WoZ, 12.10.2000 |
Paul Rechsteiner
In der Debatte über den Staat spiegeln sich die grossen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Die 68er-Bewegung war eine Bewegung auch gegen muffige staatliche Autoritäten. Die 80er-Bewegung konnte mit dem Staat schon gar nichts mehr anfangen. Ihre Parole lautete: "Macht aus dem Staat Gurkensalat." Inzwischen ist der Staat unübersehbar in die Defensive geraten allerdings nicht durch linke Kritik. Angerichtet wird der Gurkensalat von rechts: durch Angriffe auf den Sozialstaat, auf die staatliche Infrastruktur und insgesamt auf den Leistungsstaat.
Der permanenten Verunsicherungskampagne bei der AHV zum Trotz ist die Bilanz
der Auseinandersetzungen um die beabsichtigte Abwrackung des Sozialstaats
bis heute insgesamt positiv. Einer wachen Linken ist es bisher gelungen, die
neoliberalen Angriffe abzuwehren mit Ausnahme der Heraufsetzung des Rentenalters
der Frauen im Rahmen der 10. AHV-Revision. Damals waren Gewerkschaften und
SP gespalten.
Schlechter ist die Zwischenbilanz bei den staatlichen Basisdienstleistungen,
der so genannten Infrastruktur. Die PTT, die durch Gewinne in der Telekommunikation
preisgünstige Postdienste möglich machten, bevor dies als "Quersubventionierung"
denunziert und unterbunden wurde, sind zerschlagen worden. Swisscom und Post
stehen unter starkem Liberalisierungs- und Privatisierungsdruck. Bei der Elektrizität
ist die Gesetzgebung in Richtung "Marktöffnung" weit fortgeschritten,
wobei die Ausgliederung und Privatisierung der kommunalen und regionalen Elektrizitätswerke
forciert wird. Die Linke hat diese unter dem verführerischen Begriff
"Liberalisierung" (wer will nicht "befreit" werden?) segelnden
Angriffe auf die staatlichen Dienste meist nicht aktiv bekämpft, sondern
weitgehend mitgetragen. Das ist die Folge von Unklarheiten über einige
grundlegende Fragen zur Bedeutung der öffentlichen Dienste.
Marktregulation genügt nicht
Öffentliche Dienste wie Schulen, Spitäler, Wasser- und Stromversorgung
sowie Bahn und Post erbringen elementare Leistungen, über die die Allgemeinheit
so selbstverständlich verfügt, dass ihre Bedeutung für das
tägliche Wohlbefinden erst sichtbar wird, wenn sie eingeschränkt
werden. Die Lebensqualität hängt jedoch unmittelbar davon ab, dass
Versorgung und Entsorgung funktionieren. Ein Beispiel: Wo die Abfallbeseitigung
ausgegliedert und abgebaut wird und die Abfuhr nur noch einmal pro Woche kommt,
stapeln sich die Abfallsäcke in den Wohnungen oder es beginnt in den
Hausdurchgängen zu stinken. Hier wird klar, was wir an funktionierenden
öffentlichen Diensten zu verlieren haben.
Öffentliche Güter begründen Anrechte für alle. überall,
wo es um fundamentale Voraussetzungen zur Teilnahme am gesellschaftlichen
Leben geht, sei es in der Bildung, im Gesundheitswesen, in der Versorgung
mit Energie oder in der Kommunikation, garantiert erst das öffentliche
Gut den demokratischen Zugang. Der Zugang zu privaten Gütern hingegen
wird durch den Markt und damit durch die Kaufkraft reguliert. Das schafft
Privilegien für die wirtschaftlich Starken und benachteiligt alle, die
nicht über das nötige Geld verfügen. Das gleiche Gefälle
droht zwischen den Regionen. Ein Beispiel: Im Mai 2000 wurden die Konzessionen
für den drahtlosen Netzzugang (Wireless Last Loop) versteigert. Während
in Zürich 150 Millionen Franken und in Genf 60 Millionen Franken geboten
wurden, war kein Unternehmen an einer Konzession in Graubünden oder im
Wallis interessiert. In der Region Zürich investieren die Unternehmen
damit pro EinwohnerIn 61 Franken in die Konzession, im Tessin oder in St.
Gallen gerade noch 4 Franken. Solche Ungleichheiten bedrohen den Zusammenhalt
der vor allem aus Randregionen bestehenden Schweiz, denn dieser beruhte bisher
stark auf der gleichmässig hohen Qualität der national garantierten
Dienste und den damit verbundenen Arbeitsplätzen von den SBB bis hin
zur Post.
Historisch wurden Verstaatlichungen, zum Beispiel diejenige der Eisenbahnen,
mit Effizienzargumenten begründet. Heute behaupten die Befürworter
von Liberalisierung und Privatisierung umgekehrt, die demokratischen Entscheidungsprozesse
seien ein Effizienzhindernis. Doch das ist falsch. Die Ablösung öffentlich-rechtlicher
Verfahren durch den Markt bedeutet nichts anderes, als dass sich unternehmerische
Entscheide nicht mehr an öffentlichen Interessen, sondern an den Profitinteressen
Privater orientieren müssen. Im Infrastrukturbereich führt das absehbar
zu einer schlechteren und teureren Versorgung. Bei den langfristigen Investitionszyklen,
die für die öffentliche Infrastruktur typisch sind, ist es fatal,
wenn Marktmechanismen kurzfristige und kurzsichtige Entscheide fördern.
Der Markt ist nicht in der Lage, den Erhalt und den Ausbau der Infrastruktur
auf längere Sicht zu garantieren. Eine internationale Evaluation der
Privatisierungen der letzten Zeit bestätigt diesen Befund.(1)
Die Vergabe der öffentlichen Dienste durch Konzessionen an Private mag
zwar dem Fiskus vorübergehend hohe Einnahmen bescheren. Und es wird argumentiert,
die negativen Effekte der Privatisierungen liessen sich auffangen, wenn entsprechende
Gesetze die Grundversorgung garantieren. Doch die Konzerne können die
Konzessionskosten auf die KonsumentInnen überwälzen und sind überhaupt
in erster Linie an hohen Gewinnen interessiert. Bezahlen muss die Bevölkerung,
die auf die Dienstleistungen angewiesen ist. Für die gleichmässige
und preisgünstige Versorgung wie auch für die Arbeitsbedingungen
des Personals bringt diese Schrumpfform von Service public, die den öffentlichen
Einfluss auf eine Marktregulierung reduziert, nur Nachteile.
Angriff auf allen Ebenen
Auf Bundesebene stehen derzeit die Auseinandersetzungen um Swisscom und Post
im Vordergrund. Unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses an
einer preisgünstigen Versorgung in allen Regionen und des Interesses
der Beschäftigten an anständigen Arbeitsbedingungen gibt es keinen
Grund, die Mehrheitsbeteiligung des Bundes an der Swisscom abzubauen. Das
Problem liegt nicht darin, dass der Bund Eigentümer ist, sondern darin,
dass das zuständige Departement seine Verantwortung gegenüber der
Unternehmensleitung nicht wahrnimmt. Diese verhält sich nämlich
so, als wäre die Swisscom ihr Privateigentum, das sie Stück für
Stück verkaufen kann.
Die Zukunft der Post andererseits wird sich wohl nicht auf allen möglichen
neuen Geschäftsfeldern, sondern beim Grundauftrag, also der postalischen
Grundversorgung, entscheiden. Voraussetzung dafür sind ein gutes Poststellennetz
und politisch günstige Rahmenbedingungen durch den Schutz des Postmonopols
auch in Bereichen, die Erträge abwerfen. Natürlich gehört auch
eine fähige Führung dazu, die im öffentlichen Auftrag eine
Errungenschaft und positive Herausforderung sieht.
Bisher hat sich die Service-public-Debatte auf die nationale Ebene konzentriert.
Dabei ist aus dem Blickfeld geraten, dass sich die Zukunft der öffentlichen
Dienste zu einem guten Teil in den Kantonen (Bildung, Gesundheit) und in den
Gemeinden entscheidet. Bei der Elektrizität sind während Jahrzehnten
regionale und kommunale Werke samt zuverlässigem Verteilnetz aufgebaut
worden. Diese öffentlichen Werke garantieren nicht nur die qualitativ
gute und preisgünstige Versorgung, sondern repräsentieren auch ein
enormes Kapital. Und was ist falsch daran, dass diese Werke nebenbei noch
Erträge für die öffentlichen Finanzen abwerfen?
In den USA lässt sich zurzeit verfolgen, was die Politik der Liberalisierungen
und Privatisierungen bei der Elektrizität in einigen Jahren auch für
Europa bedeuten kann. In Kalifornien kam es im vergangenen Sommer zu vorher
für unmöglich gehaltenen Versorgungsengpässen und Stromsperren.
Und statt der versprochenen Preissenkungen erlebten die gewöhnlichen
KonsumentInnen, wie sich der Strompreis um das Drei- bis Vierfache erhöhte.
Eine Schlüsselrolle bei der Auseinandersetzung um die öffentlichen
Dienste wird der Kampf um das Wasser als öffentliches Gut spielen. Dies
umso mehr, als in diesem Bereich in der Schweiz der Prozess der Liberalisierung
und Privatisierung erst begonnen hat. Die Wasserversorgung betrifft die Grundlage
des Lebens. Die Forderung, die Kontrolle über ein derart elementares
Gut müsse bei der öffentlichen Hand verbleiben, ist fast zwangsläufig
mehrheitsfähig, wenn sie einigermassen kohärent formuliert und politisiert
wird. Die anlaufende Kampagne der Hilfswerke (2) zum Schutz
des Wassers zeigt das Potenzial neuer Koalitionen.
Entscheidende Linke
Die Kommerzialisierung des Wassers ist auch ein Beispiel dafür, wie
sich solche Fragen zunehmend gleichzeitig auf lokaler wie auf transnationaler
Ebene stellen. Zu beachten ist ausserdem, dass in verschiedenen Bereichen
(insbesondere bei den Kommunikations- und Verkehrsnetzen) die Liberalisierungs-
und Privatisierungsprozesse nicht nur durch die neoliberale Ideologie, sondern
auch durch technologische Entwicklungen begünstigt werden, welche die
Grenzen des Nationalstaats relativieren. Eine Strategie zur Verteidigung des
Service public, die sich auf die Ebene des Nationalstaats beschränkt,
greift deshalb zunehmend zu kurz.
Die nationalstaatlich garantierten öffentlichen Dienste werden auch
durch die neuen kommerziellen Dienstleistungsfreiheiten bedroht, die über
die Welthandelsorganisation WTO durchgesetzt werden sollen. Bildung, Gesundheit
und andere vitale Dienste sind davon betroffen. Der Prozess wurde durch die
Proteste anlässlich der letzten WTO-Jahrestagung in Seattle nur vorübergehend
gestoppt. Die Linke steht somit vor der Aufgabe, die Frage der öffentlichen
Güter und Dienste neu auch in transnationalen Dimensionen zu denken.
Die Durchsetzung der öffentlichen Interessen setzt den Aufbau einer transnationalen
sozialen Bewegung voraus, die nicht nur den Protest gegen diese negativen
Entwicklungen zu artikulieren weiss, sondern gleichzeitig in der Lage ist,
die Forderung der "global public goods", der öffentlichen Güter
und Dienste, auf einer europäischen und globalen Ebene neu zu formulieren.
Wenn die schweizerische Linke auf der Höhe ihrer Ansprüche sein
will, muss sie sich zum Ziel setzen, Teil einer derartigen Bewegung zu werden.
Bisher haben die öffentlichen Dienste der Schweiz bei allem, was verbesserungsfähig
wäre im internationalen Vergleich eine hohe Qualität und Verlässlichkeit.
Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger harter Auseinandersetzungen. Die in
der Bevölkerung stark verankerten Errungenschaften können nur dann
rückgängig gemacht werden, wenn es keine überzeugende politische
Kraft gibt, die sie verteidigt, oder wenn diese Kraft gelähmt ist. Es
gibt politisch deshalb nur wenige Bereiche, bei denen von der Haltung der
Linken so viel abhängt wie hier. Die aktuellen Positionsbezüge der
Gewerkschaften,(3) aber auch der Service-public-Parteitag
der SP Schweiz vom kommenden Wochenende erhalten somit eine Bedeutung, die
über diese Organisationen weit hinausreicht und die Entwicklung der schweizerischen
Gesellschaft insgesamt beeinflussen wird. Wenn es die Linke verpasst, eine
wirksame Strategie zur Verteidigung der öffentlichen Dienste zu entwickeln,
wäre dies ein historisches Versäumnis. Das Nein zur Auslagerung
des Zürcher Elektrizitätswerkes zeigt deutlich, dass ihre Positionen
auch in einem widrigen, neoliberal ideologisierten Umfeld mehrheitsfähig
sind.
Voraussetzung dafür ist, dass die Linke die bestehende öffentliche
Infrastruktur endlich offensiv verteidigt, statt mit Mittel- und dritten Wegen
im Wind des Zeitgeists zu surfen. Die öffentliche Infrastruktur in der
Schweiz muss sich zweifellos an sich wandelnde Bedürfnisse anpassen,
doch das heisst nicht Abbau, sondern gegebenenfalls Ausbau im Interesse der
betroffenen Bevölkerung. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Denn
noch immer gilt, dass sich nur die Reichen einen schwachen Leistungsstaat
leisten können. Ihnen genügt der starke Ordnungsstaat.
1 vgl. z.B. Hodge Graeme A.: Privatisation. An International
Review of Performance", Westview Press Colorado, 1999.
2 Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke, Dossier Wasser, Peter
Niggli/Rosmarie Bär, mail@swisscoalition.ch
3 z.B. SGB-Dok Nr. 73, Margrit Meier, Plädoyer für den Service
public, September 2000