Weltwoche, 18.3.1999
Gibt es den dritten Weg?
Gerhard Schršder spielt den Modernisierer. Er hat nicht begriffen: Fortschritt durch Wachstum ist vorbei.
Von Johano Strasser
Als am Donnerstag letzter Woche Oskar Lafontaine
Ÿberraschend von allen seinen politischen €mtern zurŸcktrat, war der Tenor
der Kommentare ziemlich einhellig: der Çsozialdemokratische TraditionalistÈ
Lafontaine geht, die ÇModernisiererÈ um Gerhard Schršder gewinnen. Nun ist
die Einordnung Lafontaines unter die traditionalistischen Sozialdemokraten
schon absurd genug. Aber auch das Etikett ÇMondernisiererÈ ist irrefŸhrend.
Bisher jedenfalls bleiben die ÇModernisiererÈ zumeist die Antwort auf die
Frage schuldig, was denn eine moderne sozialdemokratische Politik ausmacht.
Anthony Giddens, dem man nachsagt, er habe das
Ohr des britischen Premiers Tony Blair, hat dazu kŸrzlich ein Buch unter dem
suggestiven Titel ÇDer dritte WegÈ vorgelegt. Eben dieses Buch wollte Gerhard
Schršder mit einer kleinen Rede just an jenem Tag der …ffentlichkeit vorstellen,
als Lafontaine das Handtuch warf und damit auch den Terminkalender des Bundeskanzlers
durcheinander brachte. Die ÇSŸddeutsche ZeitungÈ druckte Schršders nicht gehaltene
Rede zwei Tage spŠter leicht gekŸrzt ab. Nun bekam der Text plštzlich mehr
Gewicht, als ihm ursprŸnglich wohl zugestanden worden wŠre. Manche suchten
darin nach Signalen fŸr die erhoffte oder befŸrchtete programmatische Kurskorrektur.
Aber viel Konkretes fšrderten sie nicht zutage.
Vieles von dem, was Giddens an der alten Sozialdemokratie
kritisiert, so Schršder, hat die SPD schon 1959 mit dem Godesberger Programm
abgelegt. Das ist richtig. Im Ÿbrigen stimmt der Kanzler und designierte SPD-Vorsitzende
mit Giddens darin Ÿberein, dass ein Weg zur Erneuerung der sozialen Demokratie
gefunden werden mŸsse, jenseits von alter Sozialdemokratie und neoliberalem
Marktfundamentalismus. Der Sozialstaat mŸsse reformiert werden, eine ÇaktiveÈ
Sozialpolitik die Menschen zu selbstŠndiger LebensfŸhrung anhalten, statt
immer nur nachtrŠglich umzuverteilen. Gegen die Tendenzen der Ausschliessung
und einer Spaltung der Gesellschaft mŸsse ÇInklusionÈ die Parole sein, was
in erster Linie ÇZugang zu Arbeit und zum ArbeitsmarktÈ bedeute. Investitionen
in Humankapital gelte es zu fšrdern, die alte Risikoabsicherung sei durch
ÇChancen-Management" ab zu lšsen. Und dies alles im Konsens mit den Beteiligten.
Es ist anzunehmen, dass auch Oskar Lafontaine
diesen grundsŠtzlichen und daher auch relativ vagen AusfŸhrungen hŠtte zustimmen
kšnnen. Vielleicht hŠtte er nicht nur vom notwendigen Konsens, sondern auch
von der FŠhigkeit, Konflikte durchzustehen, gesprochen, vielleicht hŠtte er
die Notwendigkeit einer gerechteren Verteilung mehr in den Vordergrund gerŸckt
und sich die eine oder andere Bemerkung zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen
gestattet. Aber auf der abstrakten Ebene, auf der Schršder sich hier bewegt,
hŠtten sich wohl kaum tiefgreifende Differenzen aufgetan.
Dabei ist Schršders LektŸre des Giddens-Buches
selektiv. Interessant, dass Schršder mit keinem Wort auf die Ansicht Giddens«
eingeht, dass Çeine erneuerte Sozialdemokratie ... sich links von der Mitte
befindenÈ muss. Auch dass Giddens daran festhŠlt, dass ÇGleichheit und soziale
GerechtigkeitÈ nach wie vor fŸr eine linke Perspektive ÇgrundlegendÈ seien,
erwŠhnt er nicht. Und die AusfŸhrungen, die Giddens zu dem Problem macht,
an dem sich der deutsche Kanzler eigenen Aussagen zufolge messen lassen will,
dem der BekŠmpfung der Arbeitslosigkeit, Ÿbergeht er ebenfalls mit Schweigen.
In der BeschŠftigungspolitik setzt Giddens nŠmlich
vor allem auf Arbeitszeitmodelle, die Flexibilisierung mit ArbeitszeitverkŸrzung
verbinden. Auf sozial- und arbeitsrechtlich abgesicherte Teilzeitarbeit. Auf
Modelle der ÇBŸrgerarbeitÈ, wie sie in letzter Zeit zum Beispiel von Jeremy
Rifkin und Ulrich Beck empfohlen werden. Und auf eine Bildungsoffensive, die
junge Menschen besser auf die schnell wechselnden Anforderungen von morgen
vorbereitet. Damit verglichen ist das, was die Regierung Schršder bisher vorzuweisen
hat, ausgesprochen traditionell und einfallslos.
Auch sonst haben der ÇModernisiererÈ Schršder
und der ÇModernisiererÈ Giddens wenig gemein. †ber das, was Giddens ÇPolitik
der LebensfŸhrungÈ nennt, verliert Schršder kein Wort, obwohl laut Giddens
diese Seite der Politik ein wesentlicher Teil jeder modernen sozialdemokratischen
Strategie zu sein hat. Die ÇPolitik der LebensfŸhrungÈ, so Giddens, hat Antworten
zu geben etwa auf die Fragen: ÇWie sollen wir uns angesichts der Hypothese
der ErderwŠrmung verhalten? Sollen wir die Atomenergie akzeptieren oder nicht?
Inwieweit soll Arbeit das Zentrum des menschlichen Lebens bleiben? Sollen
wir uns fŸr Dezentralisierung und Machtverlagerung einsetzen? Wie soll die
Zukunft der EuropŠischen Union aussehen?È
Den Grossteil dieser Fragen, so scheint es, mšchte
Schršder am liebsten ganz den GrŸnen zuschieben, weil sie das VerhŠltnis der
Sozialdemokratie zu den Verwaltern eines škonomistisch verengten Fortschritts
- im Unternehmerlager wie auf Gewerkschaftsseite -belasten kšnnten. Bisher
jedenfalls ist nicht zu erkennen, dass der ÇModernisiererÈ Schršder begriffen
hat, dass die traditionalistische Vorstellung eines linearen, auf Wachstum
beruhenden Fortschritts nicht mehr funktioniert.
Es genŸgt eben nicht, ein paar neugeprŠgte oder
von anderen Ÿbernommene Begriffe in die Debatte zu werfen. Worauf es ankommt,
ist, die verŠnderte RealitŠt wahrzunehmen und nicht weiter Illusionen anzuhŠngen,
auch nicht solchen, die sich mit der Aura der ModernitŠt umgeben. An erster
Stelle hiesse dies, die Illusion aufzugeben, dass sich durch Verbesserung
der ÇStandortbedingungenÈ und durch energische Wachstumsfšrderung doch noch
einmal so etwas wie VollbeschŠftigung alten Stils herstellen liesse.
Erst wenn man die alten arbeitsgesellschaftlichen
Dogmen hinter sich gelassen hat, wenn man sich illusionslos der Tatsache stellt,
dass das Marktsystem VollbeschŠftigung nie mehr wird bieten kšnnen, kommt
man zu den interessanten Fragen.
Die lauten dann zum Beispiel:
- Wie kšnnen die verschiedenen Formen der ArbeitszeitverkŸrzung
(VerkŸrzung der Wochen- und Tagesarbeitszeit, Abbau von †berstunden, Sabatjahre,
Teilzeitarbeit, Ausweitung der Weiterbildungsmšglichkeiten) zur gerechteren
Verteilung der immer knapperen Lohnarbeit beitragen?
- Wie kann auf dieser Basis die Nichterwerbsarbeit,
vor allem Erziehung und Haushalt, zwischen den Geschlechtern gerechter verteilt
werden?
- Welche Rolle kšnnen in Zukunft Eigenarbeit,
Nachbarschaftshilfe, ÇBŸrgerarbeitÈ, Formen der Tauschwirtschaft als Einkommensquellen
spielen? Fšrdern sie den Lebenssinn?
- Welches sind die Qualifikationen, die die Menschen
in Zukunft brauchen, wenn die alten Berufsbilder zerbrechen und der lebenslang
praktizierte Beruf zur Ausnahme wird?
- Wie muss das soziale Sicherungssystem umgebaut
werden, wenn die Voraussetzung eines ÇnormalenÈ Erwerbslebens nicht mehr haltbar
ist?
- Kann die Beteiligung am Produktivvermšgen fŸr
ausbleibende oder zu geringe Lohn- und Gehaltssteigerungen entschŠdigen?
Moderne
Floskeln, alte Politik
Bisher haben sich die sozialdemokratischen Parteien
noch kaum ernsthaft mit diesen Fragen befasst. Fast Ÿberall begnŸgt man sich
mit ein paar modernistischen Floskeln und vagen AbsichtserklŠrungen, denen
selten konkrete politische Reformschritte folgen. So auch Schršder, wenn er
sich, die Terminologie von Giddens aufgreifend, fŸr Çeinen Umbau des Sozialstaats
zu einem Staat der aktiven WohlfahrtÈ ausspricht. Wie vertrŠgt sich eine solche
Orientierung auf Hilfe zur Selbsthilfe damit, dass die Bundesregierung munter
weiter auf FrŸhverrentung setzt, statt die Mšglichkeiten der Altersteilzeit
auszubauen? Wo sind die Ideen und AnsŠtze zu einer Politik, die der vorbeugenden
Sozialpolitik angemessene Beachtung schenkt und selbstorganisierte Problemlšsungen
begŸnstigt? Wo bleibt die Beteiligung der Arbeitnehmer an den VermšgenszuwŠchsen
der Unternehmen, wenn schon aus GrŸnden der verschŠrften globalen Konkurrenz
reale Lohnsteigerungen ausbleiben und die Sozialleistungen sinken?
Der von RenŽ Cuperus und Johannes Kandel kŸrzlich
herausgegebene Band ÇEuropean Social Democracy, Transformation in ProgressÈ
macht einen ersten Versuch, die sozialdemokratischen Parteien zu einer Diskussion
Ÿber die richtige Strategie zusammenzufŸhren. Aber auf die Politik der Regierungen
wirken sich solche Initiativen bisher so gut wie gar nicht aus, obwohl die
Notwendigkeit, die Politiken der einzelnen LŠnder der EuropŠischen Union besser
aufeinander abzustimmen, Ÿberall anerkannt wird.
Hier
liegt vielleicht der Punkt, an dem das Fehlen Lafontaines sich am schmerzhaftesten
bemerkbar machen wird. Er war im deutschen Kabinett derjenige, der am nachdrŸcklichsten
die europaweite Kooperation in der Regierungsarbeit von Sozialdemokraten einklagte.
Nun ist in der Regierung Schršder fŸr diese Aufgabe allein ein Staatsminister
im Kanzleramt zustŠndig, von dem bekannt ist, dass er sich mehr fŸr werbewirksame
Slogans als fŸr programmatische Konzepte
interessiert.
Es ist schwer vorstellbar, dass ausgerechnet unter Bodo Hombachs €gide sich
das programmatische Profil der europŠischen Sozialdemokratie schŠrfen wird.
Und dass ein SPD-Vorsitzender Schršder von sich aus Anstrengungen unternimmt,
das Programm der Partei im Dialog mit den Schwesterparteien weiterzuentwickeln,
ist leider auch nicht wahrscheinlich. Bleibt die Chance, dass die Partei selbst,
von Ortsverein zu Ortsverein, sich dieser Aufgabe annimmt, wie dies schon
in den siebziger und achtziger Jahren der Fall war.
Rosa Europa
Die
objektiven Voraussetzungen fŸr die Sozialdemokratie, der EU ihren Stempel
aufzudrŸcken, waren noch nie so gŸnstig wie heute. In allen wichtigen MitgliedslŠndern
stellen Sozialdemokraten die Regierung, in vielen anderen sind sie an der
Regierung beteiligt. Um so erstaunlicher, wie wenig sie bisher aus dieser
Konstellation gemacht haben. Dass es Interessenunterschiede gibt und jede
Regierung sich letzten Endes vor ihrer nationalen WŠhlerschaft behaupten muss,
reicht als ErklŠrung nicht aus. Auch fehlt es nicht an der Einsicht, dass
Regieren in Zukunft nur noch erfolgreich sein kann, wenn die Partner ihre
Strategien aufeinander abstimmen oder sich zumindest darauf einigen, die Anstrengungen
des jeweils anderen nicht zu behindern.
Das
Problem ist offenbar, dass niemand so recht weiss, wohin die Reise in Europa
gehen soll. In all den werbewirksam inszenierten Schlachten zwischen ÇTraditionalistenÈ
und ÇModernisierernÈ ist bisher nicht deutlich geworden, mit welcher Reformstrategie
die Sozialdemokratie ins 21. Jahrhundert gehen soll. Dass man sich Ÿberhaupt
wechselseitig zur Kenntnis nimmt, dass insbesondere die britischen Sozialdemokraten,
die lange Zeit in Isolation verharrten, sich auf Europa zu bewegen, ist sicher
ein Fortschritt. Nun aber kommt es darauf an, Ÿber die vage †bereinstimmung
im politischen Vokabular und in rhetorischen Gesten hinaus sich darauf zu
einigen, wie ein modernes, von sozialdemokratischen Grundwerten geprŠgtes
Europa aussehen kann - und die praktische Regierungsarbeit an diesem Ziel
auszurichten.
Johano
Strasser ist †bersetzer, Sozialwissenschaftler und Romancier. Er ist Mitglied
der Grundwertekommission der SPD und Verfasser des Buches "Wenn der Arbeitsgesellschaft
die Arbeit ausgeht". Pendo Verlag.