen, entzieht
er sich der Verantwortung für die Gegenwart und die Zukunft.
Es ist richtig, dass wir eine Diskussion um Grundwerte führen müssen.
Aber sie darf nicht nur anhand des Programms stattfinden. Sie muss auch tagtäglich
vor jedem politischen Alltagsentscheid geführt werden. Wer dies nicht tut,
weicht der sehr viel bedeutenderen Grundwertediskussion aus, derjenigen nämlich,
die vor jedem pragmatischen Schritt erfolgen muss.
Beispiele:
Dogmatisierungsgefahr des Service Public
Der Service public ist ein wichtiger programmatischer Teil unserer Politik,
nicht nur, weil er abgekürzt "sp" heisst, sondern weil die gleichwertige
Bedienung aller Menschen, ob Arm oder Reich, Jung oder Alt, und Landesgegenden,
ob städtisch oder peripher, Element einer gerechten Gesellschaft ist, wie
wir sie uns vorstellen.
Aber es gibt auch eine Dogmatisierungsgefahr um den Service public, indem er
nämlich auf seine blosse bisherige Form reduziert wird, statt dass er an
seinem politischen Grundgedanken gemessen würde. Dieser Grundgedanke bedeutet,
dass der Staat die Chancengleichheit und die gleichwertige Bedienung aller in
diesem Lande zu garantieren hat.
Es heisst nicht, und da tue ich meine Meinung kund, die in der Partei nicht
überall geteilt wird, dass er alle diese Leistungen auch gleich noch selbst
erbringen müsste. Es gibt Bereiche, wo dies nur der Staat kann, weil eine
schrankenlose Liberalisierung zu sozialen und regionalen Disparitäten führen
würde. Dort kennen wir auch heute das Monopol, in Teilen der postalischen
Versorgung etwa. Es gibt Bereiche, wo staatliche oder öffentlich kontrollierte
Betriebe mit privaten Unternehmen konkurrieren, wo also liberalisiert wurde,
das ist bei den elektronischen Medien schon längere Zeit der Fall, in Bereichen
der Post ebenso. Und es gibt schliesslich Bereiche, wo der freie Markt alle
günstig versorgt, bei Salz und Tabak ist das längst selbstverständlich,
in der Telekommunikation ist es abzusehen.
Auch dort muss sich allerdings der Staat einschalten, um die Gefahr eines privaten
Monopols zu bannen und um einen fairen Wettbewerb zu garantieren. Das kann er
mit Konzessionen organisieren, mit Aufsichtsorganen, mit Gebühren und entsprechenden
Kontrollen. Mehr Markt heisst daher meist mehr Regulation und keineswegs weniger
Staat.
Unser Ziel kann nie die Liberalisierung, nie die Privatisierung, nie das Monopol
als solches sein. Diese sind je Mittel für eine optimale Grundversorgung.
Ich verstehe den Service public als einen Service au public, eine Verpflichtung
für die Menschen, und nicht als ein Privileg des Staates und derjenigen,
die bei ihm arbeiten. Die Diskussion darüber, welches Mittel das richtige
sei, ist Gegenstand unserer täglichen politischen Diskussion.
Die Post unterhält ein Poststellennetz. Dieses Netz kostet zwei Milliarden
Franken. Es ist unser Wille, dass die Post es im Grossen und Ganzen aufrechterhält
und ihre Dienstleistungen verbessert. Deshalb soll sie in die Lage versetzt
werden, diese Aufgabe mit den Einnahmen einer Postbank zu finanzieren.
Der Markt und die Technologie der Telekommunikation haben sich schneller entwickelt,
als vorauszusehen war. Heute geht es darum, die Interessen der Swisscom bestmöglich
zu vertreten. Diese können möglicherweise eines Tages am besten gewahrt
werden, wenn Allianzen eingegangen werden. Dazu kann unter Umständen die
Preisgabe der Aktienmehrheit durch den Bund notwendig sein. Dies ist eine von
vielen Möglichkeiten. Solche Geschäfte müssen in wenigen Wochen
abgewickelt werden. Deswegen braucht es Flexibilität. Daher unser Antrag
auf Kompetenzübertragung an den Bundesrat. Das Ziel eines starken Unternehmens
wird dadurch nicht in Frage gestellt, sondern ermöglicht. Aber wer die
Flexibilität für den Fall des Falles heute verbaut, muss sich unter
Umständen später vorwerfen lassen, am finanziellen Niedergang der
Swisscom, am Verlust von tausenden von Arbeitsplätzen in diesem Unternehmen
mitverantwortlich zu sein und damit an einer Verschleuderung von Geldern, die
der Allgemeinheit gehören.
Dabei geht es nicht um den Service public dieser ist und bleibt vorgeschrieben
im Gesetz, sondern es geht um die wirtschaftliche Ertragskraft eines Unternehmens,
welches dem Bund gehört, eines Unternehmens, das in einem Markt tätig
ist, der unsere Vorstellungskraft gelegentlich sprengt (die deutsche Telekom
hat allein für Ankäufe rund 150 Milliarden Franken zur Verfügung).
Für die Diskussion um die Zukunft der Swisscom dürfen wir uns nicht
auf ideologische Positionen fixieren. Eine solche ideologische Position bestünde
darin, die Privatisierung der Swisscom an und für sich, als solche, um
ihrer selbst willen voranzutreiben. Es wäre aber ebenso ideologisch, die
gegenwärtige Mehrheitsbeteiligung des Staates als sakrosankt zu verherrlichen.
Sozialdemokratische Politik hat die Welt stark verändert. Die Welt ändert
sich weiter, doch gibt es heute da und dort in unseren Kreisen die Tendenz,
sich gegen weitere änderungen kurzerhand zu wehren, statt an ihnen weiter
zu arbeiten. Wer dies tut, bestätigt die (unrichtige) Behauptung Dahrendorfs,
das Jahrhundert der Sozialdemokratie sei vorbei. Gewiss wäre es einfacher,
die Genforschung kurzerhand zu verbieten, statt deren Ergebnisse auf Chancen
und Risiken der Menschheit abwägen zu müssen. Aber wäre das auch
verantwortungsvoll?
Aufklärerischer Fortschritt
Gewiss wäre es einfacher gewesen, die SBB als Anstalt zu belassen, statt
sie in eine AG zu überführen und sie teilweise dem Wettbewerb auszusetzen.
Aber wäre das angesichts der Konkurrenz der Strasse gegenüber der
Bahn verantwortungsvoll gewesen? Heute haben sie die 39-Stunden-Woche eingeführt,
schreiben schwarze Zahlen und haben Marktanteile gewonnen. Sie haben keine Mitarbeiter
entlassen und werden das auch nicht tun. Selbst in dieser schwierigen Phase
bleiben die SBB der Sozialpartnerschaft verpflichtet.
Die Informationsgesellschaft, die Gentechnologie, die Mobilität, sie alle
bringen Risiken und Chancen. Wer eine Welt der Chancengleichheit anstrebt, darf
nicht wegen der Risiken eine neue Entwicklung als solche verunmöglichen,
sondern er muss die Risiken verhindern und die Chancen mehren. Die Chancen für
die Benachteiligten, für die Umwelt, für die Randgebiete, für
die Dritte Welt.
Die Sozialdemokratie hat den aufklärerischen Fortschritt stets vorangetrieben.
Es gab technologische Fortschritte, die Unterprivilegierte gleichberechtigt
gemacht haben. Und es gibt weitere solche Entwicklungen. Wir wollen und müssen
sie nutzen für unsere Ziele von globaler Solidarität und Chancengleichheit.
Wieso sollen wir uns am Beamtenstatus festklammern, wo wir die weit bessere
Möglichkeit eines GAV haben? Eine Erkenntnis, der sich 95 Prozent des SBB-Personals
anschlossen!
Wieso soll das Poststellennetz unverändert bestehen bleiben, wo die Post
doch zu den Kunden und Kundinnen gehen kann und soll und dies vielleicht in
besserer Form als bisher?
Wieso soll der Bund die Mehrheit der Swisscom halten, wenn das Unternehmen
nur auf andere Art gestärkt wird und überlebensfähig bleibt?
Sich gegen solche Entwicklungsmöglichkeiten zu stemmen, die Vergangenheit
zu verherrlichen, heutige Verhältnisse als ideal und unveränderbar
hinzustellen, ist nichts anderes als Gegenwartsromantizismus, als eine Verhinderungsideologie.
Es ist ein Ausweichen vor schwierigen, aber nötigen Fragen, und es ist
auch die Abschiednahme von unserer überzeugung, die Gesellschaft zu verändern
und gerechter zu gestalten, eine Flucht aus der Verantwortung, der Verzicht
auf jede Perspektive und damit auf jede Zukunftsgestaltung!
Wir haben ein Ziel, und wir müssen die Wege dorthin suchen und sie beschreiten.