TA, 8.1.2001

 


 

Von Westen her drohen heftige Gewitter

Der linke Binnenstreit um die Strommarktliberalisierung spiegelt die wachsenden Spannungen zwischen welscher und Deutschschweizer Sozialdemokratie. Die Parteispitze reagiert hilflos.

Von Jean-Martin Büttner, Bern

 

Das Vokabular lässt einen Ultraliberalen vermuten, der über einen Altkommunisten herzieht. Und nicht den Basler SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner, der seinen Waadtländer Parteikollegen Pierre-Yves Maillard einteilt. Dieser sei "ein Leninist", sagt Rechsteiner, ein "Ideologe", der "vor allem Nein sagt", im Grunde aber "keine Antworten hat" und nur "Heimatschutz für seine linke Klientel betreibt".

Maillard wiederum fragt sich laut, ob sein werter Kollege "je schon über die Universität hinausgedacht" und sich an der wirtschaftlichen Realität orientiert habe. Und ob er denn nicht merke, dass er und alle anderen angeblichen Modernisierer sich zu Agenten jener machen, die sie zu bekämpfen vorgäben, kurz: ob die sozialdemokratischen Werte, an denen die Westschweizer Linke festhalte, von manchen Deutschschweizern nicht unbedacht aufgegeben würden.

Wachsende Kulturkonflikte

Was die beiden auseinander bringt, spaltet auch ihre Partei in einem Konflikt, der nach Ansicht des Politologen Alexandre Marithoz immer heftiger wird und den SP-Fraktionschef Franco Cavalli "sehr ernst" nimmt. Umso mehr, als die Konfliktlinie entlang der Sprachgrenze verläuft und zu bestätigen scheint, was er für eine "Belgisierung der Schweiz" hält; auch in Belgien, sagt Cavalli, sei die Spaltung zuerst durch die Parteien gegangen.

Die Letzte von vielen Differenzen betrifft die Liberalisierung des schweizerischen Strommarktes, die das Parlament im Dezember verabschiedet hat. Das Elektrizitätsmarktgesetz wurde von den meisten grünen und linken Parlamentariern der Deutschschweiz mitgetragen, weil man so erstens Teile der Solar-Initiative nachträglich zu realisieren hofft und zweitens, sagt Rechsteiner, "die Atomlobby nur in einem Monopol überleben kann und deshalb kein Interesse an einer Liberalisierung hat".

Dasselbe Gesetz wird von den Westschweizer Parteimitgliedern bekämpft, weil es, sagt Maillard, "die Strommarktriesen bevorzugt, die Strommarktpreise erhöhen und zu Versorgungsengpässen führen wird". Am Donnerstag will die "Alliance de gauche", die Genfer Linksaussen-Koalition, formell das Referendum beschliessen. Maillard geht davon aus, dass die welschen Kantonalparteien von SP und Grünen und ein Teil der Gewerkschaften sie unterstützen werden.

In solchen Divergenzen, zu denen auch die Frage der Swisscom-Liberalisierung und die Revision des Militärgesetzes gehören, spiegeln sich die soziologischen Unterschiede innerhalb der Partei. Die Westschweizer Linke politisiert unter dem Einfluss ehemaliger Trotzkisten und dem Druck linker Parteien wie der PdA oder der linken Allianz etatistischer. Sie kämpft für eine starke Gesundheits- und Sozialpolitik, schreckt nicht vor hohen Staatsdefiziten zurück und bleibt der Subventionsmentalität verhaftet. Dafür wird sie weiterhin von der Arbeiterschaft, aber auch von Lehrern und Beamten unterstützt. Pierre-Yves Maillard, der seinen Lehrerberuf aufgegeben und sich ganz der Politik zugewandt hat, ist in kurzer Zeit zu einer zentralen Figur der welschen SP aufgestiegen. Seine Rhetorik, sagt sein Genfer Parteikollege Jean-Daniel Delley spöttisch, erinnere ihn ausgerechnet an Christoph Blocher: "Beide sind populistische, charismatische Nostalgiker, die ihren Anhängern erzählen, dass früher alles viel besser war."

Im Gegenzug öffnete sich das Gros der Deutschschweizer Sozialdemokratie nach 1968 und unter deutschem Einfluss für gesellschaftspolitische Fragen der Mittelklasse: Ökologie, Feminismus, Multikulturalität. Doch dieser "moderne Funktionalismus", kritisiert der Lausanner Historiker Hans-Ulrich Jost, "hat kein Programm und auch kein intellektuelles Profil". Ausserdem hätten seine Vertreter die Anliegen der Arbeiterschaft vernachlässigt und damit Letztere der SVP zugetrieben. In der Westschweiz kommt die radikale Opposition von links, in der Deutschschweiz von rechts.

Kulturkonflikt auch bei anderen

Die Binnenspannungen der Partei sind also nicht neu. "Die SP ist ein Basar", sagt der ehemalige SP-Präsident Peter Bodenmann; die Partei habe schon immer mit solchen Meinungsdifferenzen funktioniert und sie auch ausgetragen. Im Übrigen geht der kulturelle Riss auch durch die übrigen Parteien und manifestiert sich in neuralgischen Abstimmungen zur Militär-, Sozial- und Aussenpolitik. Noch im November unterstützte die Westschweiz die Halbierung der Militärausgaben und die grüne AHV-Initiative geschlossen und wollte auch den Beamtenstatus mehrheitlich aufrechterhalten; die Deutschschweiz lehnte alle Vorlagen ab.

Auffallend ist aber, dass die kulturellen Spannungen innerhalb der Linken stärker werden, wobei die welsche SP-Fraktion von der Unterstützung vieler Deutschschweizer Gewerkschafter profitiert. Beide fühlen sich vom Liberalisierungskurs verunsichert, beide hat der erbitterte Personenstreit um Ursula Koch zermürbt, beide sehnen sich nach klaren, traditionellen Positionen zurück, die Maillard und andere ihnen anbieten.

Heute werde seine Partei, sagt Franco Cavalli, von drei konkurrierenden Kräften bestimmt: den welschen Etatisten und Gewerkschaften; den marktorientierten Deutschschweizer Sozialdemokraten - und der Scharniergruppe um die ehemaligen Bodenmann-Gefährten.

Vage Rezepte der Führung

Bodenmann selbst sieht die kulturellen Spannungen der Partei bestenfalls als Symptom, dessen Ursache er in den fehlenden Konzepten, der mangelnden taktischen Arbeit der Parteiführung ortet. Dazu passt, dass diese selbst gespalten ist. Beim neuen Strommarktgesetz etwa enthielten sich die Präsidentin und der Fraktionschef der Stimme, Vizepräsidentin Christine Goll lehnte das neue Gesetz ab, ihr Amtskollege Hans-Jürg Fehr stimmte ihm zu.

Kein Wunder, dass die SP-Spitze hilflos auf die wachsenden kulturellen Differenzen reagiert. "Die Welschen denken zu sehr aus der Vergangenheit heraus, viele Deutschschweizer zu weit in die Zukunft hinein", sagt Generalsekretär Reto Gamma. Aber auch er hat kein Rezept, um die Fraktionen einander anzunähern. Vage werden Aussprachen und Retraiten in Aussicht gestellt; in den Gesprächen wird deutlich, dass man den Konflikt zwar ernst nimmt, sich aber darauf beschränkt, ihn möglich transparent auszutragen. Jean-Daniel Delley sieht im welschen Protest auch eine Chance: "Vielleicht müssen die Deutschschweizer Modernisierer zur Kenntnis nehmen", sagt er, "dass sie ihre Reformen nicht ohne Einsicht und Unterstützung der Basis durchführen können."


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