Schweizer Revue, 4/5/1999


Ausblick auf die eidgenössischen Wahlen:

Das Schweizer Parteiensystem im Wandel

Die kommenden Wahlen werden für die Zukunft der Schweizer Parteien wegweisend sein. Die zu erwartenden Erfolge der SVP setzen CVP und FDP unter Druck. Wie lange kann sich die Zauberformel noch halten?

Andreas Ladner*

Im Oktober finden die letzten Nationalratswahlen dieses Jahrhunderts statt. Die Ausgangslage ist spannend wie kaum zuvor, hat doch das Parteiensystem in den letzten Jahren eine ungewöhnliche Dynamik erfahren. Es stellt sich die Frage, ob es der Schweizerischen Volkspartei (SVP) gelingen wird, ihren Siegeszug fortzusetzen. Die SVP könnte erstmals die auf Platz drei liegende Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) überholen, womit auf Ebene der Wählerstimmenanteile die sogenannte Zauberformel, die seit 1959 gültige parteipolitische Zusammensetzung der Exekutive, in Frage gestellt wäre.

Polarisiertes Regierungslager

Diese mehr oder weniger freiwillige Aufteilung der Regierungsverantwortung zwischen Freisinnigen (FDP), Sozialdemokraten (SP) und CVP mit je zwei Sitzen sowie der SVP mit einem Sitz hat seit ihrer Einführung einiges an Glanz verloren. Bis zu Beginn der 90er Jahre haben die vier Bundesratsparteien kontinuierlich Wählerstimmen eingebüsst. Profitierten davon einst kleinere Parteien wie der Landesring der Unabhängigen (LDU), die Schweizer Demokraten (SD) und Gruppierungen auf der äusseren linken Seite des politischen Spektrums, waren es in jüngerer Zeit die Grünen und ihr politisches Gegenstück, die Freiheitspartei (FPS). Die Nationalratswahlen von 1995 leiteten eine Trendwende ein. SVP und SP legten in einem für Schweizer Verhältnisse beachtlichen Mass an Stimmen zu, so dass trotz Verlusten von CVP und FDP der Wählerstimmenanteil der vier Grossen wieder angestiegen ist. Damit ging jedoch auch eine Polarisierung innerhalb des Regierungslagers einher.

Die kantonalen Wahlen haben die Ergebnisse der letzten Nationalratswahlen bestätigt. In zahlreichen Kantonen (Luzern, Zug, Schwyz, St. Gallen und Solothurn) ist die SVP im Begriff, Fuss zu fassen. Bedroht von der SVP ist vor allem die CVP. Nach den letzten Wahlen in den Kantonen Zürich und Luzern bekommt nun auch die FDP den Druck der SVP zu spüren. Damit erhält das Schweizer Parteiensystem eine besondere Brisanz: Es sind nicht mehr die kleinen Parteien, die den Grossen Wählerstimmen wegnehmen, sondern es hat ein "Kampf der Giganten" eingesetzt. Es geht um die Vormachtstellung im bürgerlichen Lager.

Verschiebungen bei der Gefolgschaft

Die Ursachen für diese Veränderungen stehen im Zusammenhang mit der sich wandelnden Gesellschaft. Modernisierung und Globalisierung haben die Parteien dazu gezwungen, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen. Die SP hat sich von ihrer Klientele in der Arbeiterschaft gelöst, weist heute den höchsten Bildungsgrad unter ihren Wählerinnen und Wählern auf und gehört im internationalen Vergleich zu den am stärksten links stehenden sozialdemokratischen Parteien. Die SVP, auch sie ursprünglich eine Vertreterin eines immer kleiner werdenden Bevölkerungssegments, hat unter der Führerschaft der Zürcher Kantonalpartei einen klaren Rechtskurs eingeschlagen und vertritt nun erfolgreich das national-konservative Gedankengut.

Noch von keiner erfolgreichen Neupositionierung kann hingegen bei CVP und FDP gesprochen werden. Die CVP hat sich zwar auf den Weg ins politische Zentrum begeben. Doch die Differenzen zwischen dem katholisch-konservativen, dem christlich-sozialen und dem wirtschaftsorientierten Lager blieben bestehen, während die integrierende Kraft des Katholizismus nachgelassen hat. Demgegenüber erlebt die FDP schmerzhaft, dass sich die Interessen der Wirtschaft immer weniger auf die nationale Politik ausrichten. Ein Politisieren ohne das Feindbild Kommunismus ist deutlich schwieriger, und die Idee des Liberalismus gilt es in einer zeitgemässen Form neu zu definieren.

Ansatzweise neue Koalitionen in Sachfragen

Diese Verschiebungen innerhalb des Parteiensystems spiegeln sich auch in den sachpolitischen Auseinandersetzungen wider. Das bürgerliche Lager hat an Homogenität eingebüsst. Immer öfters stellt sich die SVP in Opposition zur Regierung und zu den anderen bürgerlichen Parteien. Dass sie dabei während der letzten Legislaturperiode an der Urne einige Niederlagen erlitten hat (z. B. Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe oder Jugend ohne Drogen), scheint den Nimbus der Partei, sich gegen die "Classe politique" zur Wehr zu setzen, sogar zu fördern.

Bei den anderen Parteien ist es nur vereinzelt zu Annäherungen gekommen. Beispielhaft für eine Koalition zwischen FDP und SP ist die Drogenpolitik; auch beim Schwangerschaftsabbruch ergeben sich Gemeinsamkeiten. Sozialpolitisch sind sich demgegenüber CVP und SP näher, wie sich unlängst bei der gescheiterten Einführung der Mutterschaftsversicherung wieder gezeigt hat. Eine Politik der wechselnden Koalitionen je nach Vorlage gehört noch lange nicht zur Tagesordnung. Die Abstimmungsparolen der Parteien in den letzten Jahren machen denn auch deutlich, dass der Graben nach wie vor am häufigsten zwischen SP und den drei bürgerlichen Parteien FDP, CVP und SVP verläuft.

Erdrutschartige Verschiebungen der Wählerstimmenanteile sind für die kommenden Wahlen nicht zu erwarten. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass sich der Trend der letzten Jahre fortsetzen wird. Gewinnen wird ein Teil der SVP, namentlich derjenige, der dem Blocher-Lager zugerechnet werden kann und vermutlich auch die SP, die in ihrem Lager keine ernsthafte Konkurrenz kennt. Für FDP und CVP könnten auch kleinere Niederlagen folgenschwer werden. Ein Verliererimage kann sich eine Partei heute immer weniger leisten. Die mediale Öffentlichkeit schont die angeschlagenen Parteien nicht, im Gegenteil. Zudem ist der Kitt, der diese Parteien zusammenhält, brüchig geworden. Die im Hinblick auf die Wahlen überdeckten traditionellen Gräben werden wieder aufgerissen.

Das Ende der Zauberformel?

Die Schweiz steht heute erst am Anfang einer möglichen Neugestaltung des Parteiensystems. Eine Fusion unter den bestehenden grossen Parteien ist noch kaum wahrscheinlich. Eine neue Partei, gebildet von den Verlierern zwischen den beiden Polen, müsste sich zuerst auf die Suche nach einem möglichst grossen gemeinsamen Nenner machen, wobei es zu beachtlichen innerparteilichen Abspaltungen kommen könnte. Dass die Zauberformel in den nächsten Jahren dem Ende entgegen gehen wird, ist hingegen wahrscheinlich. Möglich ist aber auch, dass sich bis dann die Zahl der Sitze ändern oder die Staatsleitung reformiert wird.

Das Konkordanzsystem dürfte kaum durch ein reines Konkurrenzsystem ersetzt werden. Ein solches entspricht nicht der politischen Kultur in der Schweiz und lässt sich mit der direkten Demokratie nur schwer vereinen. Die Bildung einer parlamentarischen Mehrheit mit einem gemeinsamen Legislaturprogramm wäre ein möglicher Ausweg.

*Der Autor ist Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Universität Bern. In einem Nationalfonds-Projekt befasst er sich mit dem Wandel der Schweizer Parteien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.