Der Neoliberalismuis: Das beliebteste Feindbild der Neunziger

Eine gefŠhrliche Banalisierung.  

Wie ein Modebegriff zu ideologischer Konfusion - rechts wie links - fŸhrte und noch immer fŸhrt

Markus B. Meier

(WOZ 11/99)

Wenige Begriffe beherrschen den politischen Diskurs so stark wie der Neoliberalismus, und doch existiert fŸr ihn keine eindeutige Definition. Eine kleine Umfrage unter WoZ-MitarbeiterInnen und SpitzenfunktionŠren der Parteien SP und FDP hat gezeigt, dass niemand definieren konnte, was der Begriff eigentlich meint. Die Antworten zeigen aber, dass eine einheitliche Vorstellung darŸber besteht, was Neoliberalismus meint: Çdie Ideologie des ÎSurvival of the fittestâÈ, Çeine allumfassende Theorie, die all das hochleben lŠsst, was zu neuen AusbeutungsverhŠltnissen fŸhrtÈ, ÇŸbelster Kapitalismus mit pseudohumaner MaskeÈ, ÇAbbau von staatlichen SozialwerkenÈ, Çsozialer EllbogenschrottÈ, Çder alte Irrglauben, es gehe allen besser, wenn jeder nur fŸr sich schautÈ, solche und gleichbedeutende Aussagen machten alle Befragten. ÇNeoliberalismus ist das, was im AlbisgŸetli gepredigt wird, heute versteht man die Exzesse des Kapitalismus darunter, nur noch das Rezept, zu deregulierenÈ, so definierte der FDP-GeneralsekretŠr Johannes Matyassy Neoliberalismus. Auch fŸr den ZentralsekretŠr und Pressesprecher der SP Schweiz, Peter Peyer, hat Neoliberalismus mit Liberalismus nichts gemein: ÇEr ist ein DeckmŠntelchen fŸr Sozialabbau.È

Neoliberalismus - ein Revival

Neoliberalismus steht heute fŸr das, was man im letzten Jahrhundert Laisser-faire-Liberalismus oder Manchester-Liberalismus genannt hat. Das bedeutet, der Staat habe sich auf das Minimum zu beschrŠnken (die rechtliche Ordnung aufrechtzuerhalten), wŠhrend alles andere Çfreien MŠrktenÈ Ÿberlassen bleiben mŸsse. Wenn nur jeder fŸr sich schaue, gehe es allen am besten, diese (verkŸrzte) Aussage des Moralphilosophen und BegrŸnders der modernen škonomischen Wissenschaft Adam Smith wurde zum Glaubensbekenntnis der politischen und škonomischen Elite im BŸrgertum des letzten Jahrhunderts. Diese Theorie des Laisser-faire geriet am Ende des 19. und in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in eine tief greifende Krise, von der sie sich bis in die siebziger Jahre nicht mehr erholen konnte. Der Krise lag einerseits das offensichtliche Versagen der Theorie zugrunde: Das Massenelend der arbeitenden Bevšlkerung widerlegte augenfŠllig die These, dass ein sozialpolitisch weitgehend absenter Staat letztlich allen nŸtze. Ihren Beitrag zu dieser Krise lieferten aber auch die škonomischen Analysen von Marx und Engels und spŠter von Keynes, die - mit unterschiedlicher Analyse - Ÿberzeugend die SchwŠchen der alten škonomischen Sichtweise aufzeigten. Die aufkommende ArbeiterInnenbewegung und die Russische Revolution fŸhrten ebenfalls dazu, dass sich auch im BŸrgertum breite Kreise fŸr staatliche Massnahmen fŸr einen verbesserten sozialen Schutz der ArbeiterInnen, der Kinder, der Kranken und der Alten einzusetzen begannen. Man war auch nicht lŠnger bereit, wirtschaftlichen Krisen im Glauben an selbstregulierende ÇMarktkrŠfteÈ tatenlos zuzusehen.

In der Zeit der gršssten Krise der Laisser-faire-Ideologie wurde 1939 an einem Kongress in Genf die Çneoliberale LehreÈ begrŸndet. Ihre wesentlichen Vertreter waren die …konomen Wilhelm Ršpke, Walter Eucken, Franz Bšhm und Friedrich August von Hayek. Das wichtigste Anliegen dieses Neoliberalismus war, der Idee einer mšglichst vollkommenen Konkurrenz zu neuem Ansehen zu verhelfen. Dies konnte nur gelingen, wenn sich ihr Liberalismus scharf vom alten Laisser-faire-Denken abgrenzte. Daher das PrŠfix ÇneoÈ. Der entscheidende Unterschied zum alten Wirtschaftsliberalismus bezog sich auf die Rolle des Staates: Die Neoliberalen befŸrworteten einen starken Staat, denn, so argumentierten sie, nur ein solcher kšnne eine Wettbewerbsordnung, das heisst eine freie Marktwirtschaft, aufrechterhalten. Die gršsste Gefahr sahen sie nicht in der Arbeiterbewegung, sondern in der Macht grosser Unternehmer.

Der bedeutendste Vertreter der frŸhen Neoliberalen, der deutsche …konom Walter Eucken, legte die theoretischen Grundlagen fŸr das, was man schliesslich soziale Marktwirtschaft nannte. Seine Schule hatte auch den Namen ÇOrdoliberaleÈ oder ÇFreiburger SchuleÈ. In vielerlei Hinsicht unterscheiden sich die Hauptaussagen dieses frŸhen Neoliberalismus deutlich vom heutigen. Eucken wollte in erster Linie die Macht grosser Firmen brechen, in monopolistischen Tendenzen sah er den Hauptgrund fŸr die Not der ArbeiterInnen im 19. Jahrhundert. Eine funktionierende Marktwirtschaft und eine echte liberale Ordnung benštigen nach Meinung der Ordoliberalen aber neben einem starken Staat auch ein soziales Netz, das allen ein wŸrdiges Leben ermšglicht, und Massnahmen zum Schutz der ArbeiterInnen. Dazu schreibt Eucken: ÇVorsorge fŸr Sicherheit und ausgleichende Gerechtigkeit ist nicht dem mehr oder weniger guten Willen der Einzelnen, also praktisch dem Zufall zu Ÿberlassen, sondern ist Sache der Ordnungspolitik.È

Der Staat als Feind

Friedrich August von Hayek gehšrte anfŠnglich auch zu dieser Gruppe, allerdings waren ihm soziale Anliegen nie besonders wichtig. Er entwickelte schliesslich eine Argumentation, die das Fundament fŸr das schuf, was heute als Neoliberalismus bezeichnet wird und wieder zu einem reinen Marktfundamentalismus verkommen ist. Der Unterschied zum ursprŸnglichen Neoliberalismus wird sehr deutlich am Begriff der Çsozialen GerechtigkeitÈ: WŠhrend Eucken noch schrieb, dass das Anliegen der sozialen Gerechtigkeit Çnicht ernst genugÈ genommen werden kšnne, begegnete Hayek demselben Begriff voller Abscheu: Ihn zu gebrauchen, sollten sich Çverantwortlich denkende Menschen schŠmenÈ. Er sei Çzerstšrerisch fŸr das MoralempfindenÈ, weil er auf Çschmutzigere GefŸhleÈ ziele, nŠmlich auf Çdie Abneigung gegen Leute, denen es besser geht als einem selbstÈ.

Hayeks Neoliberalismus unterschied sich in nichts mehr vom alten Laisser-faire-Dogma, nur verlieh er der Abneigung gegen jeden staatlichen ordnenden Einfluss eine neue intellektuelle Rechtfertigung. Innerhalb der škonomischen Wissenschaften in die gleiche Richtung wirkte die so genannte Chicago-Schule mit ihrem wichtigsten Vertreter Milton Friedman. Diese TheoretikerInnen versuchten zu beweisen, dass alle Probleme ohne Staat besser gelšst werden kšnnten oder sogar erst durch den Einfluss des Staates verursacht wŸrden:

Ein Monopol sei kein Problem mehr, weil die Gewinne des Monopolisten automatisch die Konkurrenten anspornen wŸrden. Nur staatliche oder staatlich unterstŸtzte Monopole oder Kartelle seien gefŠhrlich.

Die Mšglichkeit, dass eine zu geringe Nachfrage eine konjunkturelle Krise hervorrufen kšnnte (die Aussage von Keynes), wurde rundweg bestritten. Jede Krise kšnne nur das Ergebnis von StrukturschwŠchen sein, die eine zu starke Regulierung, ein zu grosses wirtschaftliches Gewicht des Staates oder eine vom Staat beeinflusste, zu aktive Zentralbank verschuldet hŠtten.

Schliesslich sprachen sie dem Staat die FŠhigkeit ab, fŸr sozialen Ausgleich zu sorgen. Mit dem Marktfundamentalismus vereinbar sei ohnehin nur ein Einsatz fŸr gleiche Startchancen. Doch auch dagegen argumentierte Hayek: Die dafŸr nštige StŠrkung des Staates sei auf jeden Fall das gršssere †bel als die eigentlich wŸnschbare Chancengleichheit. Ausserdem wŸrde in einer Demokratie der Staat ohnehin nur die Interessen von organisierten Sonderinteressen vertreten.

Der Erfolg dieser Marktfundamentalisten war - was die Rhetorik der Eliten betrifft - in den letzten Jahrzehnten durchschlagend. In der škonomischen Wissenschaft rŠumte die Chicago-Schule mit Abstand die meisten Nobelpreise ab, natŸrlich gehšrten auch Hayek und Friedman zu den PreistrŠgern. Politisch begleitete diese Ideologie die konservative ÇRevolutionÈ der achtziger Jahre, mit ihren AushŠngeschildern Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Grossbritannien. Bei marktfundamentalistischen Experimenten wŠhrend der siebziger Jahre im Chile Pinochets zeigte sich neben der theoretischen auch die praktische Demokratiefeindlichkeit dieses Ansatzes besonders deutlich. Mit dem Zusammenbruch des Çrealexistierenden SozialismusÈ glaubten dessen VertreterInnen, einen definitiven Sieg errungen zu haben. Erst durch die Asienkrise ist diese Ideologie etwas ins Wanken geraten.

Keine Ÿbermenschlichen MŠchte

Der problematischste Erfolg der Marktfundamentalisten besteht darin, den šffentlichen škonomischen Diskurs trivialisiert zu haben. Begriffe wie ÇMarktÈ, ÇStaatÈ, ÇDeregulierungÈ, ÇPrivatisierungÈ, ÇGlobalisierungÈ oder ÇWachstumÈ haben in ihrem Repertoire eine eigene Bedeutung, sie gehšren zur Rechtfertigungsideologie bestehender Macht- und UnterdrŸckungsverhŠltnisse, indem sie quasi religišs aufgeladen werden. Sie erhalten die Bedeutung von Ÿbermenschlichen MŠchten, denen das Individuum hoffnungslos ausgeliefert ist (zum Beispiel ÇDer Markt diktiert ·È, ÇAngesichts der Globalisierung ist staatliches Handeln unmšglichÈ usw.). In den Begriffen selbst ist das aber nicht angelegt, sie sind ohne konkreten Zusammenhang inhaltsleer. Wer sie auf dieser allgemeinen und abstrakten Ebene verwendet, akzeptiert diese Sinngebung und lŠsst sich vom Marktfundamentalismus den Diskussionsrahmen diktieren, das kommt in der Linken noch zu oft vor: Diese Begriffe haben fŸr viele die Bedeutung von weniger materieller Sicherheit, mehr Konsumwahn, Umweltzerstšrung, Abstumpfung und vom Ende menschlicher SolidaritŠt. Dieser Schluss ist nur dann logisch, wenn die marktfundamentalistische Aufladung akzeptiert wird.

Das Problematische daran ist, einfach das Gegenteil von dem zu vertreten, wonach die Neoliberalen rufen: Mšglichst viel Staat und kein Markt, viel Regulierung, kein Wachstum und keine Globalisierung. Das sind keine falschen, sondern inhaltsleere Forderungen, weil schon die dahinter stehenden neoliberal besetzten Begriffe inhaltsleer sind.

Das Ziel der Linken sollten demokratische, integrationsfŠhige Gesellschaften sein, die allen - weltweit - gleiche Entwicklungschancen bieten und fŸr soziale Gerechtigkeit genauso sorgen wie fŸr škologische Nachhaltigkeit. Ob MŠrkte, Staat, Regulierung, Privatisierung, Globalisierung oder Wachstum dieses Ziel fšrdern, kann nur beurteilt werden, wenn klar ist, wie MŠrkte konkret ausgestaltet und reguliert sind, von welcher Staatsorganisation die Rede ist, was genau wie und unter welchen Rahmenbedingungen privatisiert wird, was globalisiert wird und unter welchen Regeln und schliesslich, was mit Wachstum gemessen wird und was nicht.

Die abstrakte Diskussion Ÿber mehr oder weniger Markt oder Staat, mehr oder weniger Regulierung bringt nichts, denn sie lenkt davon ab, die zwar komplizierteren, aber letztlich konkreten Mikro- und MakrozusammenhŠnge auf ihre VertrŠglichkeit mit dem eigentlichen Ziel zu untersuchen und zu beurteilen. Nur so kann dem Neoliberalismus neuester PrŠgung wirksam begegnet werden.

Dem Thema Krise der Marktideologie widmet sich ausfŸhrlich die neuste Ausgabe der SP-Zeitschrift fŸr Politik, Wirtschaft und Kultur ÇRote RevueÈ (1/1999). Neben den WoZ-AutorInnen Gertrud Ochsner, Gian Trepp und Markus B. Meier Šussern sich darin Serge Gaillard, Werner Vontobel und Carlo Knšpfel.