TA, 13.9.1999


Bei Wahlen passiert nichts

Ist die Schweizer Politik wirklich so langweilig? Nein. Es passiert mehr, als man denkt - allerdings indirekt.

Von Andreas Ladner 

Wahlen in der Schweiz sind nicht spannend, weil unser Konkordanzsystem keine Regierungswechsel kennt, weil es nicht darauf ankommt, wer gewählt wird, da wir dank Initiative und Referendum die Möglichkeit nicht aus der Hand geben, der Politik den richtigen Weg zu weisen, und weil sich - wie die Erfahrung zeigt - die Veränderungen im Rahmen von wenigen Prozentpunkten bewegen und kaum grosse Sitzverschiebungen nach sich ziehen. Das alles stimmt, und trotzdem sind Wahlen auch in der Schweiz von grosser Bedeutung. 

Die Auswirkungen der Wahlen sind in der Regel indirekt und deshalb nicht immer sofort erkennbar. In den letzten Jahrzehnten haben verschiedentlich neue Parteien die politische Bühne betreten, man denke nur an das Aufkommen der Grünen und der Auto-Partei. Auch wenn es ihnen nicht gelungen ist, die vier grossen Parteien FDP, CVP, SP und SVP ernsthaft zu bedrohen und sich für den Bundesrat zu qualifizieren, haben sie im Parteiensystem bleibende Spuren hinterlassen. Die Grünen haben die SP und teilweise auch die anderen Parteien auf einen ökologiefreundlichen Kurs geführt, und die Freiheits-Partei hat in einigen Kantonen das politische Terrain für die expandierende SVP vorbereitet. 

Mit Proporzwahlverfahren und direkter Demokratie verfügt unser politisches System über eine grosse Offenheit gegenüber neuen Parteien und Gruppierungen. Dem steht die kartellartige Abschottung der vier Bundesratsparteien gegenüber, die in der gleichen Zusammensetzung seit 40 Jahren die Landesregierung stellen. Dieselben Parteien dominieren auch die Kantone und Gemeinden. Das Magische an diesen Zauberformeln ist ihr anhaltender Bestand. Nach aussen vermitteln sie den Eindruck einer grossen politischen Stabilität. Der eigentliche Wandel findet innerhalb der Parteien statt. 

Die in regelmässigen Abständen abgehaltenen Wahlen sind gute Seismografen. Sie machen auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse und Präferenzen aufmerksam. Erfolgreich sind heute diejenigen Parteien, die die Wahlergebnisse richtig zu lesen und darauf zu reagieren vermochten. Die SP wurde so zur Partei der neuen Mittelschichten und weist die Wählerschaft mit dem höchsten Durchschnittseinkommen auf. Die SVP hat mit ihrem national-konservativen Kurs praktisch alle anderen Parteien beerbt und kann kaum mehr mit der BGB, ihrer Vorgängerorganisation, verglichen werden. Die bevorstehenden Wahlen werden auf jeden Fall entscheidend sein, weil wichtige Weichen gestellt werden. Unter Druck stehen FDP und CVP. Für sie könnten auch kleinere Niederlagen schwerwiegende Folgen haben. Ein Verliererimage kann sich eine Partei immer weniger leisten. Die mediale Öffentlichkeit schont die angeschlagenen Parteien nicht, im Gegenteil. Zudem ist der Kitt, der diese Parteien zusammenhält, brüchig geworden. Im Falle einer erneuten Niederlage wird sich die CVP wohl oder übel entscheiden müssen, ob sie inskünftig ethisch-sozial in Richtung links oder katholisch-konservativ auf der rechten Seite politisieren will. Ihr Zentrumskurs hat sich als arithmetischer Mittelwert erwiesen, der von der Wählerschaft nicht goutiert wird. Auch für die FDP wird es zu klären geben, ob der Neo-Liberalismus als ewig währende Wunderwaffe wieder belebt werden soll, oder ob liberales Gedankengut nicht mehr zu bieten hat als Gewinnmaximierung und eine möglichst tiefe Staatsquote. 

Möglicherweise kommt es im Oktober wirklich so, wie uns die Prognosen weiszumachen versuchen: Die SVP verdrängt stimmenanteilsmässig die CVP vom dritten Platz und dringt vielleicht noch weiter vor. Dann hätten wir zum ersten Mal seit vierzig Jahren eine Situation, in der die Verteilung der Regierungssitze nicht mehr der Wählerstärke der Parteien entspricht. Und dann werden wir darüber diskutieren müssen, auf welchen Grundlagen unsere Regierungszusammensetzung zu beruhen hat.