TA, 14.7.2000
Ein
StreitgesprŠch zwischen dem Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Blo-
cher und dem Tessiner SP-Fraktionschef Franco Cavalli zu Faschismus
und Sozialismus - und zur Frage, ob die Sozialdemokraten immer noch
darauf hinarbeiten, den Kapitalismus zu überwinden.
Franco Cavalli,
Ihre Partei wird von Christoph Blocher heftig kritisiert. In seiner
Streitschrift "Freiheit statt Sozialismus" wiederholt er seine Faschismusvorwürfe
an die SP. Und in der Sommersession, nach den Bundesrichterwahlen, hat er
Ihre
šffentlichen Kommentare zu zwei SVP-Kandidaten sehr scharf verurteilt. Nehmen
Sie solche Anwürfe politisch oder persšnlich?
Franco
Cavalli: Ich behaupte von mir, tolerant zu sein
und die Diskussion nicht zu
personalisieren. Es passiert sehr selten, dass ich mich persšnlich getroffen
fühle.
Aber als Herr Blocher und SVP-Fraktionschef Walter Frey mich in der Bundesver-
sammlung so angegriffen haben, habe ich mich persšnlich getroffen gefühlt
in einer
Weise, die ich nicht akzeptieren kann.
Christoph Blocher,
Ihre Kritik war tatsŠchlich heftig, auch Herrn Cavalli gegenüber.
Geht es Ihnen um Politik, oder spielt Persšnliches mit hinein?
Christoph
Blocher: Politik hat immer auch mit Personen zu tun. Sie ist nicht nur
Sache des Verstandes, sondern auch der Emotionen, das ist auch gar nicht schlimm.
Das Vorgehen von Herrn Cavalli bei der Bundesrichterwahl erfüllte mich
mit Wut,
das sage ich offen. Und ich habe das Vorgehen als absolutistisch verurteilt,
typisch
für die politische Geisteshaltung der SP. Aber warum denn diese Verletztheit?
Was
teilte denn die SP alles aus, beispielsweise auf die Wahlen hin und vor der
Bundes-
ratswahl? Aber das darf auch sein. Doch selbst wenn ich wütend war auf
Herrn Ca-
valli, auch wenn ich seine politische Grundhaltung verurteile, ist er für
mich kein Feind.
Immerhin haben Sie ihn uns gegenüber als Stalinisten bezeichnet.
Blocher:
Jawohl, Franco Cavalli ist Marxist, und Stalin
hat den Marxismus vollzogen;
Karl Marx hat dazu die philosophische Grundlage geliefert. Es musste zur Katastro-
phe kommen, denn das Kennzeichen des Marxismus ist, das Kollektive über
das In-
dividuum zu stellen. Die Reaktionen von Herrn Cavalli auf meine Streitschrift,
seine
angedrohte Strafklage, der GesprŠchsboykott seiner Partei, die Aufforderung
zur
kollektiven Entschuldigung, die Diffamierungskampagne gegen unseren Bundes-
gerichtskandidaten, den er im Zusammenhang mit dem Grossvater seiner Frau
in
Sippenhaft nahm š das alles halte ich für ein stalinistisches Vorgehen.
Herr Cavalli
nimmt für sich in Anspruch, tolerant zu sein, aber gerade das ist er
nicht. Toleranz gilt
nicht nur der eigenen Meinung gegenüber.
Cavalli:
Ich halte Sippenhaft für abscheulich und weise
den Vorwurf in aller Form zu-
rück. Ich habe nie gegen die Bundesgerichtskandidaten der SVP intrigiert.
Was den
Marxismus betrifft, so habe ich mich nie als Marxisten bezeichnet. Es gibt
einige
grosse Denker, die meinen intellektuellen Werdegang beeinflusst haben, darunter
Marx, Darwin oder Freud. Marx hat Prozesse beschrieben, die heute Allgemeingut
sind, sogar in den Reden von Christoph Blocher. Wenn dieser zum Beispiel seinen
Gegnern vorwirft, nur ihre Interessen zu vertreten, dann nimmt er eine marxistische
Erkenntnis auf. Marx war der Erste, der sagte, die Politik sei nichts anderes
als ein
Kampf gegensŠtzlicher Interessen. Also anerkenne ich Marxens Einfluss. Aber
ich
war nie Mitglied einer kommunistischen Partei, und hŠtte ich in der Sowjetunion
un-
ter Stalin leben müssen, wŠre ich mit meinem frechen Mundwerk hšchstwahrschein-
lich in einen Gulag gesteckt worden. Blochers intellektueller Fehler liegt
in seiner Be-
hauptung, Stalin habe nur ausgeführt, was Marx gefordert hatte. Doch Marx
dachte
libertŠr und sagte, letzten Endes müssen wir den Staat abschaffen. Für
mich stellt der
Stalinismus, kurz gesagt, eine autoritŠre und diktatorische Entartung des
sozialisti-
schen Gedankens dar, genauso wie der Faschismus eine totalitŠre und diktatorische
Entartung des Kapitalismus ist. Von diesen ZusammenhŠngen müsste man
ausge-
hen, und von diesen ZusammenhŠngen schweigt Christoph Blochers Schrift.
Blocher:
Sicher wŠre es eine Unterschiebung zu behaupten,
Karl Marx habe das
erreichen wollen, was Stalin spŠter angerichtet hat. Aber die Philosophie
des Mar-
xismus hat dorthin geführt. Genauso wie der Nationalsozialismus von seiner
Lehre
her zum Absolutismus führen muss, das ist gar nicht anders mšglich. Dasselbe
gilt
auch für den Sozialismus, jedenfalls wenn er absolut in die Praxis umgesetzt
wird.
Der Liberalismus dagegen lehnt das Absolute ab - und zwar aus Prinzip, auch
das
Verabsolutieren des Richtigen. Dass Menschen ihre eigenen Interessen vertreten,
war schon immer so, dazu brauche ich nicht Marx zu lesen, das ist nicht das
Entschei-
dende an seiner Lehre. Sein Ziel war ganz klar die berwindung des Kapitalismus,
also die Abschaffung der freien Marktwirtschaft und des Privateigentums. Das
wollte
er überwunden haben, und interessanterweise steht dieser Satz im heute noch
gülti-
gen Parteiprogramm der schweizerischen Sozialdemokraten von 1982. Und auch
wenn sie ihn nicht besonders ernst nehmen mšgen, halte ich fest: Die SP hat
bis
heute nicht die Kraft gehabt, diesen Satz aus ihrem Parteiprogramm zu streichen;
moderne sozialdemokratische Parteien in anderen LŠndern haben sich davon distan-
ziert.
Cavalli:
Typisch, wie Sie mit verschiedenen Begriffen um sich werfen, ohne Sie rich-
tig zu definieren; so wird das Ganze všllig irrational. ZunŠchst: Marx hat
vor allem eine
wissenschaftliche Methodologie entwickelt, wie man die kapitalistische Gesellschaft
untersucht. Er hat diese Untersuchung geführt und dabei verschiedene GesetzmŠs-
sigkeiten dieser Gesellschaft beschrieben. So unter anderem die Entwicklung
von
der Sklaverei über die Feudalgesellschaft zur kapitalistischen Gesellschaft
hin zu ei-
ner sozialistischen Gesellschaft. Aber was für eine? Es ist fast lŠcherlich,
wie zerstri-
tten die sozialistischen Bewegungen immer gewesen sind. Es gibt keine absolute
Lehre, ganz im Gegensatz zum Faschismus. Die skandinavische Sozialdemokratie
hat ein ganz anderes Gesellschaftsmodell aufgebaut als der sowjetische Stalinismus;
und auch sie beruft sich auf Marx.
Herr
Cavalli, will die SP Schweiz nun den Kapitalismus überwinden oder nicht?
Cavalli:
Das Wesen des Kapitalismus ist die stetige Vermehrung
des Kapitals; Pri-
vateigentum und Marktwirtschaft hat es schon vorher gegeben. Wie viel Marktwirt-
schaft mšglich ist in einer Gesellschaft, in der das Kapital nicht mehr vorherrschend
ist, wird von Sozialisten seit jeher diskutiert. So gesehen spielt dieser
Satz für uns
derzeit keine Rolle.
Blocher: Warum streichen Sie ihn dann nicht?
Cavalli:
Weil die Mehrheit der SP-Mitglieder diesen Satz
immer noch als utopische
Vision des Sozialismus empfindet - genau wie die Christen an den Himmel glauben.
Was der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama behauptet hat,
dass nŠmlich der Kapitalismus die letzte gesellschaftliche Entwicklung darstelle,
ist
pure ideologische Verblendung. Ich denke, dass sich noch andere Gesellschaftsmo-
delle entwickeln werden, warum nicht ein genossenschaftlicher Sozialismus?
So ge-
sehen stšrt mich dieser Satz nicht; er hat auch keinen Einfluss auf unsere
jetzige Poli-
tik.
Blocher:
Herr Cavalli, Sie versuchen sich herauszureden.
Sie haben erklŠrt, dass
die Mehrheit in Ihrer Partei nach wie vor von der berwindung des Kapitalismus
trŠumt. Damit wollen Sie letztlich die Aufhebung von Privateigentum und Marktwirt-
schaft. Darum haben die sozialistischen LŠnder, und nicht nur die stalinistischen,
das
Privateigentum aufgehoben und verstaatlicht. Und auch die Schweizer Sozialdemo-
kraten haben für dieses Vorgehen grosse Bewunderung gehabt. Man darf jetzt
nicht
so tun, als sei das irgendeine NebensŠchlichkeit. Dass die Planwirtschaft
als Alter-
native zur Marktwirtschaft nicht funktioniert hat, ist wahrscheinlich auch
der Grund,
weshalb die meisten westlichen Sozialdemokratien davon Abschied genommen
und erkannt haben: Es kann nicht unser Ziel sein, den Kapitalismus zu überwinden.
Denn erst der Liberalismus garantiert das individuelle Recht auf Privateigentum
so-
wie die Handels- und Gewerbefreiheit für alle.
Cavalli:
Ein extremer Neoliberalismus, wie ihn Herr Blocher verteidigt, ist fast nur
in
einer Diktatur wie in Chile durchsetzbar. Und dass der erste grosse Versuch,
schnell
und radikal den Kapitalismus zu überwinden, in Russland gescheitert ist, hat
mit der
extremen RückstŠndigkeit dieses riesigen Landes zu tun, ein Land, das die
Demo-
kratie nie gekannt hatte und bis heute nicht kennt, ein Agrarland fast ohne
Industrie,
ohne Erfahrungen mit Kapitalismus und Liberalismus. Schon Marx hat anerkannt,
dass der Kapitalismus im Vergleich zum Feudalismus einen riesigen Fortschritt
dar-
stellte. Nur hšren wir nicht auf zu glauben, dass noch etwas Besseres kommt.
Blocher:
Herr Cavalli, ich mšchte Sie bitten, sauber zu
denken. Erstens wurde an
Ihrem Parteitag für diesen Programmpunkt gekŠmpft, der Satz war keine Nebensa-
che. Zweitens bleibt die berwindung des Kapitalismus Ihr Ziel, weil viele
SP-Mit-
glieder gar nicht auf dieses Ziel verzichten wollen. Und das werfe ich Ihnen
vor; denn
die Verwirklichung führt zum Absolutismus und zur Armut. Beides beweist die
Ge-
schichte.
Immerhin
kann man bei Marx nachlesen, dass diese berwindung nur mšglich
sei, wenn eine Mehrheit diese auch wolle.
Blocher:
Selbst wenn die Mehrheit das demokratisch bestimmen
würde, ist das ab-
solutistisch. Wenn Sie kein Privateigentum zulassen und keine Marktwirtschaft,
dann
steht das Kollektiv dermassen im Mittelpunkt, dass der Einzelne missachtet
wird. Es
ist mein Anliegen, das auszudrücken, weil Sie, Herr Cavalli, das nicht wahrhaben
wollen.
Im
Grunde sprechen Sie der SP rundweg ab, eine demokratisch gesinnte Partei zu
sein.
Blocher:
Nein, aber ich stelle fest: Die SP grundsŠtzlich
zu kritisieren, wie ich das in
meiner Schrift getan habe, kommt offenbar einer GotteslŠsterung gleich: Links
ist so
gut, dass man es auch absolutistisch durchsetzen darf.
Cavalli:
Die sozialdemokratische Idee ist es gerade, eine
Politik im Interesse der
Mehrheit zu machen. Weil wir behaupten, dass der Kapitalismus in seinen extremen
Formen nur dem Interesse einer kleinen Minderheit dient und alle anderen weltweit
verarmen lŠsst. Wir wollen auch nicht, dass š wie heute - die 380 reichsten
MŠnner
der Welt, zu denen auch Herr Blocher gehšrt, genauso viel haben wie die HŠlfte
der
übrigen Menschheit. Das finden wir nicht zulŠssig. Das heisst doch nicht,
dass wir
den Leuten das Haus wegnehmen wollen oder das Auto.
Blocher: Mit Ihrer Steuerpolitik tun Sie es weitgehend.
Cavalli:
Lassen Sie mich ausreden. Wir sind weder für noch
gegen das Privateigen-
tum und die Marktwirtschaft. Wir sagen nur: Wenn wir eine Gesellschaft wollen,
in der
so viele Menschen wie mšglich die gleichen Chancen haben sollen, dann gibt
es ge-
sellschaftliche Bereiche, in denen der Markt sehr gut funktioniert. Und eben
andere,
wo er überhaupt nichts taugt - etwa im Gesundheitswesen, aber auch in der
Bildungs-
politik. Also muss die Frage lauten: Welches Modell funktioniert am besten
im Inter-
esse der Mehrheit der Bevšlkerung? Und noch etwas zum Privateigentum: Sie
be-
haupten immer, sowohl die Sozialisten wie die Nationalsozialisten hŠtten das
Privat-
eigentum verstaatlicht. Der Faschismus hat das Privateigentum nie beschrŠnken
wollen. Er hat der Grossindustrie vielmehr Sklaven zur Verfügung gestellt.
Er hat alles
getan im Interesse der Privatwirtschaft.
Blocher: Der Faschismus hat das Privateigentum nicht respektiert.
Cavalli:
Ach
was!
Blocher:
Warten Sie. Das Privateigentum ist ein Schutz des
Einzelnen vor der Ent-
eignung durch den Staat. Der Faschismus hat ganzen Bevšlkerungsgruppen, etwa
den Juden oder den Regimegegnern, das Eigentum weggenommen.
In
keinem Programm der NSDAP wird das Privateigentum in Frage gestellt, im
Gegenteil. Und dass die Juden enteignet wurden, hat nichts mit Sozialismus
und
alles mit Antisemitismus zu tun.
Blocher:
Tatsache ist, dass die Nationalsozialisten das
Privateigentum nicht für
alle geschützt und garantiert haben. Und der Sozialismus hat das Eigentum
allen
weggenommen. Was jetzt schlimmer ist, lassen wir beiseite. Ausserdem haben
bei-
de Systeme MeinungsŠusserungsfreiheit und Gedankenfreiheit unterdrückt. Und
sie
haben unvorstellbar gemordet. Auch darüber gibt es nichts zu diskutieren.
Die gei-
stigen Wurzeln beider Systeme führen zum Absolutismus; darum geht es mir.
Der
Nationalsozialismus ist zum Glück diskreditiert bis zum Letzten; aber der
Sozialis-
mus bleibt hoch im Kurs.
Cavalli:
Faschismus und Sozialismus lassen sich ganz einfach
auseinander halten:
Der Faschismus zeichnet sich dadurch aus, dass eine kleine herrschende Schicht
mit Gewalt ihre Macht verteidigt. In allen LŠndern, die faschistisch geworden
sind, in
Deutschland, Italien, Spanien, gelang dies nur, wenn die wirtschaftlich führenden
Kreise, kurz: das Grosskapital, das gewollt haben. Darum stellte der Faschismus
das Privateigentum eben gerade nicht in Frage. Das hŠtten diese Kreise nie
und
nimmer akzeptiert.
Wahr
ist aber auch, dass die SP sich offiziell sehr zurückhaltend über die kommu-
nistischen Regimes im Osten Šusserte. Die Dissidenten dieser LŠnder wurden
konsequent ignoriert.
Cavalli:
Im Rückblick ist diese Kritik sicher berechtigt.
Aber man muss auch verste-
hen, in welchem Kontext es zu diesen braven Verlautbarungen kam: Es herrschte
der Kalte Krieg, man befürchtete die atomare Katastrophe. Daher war uns jedes
Mittel recht, etwas zur Entspannung beizutragen. Und ich denke, das war auch
všllig
richtig, man musste die VerstŠndigung fšrdern.
Blocher:
Es geht hier nicht um VerstŠndigung, sondern um
die Bewunderung für
diese Unrechtsregimes. Sie rechtfertigen alles.
Cavalli:
berhaupt nicht. Ich will es bloss erklŠren. Zum
zweiten Punkt: Es gab zwei-
erlei Dissidenten. Die einen waren gute Demokraten, andere aber š das sehen
wir
jetzt, gerade im Osten - waren schlicht Nationalisten, ReaktionŠre, die den
Zar zu-
rückholen wollten. Es war damals nicht so einfach, die Lage richtig einzuschŠtzen.
Ûhnliches gilt übrigens selbst für die Sowjetunion. Zum Beispiel die Befreiungskrie-
ge in der Dritten Welt: Ohne die Unterstützung der UdSSR hŠtten viele antikoloniale
Bewegungen doch keine Chance bekommen, und viele Všlker hŠtten sich nie eman-
zipiert.
Blocher: Die Sowjetunion unterstützte sie aus reinen Machtinteressen.
Cavalli:
SelbstverstŠndlich. Dennoch kann man das Ergebnis
dieser Politik nicht
einfach leugnen.
Oft
geschah dies unter entsetzlichen UmstŠnden. Warum sagt die Linke nicht: Wir
haben die kommunistische Unterdrückung nicht sehen wollen, und das war ein
grosser Fehler?
Cavalli:
Ich mšchte nur daran erinnern, warum so viele Linke,
aber auch fortschrittli-
che Bürgerliche, StaatsmŠnner wie Roosevelt und andere, gerade die Sowjetunion
zunŠchst ganz anders betrachtet haben. Selbst unter Stalin: Als dieser Diktator
es
in den Zwanzigerjahren fertig brachte, sein Land, ein rückstŠndiges armes
Land, in-
nert fünfzehn Jahren zu industrialisieren, waren sehr viele Menschen im Westen
tief
beeindruckt. Von den Massenmorden wussten sie nichts.
Das erinnert fatal an die Aussage, Hitler habe immerhin gute Autobahnen gebaut.
Cavalli:
Nein, es geht nicht um
Autobahnen, sondern um die Geschichte. Und die
Geschichte hat eben gezeigt, dass jede Industrialisierung Opfer gefordert
hat, auch
im England des 18. und 19. Jahrhunderts.
Blocher: Es ist unertrŠglich, wie Sie die kommunistischen GrŠueltaten verherrlichen.
Cavalli:
Unsinn. Ich verherrliche überhaupt nichts. Ich
versuche bloss zu erklŠren,
warum die Linke auf einem Auge blind war. Und wie gesagt: nicht allein die
Linke.
Aber
wenn ein Bürgerlicher heute die neoliberalen Reformen unter Pinochet in
Chile lobt, hielten Sie dies für ebenso unertrŠglich.
Cavalli:
Auch hier würde ich Ethik und Geschichte unterscheiden.
Ich habe linke
Freunde, die bei der Weltbank arbeiten. Die sagen mir: Pinochet war ein Metzger,
keine Frage. Aber er hat, verdammt noch mal, wirtschaftlich etwas zu Stande
ge-
bracht. Und Chile ist diesbezüglich weiter als manch anderes lateinamerikanische
Land.
Herr
Blocher, wir schreiben das Jahr 2000. Was haben Stalin, Mussolini und Hitler
mit der aktuellen politischen Debatte zu tun?
Blocher:
Sehr viel. Meine Schrift ist eine Auseinandersetzung
mit dem Sozialismus.
Ûusserer Anlass waren die dauernden Vorwürfe der SP, die SVP habe irgendetwas
mit faschistischen Stršmungen gemein. Der Grund der Schrift ist aber ein anderer:
Ich mšchte die Grundfrage stellen: ob unser Staat sozialistisch oder freiheitlich
sein
soll. Ich kšnnte auch liberal sagen, aber dieser Begriff ist so abgedroschen:
Alle sind
liberal, die SP, die Berner SVP und so weiter. Wie Franco Cavalli wurde ich
politisch
in den Sechzigerjahren an der Uni geprŠgt: Sie waren auf der damals vorherrschen-
den sozialistischen Seite, ich auf der freiheitlichen. Wir sind alle 68er.
WŠhrend Sie
Marx lasen, stützte ich mich auf die grossen Liberalen wie Ludwig von Mises,
Ršpke
oder Hayek. Kurz, es waren grundsŠtzliche Haltungen, die wir uns aneigneten.
Heute
werden solche Grundsatzfragen in allen Parteien kaum mehr diskutiert, und
daher
übersieht man, wie die Grundfrage nach der persšnlichen Freiheit in der RealitŠt
grundsatzlos entschieden wird. Zum Beispiel bezeichnet man das, was man dem
Bürger als Einkommen belŠsst, als Steuergeschenk. Offensichtlich sind wir
bereits
so weit, dass man davon ausgeht, dass alles zuerst dem Staat gehšrt. Das Gegen-
teil ist der Fall: Alles, was der Bürger erarbeitet, gehšrt zunŠchst ihm.
Cavalli:
Das ist doch Wortklauberei.
So wie Sie behaupten, die Nazis seien Sozia-
listen, weil sie sich Nationalsozialisten nannten. Wie viele Volksparteien,
die sich so
bezeichnen, haben mit dem Volk zu tun?
Blocher:
Es ist doch interessant, wie sich der Sprachgebrauch
entwickelt. Das sind
schleichende Tendenzen. So hat vor kurzem ein freisinniger Nationalrat, Marc
F. Su-
ter, gar vorgeschlagen, der Staat müsse entscheiden, ob ein Argument, das
in einer
Abstimmungskampagne vorgebracht wird, wahr oder falsch ist. Der Staat bestimmt
die Wahrheit einer Meinung. Dabei sind die Menschen nicht bšse, die das fordern.
Cavalli: Danke.
Blocher:
Aber es ist verwerflich. Es verrŠt eine Denkweise,
gegen die ich einschrei-
ten muss. Es zeigt, dass Sie den Menschen nichts zutrauen; Sie pflegen ein
pessi-
mistisches Menschenbild. Für einen Liberalen ist es unertrŠglich, wenn der
Staat
bestimmen soll, welche Meinung wahr ist und welche nicht.
Cavalli:
Aber in gewissen Fragen kann für Sie der Staat
nicht genug einschreiten
und verbieten: In der Abtreibung zum Beispiel, in der aktiven Sterbehilfe,
bei den
Drogen: Da rufen gerade Sie lauthals nach dem Staat. Im Grunde sind Sie es,
auch
wenn Sie das Gegenteil behaupten, der ein pessimistisches Menschenbild hat.
Sie
glauben nicht an das Gute im Menschen.
Blocher:
Lassen Sie mich das begründen: Nach meinem StaatsverstŠndnis
muss
der Staat Leben schützen. Wenn er dies nicht tut, schlŠgt der StŠrkere den
SchwŠ-
cheren zu Tode - willkürlich. Als schützenswertes Leben gilt für mich auch
das unge-
borene. Daraus erkennen Sie auch, dass ich nicht einen unbegrenzten Liberalismus
befürworte: Ich bin kein Anarchist. Aber die Sozialisten sind die Pessimisten,
weil
Sie mit ihrer Ideologie den Menschen von der Wiege bis zur Bahre betreuen,
schüt-
zen und bevormunden wollen.
Cavalli: Kein Sozialdemokrat sagt so etwas.
Blocher:
Aber sie tun es. Alles,
oder fast alles muss nach Ihrer Auffassung geregelt
werden, weil die Menschen es sonst nicht selber schaffen.
Cavalli:
Ich mšchte auf diese Vorwürfe gar nicht weiter
eingehen. Sondern bloss
festhalten: Herrn Blocher geht es in erster Linie darum, eine gewissermassen
irra-
tionale Stimmung in der Éffentlichkeit herzustellen. Auch seine Schrift dient
diesem
Zweck: Die Bürger wissen bald nicht mehr, was wahr oder falsch ist - kšnnen
nicht
mehr rational entscheiden. Alle wissen zum Beispiel, dass die Sozialdemokraten
in
ihrer überwiegenden Mehrheit antifaschistisch eingestellt waren. Darüber besteht
weder in der historischen Forschung noch in der Éffentlichkeit ein Zweifel.
Blocher
stellt diese Tatsache einfach auf den Kopf und behauptet das Gegenteil. Das
ver-
wirrt die Menschen, und darum geht es ihm.
Herr
Blocher, Sie kritisieren vergangene SP-Kontakte mit kommunistischen Re-
gimes. Gleichzeitig machen Sie heute GeschŠfte mit China - und helfen mit,
ein
kommunistisches Regime zu stabilisieren, ein Regime, das systematisch die
Menschenrechte verletzt.
Blocher:
Ich kritisiere nicht vergangene SP-Kontakte, sondern
die Bewunderung
der kommunistischen Regimes. Ich gebe mich nicht der Illusion hin, allein
mit guten
Menschen oder anstŠndigen LŠndern GeschŠfte zu machen. Dies bedeutet aber
nicht, dass ich die dortigen VerhŠltnisse bewundere. Ich lehne kommunistische
Systeme ab. Aber wegen Kontakten verurteile ich niemanden. Unterstütze ich
mit
meinen GeschŠften das chinesische Regime? Die gleiche Diskussion führten wir
früher in Bezug auf den Osthandel. Soll man mit dem Ostblock wirtschaftliche
Bezie-
hungen pflegen oder nicht? Ich war auch damals der Meinung, man sollte dies
tun.
Denn die Erfahrung zeigt, dass der freie Handel absolutistische Regimes meist
untergrŠbt. Handel führt immer zu Beziehungen - und man kann diese nicht in
wirt-
schaftliche oder politische oder kulturelle aufspalten. Beziehungen sind Beziehungen
-
man macht ein GeschŠft, und bald redet man auch über Menschenrechte und über
Politik.
Dem
widerspricht zum Beispiel Amnesty International: Bis heute hat sich die Men-
schenrechtssituation in China in keiner Weise gebessert - trotz der Tatsache,
dass
es seit 1983 westlichen Handel und westliche Fabriken zulŠsst, die dann die
Arbei-
ter zu oft hŠrtesten Bedingungen schuften lassen.
Blocher:
Ich selbst erlebe in China das genaue Gegenteil.
Doch ich halte es ohne-
hin nicht für meine Aufgabe, in China andere VerhŠltnisse herzustellen - übrigens
auch in Amerika. Mir gefŠllt die Todesstrafe in den USA auch nicht. Trotzdem
mache
ich in Amerika GeschŠfte.
Kšnnen
Sie diese Position nachvollziehen, Herr Cavalli?
Cavalli:
In der Tat ist der Fall China gar nicht so einfach.
Je rückstŠndiger ein Land
ist, desto gršsser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es autoritŠr oder undemokratisch
regiert wird š das zeigt die historische Erfahrung. So gesehen ist es zu begrüssen,
wenn sich China wirtschaftlich - auch mit Hilfe des Westens - entwickelt.
Das schafft
immerhin die Mšglichkeit, dass sich einmal demokratischere VerhŠltnisse einstellen.
Doch dies ist keine zwingende Folge - wohlverstanden. Einen anderen Fall stellte
Südafrika dar: Hier war offensichtlich, dass jede wirtschaftliche Entwicklung
bloss
das Apartheid-Regime stabilisiert. Daher waren wir für den Boykott.
Blocher:
Das ist nicht wahr. Die multinationalen Unternehmen
haben sehr viel dazu
beigetragen, dass die Apartheid überwunden wurde.
Gute
Politiker sind zu Selbstkritik bereit. Was bedauern Sie im Nachhinein? Was
haben Sie in der Debatte der vergangenen Monate falsch gemacht?
Blocher:
Ich sehe nicht ein, warum šffentlicher Streit ein
Unglück sein soll. Im Gegen-
teil, Konflikte werden zu selten ausgetragen, zu oft und zu früh beigelegt.
Mir ging es
darum, eine meiner Meinung nach verhŠngnisvolle Entwicklung zum Thema zu ma-
chen: Die schleichende Versozialisierung unserer Gesellschaft. Dies ist mir
nur teil-
weise gelungen. Ich müsste das Thema in Zukunft noch viel stŠrker lancieren,
noch
breiter streuen. Das als Kritik an meinem Vorgehen.
Cavalli:
Selbstkritik? Nur zum Teil. Ich glaube, es war
všllig richtig, dass sich unse-
re Partei gewehrt hat. Denn viele Leute schienen bald zu glauben, was Blocher
be-
hauptet. Seine Vorwürfe, seine Vergleiche waren für uns schlicht inakzeptabel.
Des-
halb haben wir von der SVP eine Klarstellung, eine Distanzierung verlangt.
Und Par-
teiprŠsident Ueli Maurer hat diese zu unserer Befriedigung auch geleistet.
Was aber
haben wir falsch gemacht? Ich bedaure, dass es uns bisher nicht gelungen ist,
eine
eigene Gegenschrift zu verfassen. Ich hoffe, dass wir sie noch zu Stande bringen.