St. Galler Tagblatt, 3.8.1999
Die Nationalratswahlen werden für die Zukunft des Schweizer Parteiensystems entscheidend sein.
Von Andreas Ladner
Nach der Sommerpause wird der mit Spannung
erwartete Wahlkampf endlich losgehen. Bis dann werden sich alle Parteien
entschieden haben, mit welchen Themen sie Wählerstimmen gewinnen wollen.
Es wird zu den von langer Hand vorbereiteten Überraschungscoups kommen,
die heute, ganz im Sinne des Event-Managements, nicht mehr aus dem Wahlkampf
wegzudenken sind.
Im Vorfeld der Wahlen präsentieren sich
die Parteien wie gewohnt von ihrer besten Seite. Geschlossen und stark im
Auftreten, profiliert in der Politik, heisst die Devise. Die Wählerinnen
und Wähler bevorzugen die Erfolgreichen. Und das sind - wie die jüngere
Geschichte lehrt - diejenigen Parteien, die eine klare Linie verfolgen.
Parteien stossen an Grenzen
Die Schweizer Parteien sind allerdings - wie der Vergleich mit anderen Ländern zeigt - alles andere als auf Rosen gebettet. Unsere politische Kultur, Milizsystem und Föderalismus haben es verhindert, dass mächtige Parteiorganisationen herangewachsen sind. Die nationalen Parteien gleichen Dachverbänden, die versuchen, die Kantonalparteien auf einen gemeinsamen Kurs zu bringen. Die Kantonalparteien selbst, welche für den Wahlkampf verantwortlich sind, können sich nur in den grossen Kantonen professionelle Sekretariate leisten. Mehr als die Hälfte der Kantonalparteien haben nicht einmal eine einzige Vollzeit-Stelle zur Unterstützung. Abgesehen vom Erfolgsmodell «Zürcher SVP» und die sich in ihrem Fahrwasser ausbreitenden SVP-Parteiorganisationen in anderen Kantonen weht den meisten anderen Parteien ein kalter Wind entgegen. Ihre Anhängerschaft geht zurück, die Mitgliederzahlen sinken, und es fliesst weniger Geld in die Parteikassen.
Keine ewige Treue
Dies ist für die Parteien in doppelter Hinsicht fatal. Die Zeiten, in denen die Wähler über Milieu und Tradition einer Partei ein Leben lang treu blieben, gehören der Vergangenheit an. Die Politik stellt immer grössere Anforderungen, die ohne ein Minimum an Professionalität kaum mehr bewältigt werden können. Wie können neue Wählerbindungen geschaffen werden, und woher kommt das politische Know-how, um die komplexen Probleme unserer Zeit zu lösen? Unser politisches System ist darauf angelegt, dass Sachkenntnisse über die Parlaments- und Kommissionsmitglieder in die Parteien eingebracht werden. Die Parteipolitik bleibt auf konkrete Sachfragen konzentriert, und die Debatte über längerfristige politische Ziele und die Anliegen der Basis kommen zu kurz. Bezeichnenderweise investiert die Zürcher SVP viel Geld und Energie in den Kontakt zu ihrer Basis und in die Erarbeitung von Grundlagenpapieren.
Wandlungsfähigkeit ist gefragt
Die Parteien sind heute stärker denn je gezwungen, sich einer sich wandelnden Gesellschaft anzupassen und sich sowohl hinsichtlich ihrem Programmangebot wie auch in Bezug auf ihre Zielgruppen weiter zu entwickeln. Nicht allen Parteien gelingt dies in gleichem Masse. Eine neue Position gefunden hat die SP. Sie hat sich von ihrer Klientele in der Arbeiterschaft gelöst, weist heute den höchsten Bildungsgrad unter ihren Wählerinnen und Wählern auf und gehört im internationalen Vergleich zu den am stärksten links stehenden sozialdemokratischen Parteien. Die SVP, auch sie ursprünglich eine Vertreterin eines immer kleiner werdenden Bevölkerungssegmentes, hat unter der Führerschaft der Zürcher Kantonalpartei einen klaren Rechtskurs eingeschlagen. Damit vertritt sie nun erfolgreich das national-konservative Gedankengut. Noch von keiner erfolgreichen Neupositionierung kann hingegen bei CVP und FDP gesprochen werden. Die CVP hat sich zwar auf den Weg ins politische Zentrum begeben. Die Differenzen zwischen dem katholisch-konservativen, dem christlich-sozialen und dem wirtschafts-orientierten Lager blieben aber bestehen, während die integrierende Kraft des Katholizismus nachgelassen hat. Und die FDP erlebt schmerzhaft, dass sich die Interessen der Wirtschaft immer weniger auf die nationale Politik ausrichten, und dass ein Politisieren ohne das Feindbild «Kommunismus» deutlich schwieriger ist.
Vor entscheidenden Wahlen
Die kommenden Nationalratswahlen werden für die Zukunft des Schweizer Parteiensystems entscheidend sein. Vieles deutet darauf hin, dass sich der Trend der letzten Jahre fortsetzen wird. Gewinnen wird ein Teil der SVP, namentlich derjenige, der dem Blocher-Lager zugerechnet werden kann. Auch für die SP sind die Chancen intakt, da sie in ihrem Lager keine ernsthafte Konkurrenz kennt. Unter Druck stehen FDP und CVP. Für sie könnten auch kleinere Niederlagen schwerwiegende Folgen haben. Ein Verlierer-Image kann sich eine Partei heute immer weniger leisten. Die mediale Öffentlichkeit schont die angeschlagenen Parteien nicht - im Gegenteil. Zudem ist der Kitt, der diese Parteien zusammenhält, brüchig geworden. Im Falle einer erneuten Niederlage wird sich die CVP wohl oder übel entscheiden müssen, ob sie inskünftig christlich-sozial in Richtung links oder katholisch-konservativ auf der rechten Seite des politischen Spektrums politisieren will. Ihr Zentrumskurs hat sich als arithmetischer Mittelwert erwiesen, welchen die Wählerschaft nicht goutieren will.
Potenzial für Mitte-Links
Auch für die FDP gilt es zu klären, ob der Neo-Liberalismus als ewig währende Wunderwaffe wiederbelebt werden soll, oder ob modernes liberales Gedankengut mehr zu bieten hat als Shareholder-Value und die «unsichtbare Hand» des Marktes. In Deutschland und Grossbritannien versuchen Sozialdemokraten Staat und Markt nicht als widersprüchliche, sondern als sich gegenseitig ergänzende Steuerungsmechanismen aufzufassen. In der Schweiz kommt der Beifall eher aus den Reihen der FDP, während die SP einen klaren Links-Kurs fahren will. Die Wege von Blair und Schröder sind trotz allem Mitte-Links-Projekte. Und hierfür gibt es auch in der Schweiz ein Potenzial. Ein weiteres Potenzial liegt rechts von der Mitte, bei der bürgerlichen Alternative zu Blochers SVP. CVP und FDP werden sich entscheiden müssen, auf welcher Seite der Mitte sie inskünftig politisieren wollen. Wie auch immer sie sich entscheiden: Sie werden nie die Gesamtheit ihrer Anhängerschaft mitnehmen können.