NZZ, 15.10.2000


 

Eine ständestaatliche Politik

Warum die SVP keine neoliberale Partei ist

Walter Wittmann

 

Die SVP versteht sich selber als die fŸhrende Wirtschaftspartei in der Schweiz und hat an politischem Gewicht zugelegt. Ihr Vordenker, Nationalrat Christoph Blocher, bezeichnet sich als ÇliberalkonservativÈ (vgl. NZZ vom 28. 9. 00). In diesem Beitrag wird anhand einer Darstellung des ambivalenten VerhŠltnisses der SVP zum Staat gezeigt, warum die Politik der SVP nicht im neoliberalen Sinn marktwirtschaftliche, sondern vielmehr altliberale, ÇstŠndestaatlicheÈ und konservative ZŸge trŠgt.

In den letzten Jahren hat die SVP an Profil und politischem Gewicht gewonnen. Die …ffentlichkeit erblickt in ihr zunehmend eine Partei, die sich am Neoliberalismus orientiert. Die einen sehen die SVP auf dem Wege, die fŸhrende Wirtschaftspartei zu werden. Die anderen halten ihr vor, das soziale Element zu vernachlŠssigen, sich einseitig škonomisch auszurichten.

Keine homogene politische Kraft

Von der SVP selbst stammt die EinschŠtzung, in der Ordnungspolitik die FŸhrung Ÿbernommen zu haben. Gleichzeitig halten die Berner und die BŸndner SVP die schweizerische SVP im Allgemeinen und die ZŸrcher SVP im Besonderen fŸr (zu) konservativ. Sie bezeichnen sich selbst als die liberale Kraft innerhalb der schweizerischen SVP. Dabei werfen sie der ZŸrcher SVP und vor allem Nationalrat Christoph Blocher vor, mit ihrem Neoliberalismus die traditionellen Werte der schweizerischen SVP zu verraten. So wŸrden Çunsere Strukturen und deren VertreterÈ verhšhnt, der Staat verketzert und als Erzfeind des Volkes bezeichnet.

Die Schweizerische Volkspartei ist alles andere als eine homogene politische Kraft. Es ist daher nicht mšglich, ihr sozusagen restlos gerecht zu werden, wenn man sie nach neoliberalen und anderen Kriterien analysiert und einordnet. Es ist deshalb folgerichtig, sich auf jene Schwerpunkte der SVP-Politik zu konzentrieren, welche fŸr die Parteimehrheit reprŠsentativ sind.

Alter und neuer Liberalismus

Kennzeichnend fŸr die Diskussion ist eine verhŠngnisvolle Verwechslung von altem und neuem (Neo-)Liberalismus. Im 19. Jahrhundert existierte im Rahmen des Manchesterliberalismus und des FrŸhkapitalismus sozusagen Narrenfreiheit (nur) fŸr Unternehmer. ZulŠssig und Ÿblich waren u. a. Absprachen (Kartelle) und Raubbau an der Natur. Soziale Sicherung gab es fŸr niemanden. Damit hat der Neoliberalismus nichts zu tun. Er wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg von Ordnungs- bzw. Ordoliberalen entwickelt. Entsprechend spricht man seither von Ordnungspolitik.

Es geht hier nicht mehr, wie frŸher, um den Çfreien MarktÈ, sondern um marktkonforme staatliche Regulierungen, die den Wettbewerb zum Wohle aller (nicht nur der Unternehmer) dauerhaft sichern. Der Neoliberalismus fordert daher einen starken Staat, der sich gegen alle marktwidrigen Sonderinteressen durchzusetzen vermag. Im Gegensatz dazu plŠdiert der alte Liberalismus fŸr einen Staat, der sich ganz aus der Wirtschaft heraushŠlt, Enthaltsamkeit Ÿbt.

Altliberale und konservative Politik

Die SVP profiliert sich als Steuersenkungspartei. Dabei schweigt sie sich weitgehend darŸber aus, wie Ausgaben und Verschuldung zu gestalten sind. Das widerspricht neoliberalen GrundsŠtzen. Danach geht es zuerst um die richtige Hšhe und Zusammensetzung der Ausgaben. Auf der Ausgabenseite sind nur Abgeltungen fŸr gemeinwirtschaftliche Leistungen marktkonform, nicht aber Subventionen. Diesem Anspruch wird die SVP, die auch eine Partei der Landwirtschaft ist, nicht gerecht. Beim Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen ist ein Wechsel von der Objektfšrderung (z. B. Strassen) hin zu †berweisungen an die Kantone zur freien VerfŸgung erforderlich. Das will die SVP als ÇlŠndliche ParteiÈ ihren WŠhlern vor allem im Berggebiet nicht zumuten.

Bei der Verschuldung besagt die klassische liberale Regel, dass sie nur fŸr direkt-rentable Investitionen, auf keinen Fall aber fŸr laufende (Konsum-)Ausgaben erfolgen darf. Ohne die Ausgaben massiv zu senken, existiert kein vertretbarer Spielraum fŸr Steuersenkungen, sonst erhšht sich die Verschuldung. Und: Die Staatsausgaben sind analog zum Markt nicht mit (direkten) Steuern, sondern wo immer mšglich nach dem €quivalenzprinzip mit (kostendeckenden) GebŸhren zu finanzieren. Dieses neoliberale Postulat wird von der SVP ausdrŸcklich bekŠmpft.

Als Wirtschaftspartei nimmt die SVP einseitig die Sonderinteressen der Unternehmen, der Arbeitgeber, wahr. Sie fordert zwar (zu Recht) eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes. Gleichzeitig lehnt sie aber jene staatlichen Regulierungen ab, die aus der reinen Privat- eine Marktwirtschaft machen wŸrden. Sie betreibt daher eine alt-, nicht eine neoliberale (Wirtschafts-)Politik.

Die SVP ist die Partei des Gewerbes. Sie profiliert sich als Partei des Fšderalismus, um kantonalen und kommunalen Protektionismus betreiben zu kšnnen. Sie plŠdiert fŸr staatliche Abstinenz und Selbstregulierung, um den Wettbewerb durch Kartelle beschrŠnken sowie gewerbliche Strukturen erhalten zu kšnnen. Gleichzeitig ruft die SVP aber nach dem Staat, damit dieser im ÇInnerenÈ und nach ÇaussenÈ das Gewerbe vor dem nationalen und dem globalen Wettbewerb abschirme. Diese Gewerbepolitik ist nicht marktwirtschaftlich, sondern ÇstŠndestaatlichÈ und setzt sich aus altliberalen und konservativen Elementen zusammen.

In den Aussenbeziehungen ist die SVP die Nein-Partei. Im Gegensatz dazu tritt der (Neo-) Liberalismus fŸr eine Çoffene GesellschaftÈ nicht nur im Innern, sondern auch nach aussen ein. Die SVP gebŠrdet sich so, als ob die Schweiz auf niemanden in dieser Welt angewiesen wŠre, als ob sie ein totales Eigenleben fŸhren kšnnte. Das steht in eklatantem Widerspruch zur RealitŠt. Die SVP ist in dieser Beziehung konservativ und extrem nationalistisch orientiert.

Verketzerung der ÇClasse politiqueÈ

Die SVP nennt sich auch die Partei der unbeschrŠnkten direkten Volksrechte. Sie verketzert die ÇClasse politiqueÈ, wirft dabei Parlament und Bundesrat vor, am Volke vorbeizuregieren. Sie strebt die Volkswahl des Bundesrates an, um das Parlament weitgehend auszuschalten, um aus der parlamentarischen eine ÇVolksdemokratieÈ zu machen.

Das DemokratieverstŠndnis der SVP ist bei J.-J. Rousseau mit seiner unbeschrŠnkten VolkssouverŠnitŠt anzusiedeln. Es handelt sich um die sozialistische, nicht um die liberale Version der Demokratie. Auf Rousseau beziehen sich nicht nur demokratische, sondern auch revolutionŠre und (moderne) totalitŠre Regime. UnbeschrŠnkte direkte Volksrechte kšnnen - auch hierzulande - in einen autoritŠren Staat mŸnden.

Die liberale Demokratie kennt keine unbeschrŠnkte Macht der Mehrheit. Sie enthŠlt eine durchgehende Trennung von Legislative, Exekutive und Justiz (Charles de Montesquieu). Friedrich A. von Hayek, der Kronzeuge der SVP fŸr ÇFreiheit statt SozialismusÈ unterscheidet u. a. zwischen ÇRecht und GesetzÈ. Das Recht besteht aus zweckunabhŠngigen Regeln fairen Verhaltens. In der Gesetzgebung sind die politischen ReprŠsentanten an diese ihnen Ÿbergeordneten Regeln gebunden. Der ÇRechtsstaatÈ hat demnach Vorrang von der VolkssouverŠnitŠt.

Zweigleisiges VerhŠltnis zum Staat

Die SVP verketzert zwar den Staat, fŠhrt dabei aber doppelgleisig. Zum einen soll sich der Staat - altliberal - aus der Wirtschaft im Allgemeinen und dem Gewerbe im Besonderen heraushalten und die Gewerbefreiheit integral sichern. Zum anderen wird der gleiche Staat - konservativ - zu Hilfe gerufen, damit er Schutzmassnahmen ergreift und Subventionen gewŠhrt. Das ist jene klassische Mittelstandspolitik, die offensichtlich versagt hat. Im Gegensatz dazu ist der neoliberale Staat nicht Sonderinteressen, sondern dem Gesamtinteresse verpflichtet. Er ist Garant einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die alle Interessengruppen ohne Unterschied behandelt und keine Schutzmassnahmen und Subventionen kennt.

Die Schweizerische Volkspartei vertritt somit nicht neo-, sondern altliberale Positionen und prŠsentiert sich heute mehrheitlich als konservative, nationalistische politische Kraft.

* Der Verfasser ist emeritierter Wirtschaftsprofessor und lebt in St. Andrews (Kanada) und Bad Ragaz.