NZZ, 22.7.2000
Herr Ladner, trifft es zu, dass die Stadträte Estermann und Ledergerber die Sozialdemokratie in der Stadt Zürich auf einen marktwirtschaftlichen Kurs gebracht haben?
Tatsächlich sind Estermann und Ledergerber eher bereit, marktwirtschaftliche Elemente anzuerkennen und die starren sozialdemokratischen Positionen in diesem Bereich aufzuweichen. Bei beiden ist aber ein Grundbestand an sozialdemokratischen Werten nach wie vor vorhanden, was sie auch immer betonen.
Bringt diese Öffnung der SP mehr Wähler?
Die Frage ist: Hat die Partei durch die Öffnung zur Mitte hin ein Entwicklungspotenzial, ohne dass man die bisherige Klientel zu sehr enttäuscht und sie zu verlieren droht? Ich glaube, die Stadtzürcher SP kann den Weg, den Ledergerber und Estermann eingeschlagen haben, noch ein paar Schritte weitergehen, ohne den Grundgedanken der Sozialdemokratie zu verraten, der darin besteht, dass man eine gerechtere Teilung von Gütern und Lebenschancen anstrebt und die Solidarität hochhält.
Estermann und Ledergerber stossen aber parteiintern auch auf harsche Kritik.
Die SP in der Schweiz positioniert sich im Vergleich mit den Sozialdemokraten in Deutschland, England oder auch Frankreich stärker links und ist ökologischer. Das ist eine Folge der Konkordanzdemokratie: Die Parteien in der Schweiz werden zur elektoralen Bescheidenheit verführt. Die SP braucht keine Mehrheiten anzusprechen, 20 oder 25 Prozent Wähleranteil auf nationaler Ebene sind das höchste der Gefühle, in der Stadt Zürich mit ihrer linken Tradition sind es 35 Prozent. Unter diesen Umständen ist es leichter, eine verhältnismässig radikale Politik zu betreiben. Eine Öffnung zur Mitte, die in einem System mit Regierung und Opposition zum Gewinn der Mehrheit angestrebt werden muss, steht in der SP erst ansatzweise zur Diskussion. Für viele hätte so eine Öffnung nichts mehr mit Sozialdemokratie zu tun.
Eine pointierte Position lässt sich in unserem Verhandlungssystem aber auch rechtfertigen. Wenn die Sozialdemokraten mit klaren linken und ökologischen Forderungen in Verhandlungen gehen, dann ist die Chance grösser, dass sie mit den entstehenden Kompromisslösungen mehr herausholen können. Wenn sie aber schon von einer Mitte-Position ausgehen, wird der Kompromiss rechts der Mitte zu liegen kommen. Auf der elektoralen Ebene wirkt sich eine klare linke Position aber negativ aus. Die Partei hat dann zwangsläufig ein kleineres Wählerpotenzial.
Die Kräfte links der SP haben eine gewisse Tradition, vor allem in der Stadt Zürich, wo es immer wieder Gruppierungen links der SP gab. Nach 1968 gab es die verschiedensten marxistischen, leninistischen, maoistischen, trotzkistischen Gruppen. Heute sind diese zum grössten Teil von der SP und den Grünen aufgesogen worden oder haben sich zurückgezogen. Die Gefahr einer Aufsplitterung ist, dass man sich, wie in den siebziger Jahren geschehen, gegenseitig zerfleischt, den politischen Gegner nicht etwa rechts der Mitte, sondern unter seinesgleichen sucht. Aus dem Wettbewerb zwischen verschiedenen linken Gruppierungen und der SP kann aber auch eine Arbeitsteilung resultieren, die nicht a priori schädlich sein muss. Die SP verliert vielleicht Stimmen und Sitze auf der Linken, könnte sich aber stärker zur Mitte orientieren und dort ein neues Potenzial erschliessen. In vielen Fragen würde jedoch auf derselben Seite gekämpft. Nicht die Stärke der einzelnen Parteien ist ausschlaggebend, sondern die Stärke der politischen Lager. Die Forschung zeigt auch, dass wir zwar immer wieder Wählerverschiebung haben, aber die Volatilität innerhalb der einzelnen Lager ist grösser als zwischen den Blöcken.
Warum sind es im Moment die Gewerkschaften, die sozialpolitisch härtere Töne anschlagen?
Die Gewerkschaften haben erstens ein Positionierungsproblem: Sie verlieren an Bedeutung und kämpfen mit abnehmenden Mitgliederzahlen. Sie sehen jetzt ihre Chance darin, sich links von der SP zu profilieren und zu etablieren. Zweitens haben sich die Gewerkschaften auch gewandelt. Sie nahmen Leute auf, die früher bei der extremen Linken waren, und haben sie sogar an ihre Spitzen gesetzt. Thematisch versuchen sich die Gewerkschaften bei den Bereichen Verwaltungsreform, Privatisierungen und Liberalisierung zu profilieren. Der Widerstand gegen die NPM- Reformen, gegen die Ausgliederung des EWZ und gegen verlängerte Ladenöffnungszeiten sind dafür gute Beispiele.
Mit den Gewerkschaften haben vor allem jene Stimmberechtigten gestimmt, die vom viel gepriesenen Spiel der Marktkräfte wenig profitiert haben. Sie wollen den Staat, den «Service public» erhalten, da er noch immer einen gewissen Wohlstand und Lebensstandard garantiert. In anderen Fragen stimmt ein Teil dieser Leute jedoch mit der SVP. Damit sind konservative Kräfte auf der linken und der rechten Seite eine Koalition eingegangen. Das ist für die Gewerkschaften nicht ungefährlich. Sie suchen eine Mehrheit mit Leuten, die Status-quo- und Besitzstand-orientiert sind. Die linken Werte der Gewerkschaften in sozialen und gesellschaftspolitischen Fragen tragen diese Leute aber nicht mit.
SVP-Ideologen behaupten, das ganze politische Koordinatensystem habe sich nach 68 nach links bewegt. Auf dem rechten Flügel sei ein Vakuum entstanden, das die SVP aufzufüllen versuche. Können Sie das bestätigen?
Was sich verschoben hat, sind die zentralen Werte. Forderungen, die vor dreissig oder vierzig Jahren als unrealistisch, subversiv und staatsgefährdend galten, wie die gleichgeschlechtliche Ehe, Kinderkrippen, Heroinabgabe, sind heute realisiert, oder es wird ernsthaft darüber diskutiert. Selbst die FDP fordert Kinderkrippen und spricht sich für die Heroinabgabe aus. Man kann das als Verschiebung nach Links qualifizieren, wie das die SVP tut: Früher waren das Forderungen der Linken, heute sind es Tatsachen, also haben die Linken heute mehr Gewicht. Man kann aber auch sagen, die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt. Heute teilen eben die meisten Leute Werte, die vor Jahrzehnten mehrheitlich von der Linken vertreten wurden.
Die SVP beklagt auch, dass die Linke wesentliche mehr Positionen in gesellschaftlichen Institutionen besetzt als vor Jahren. Da hat sie nicht Unrecht. Vor vierzig Jahren gab es Berufsverbote für Lehrer, die als subversiv galten. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Leute, die aus der linken Bewegung kamen, behaupten sich heute an wichtigen Stellen der Gesellschaft. Diese Positionen haben sie sich jedoch erarbeitet.
Ist die Kritik daran eine Chance für die SVP?
Sie wird dann zur Chance, wenn sich die Linke falsch verhält. Das, denke ich, hat sie in der Stadt Zürich über viele Jahre hinweg getan. Die SP hat die Probleme im Zusammenhang mit den Ausländern, den Drogen und der Kriminalität nicht ernst genug genommen. Sie hat beschwichtigt, abgewiegelt und multikulturelle Integrationsmodelle propagiert, sie hat Delinquenten und Drogenabhängige mit ihrer Herkunft oder ihrer schwierigen sozialen Situation entschuldigt.
Hat hier nicht auch die FDP etwas versäumt?
Die FDP hat als die traditionelle bürgerliche Partei ein besonderes Problem. In der Stadt Zürich war sie nie so stark wie im Rest des Kantons. Der Wirtschaftsfreisinn wohnt mehrheitlich an der «Goldküste», nicht in der Stadt. Die SVP wurde neben der FDP in der Stadt in Etappen gross: In einem ersten Schritt hat die SVP links Stimmen geholt und parallel dazu bei den Überfremdungsparteien. Sie tat dies mit einer Law- and-Order-Politik, die bis hin zu ausländerfeindlichen Forderungen geht. Jetzt geht die Politik der SVP voll gegen die FDP. Die SVP will die bessere neoliberale Partei sein als die Freisinnigen. Dazu gehört zum Beispiel die Forderung nach Steuersenkungen. Das macht die FDP enorm nervös, denn es geht letztlich um die Ressourcen: Wenn die SVP bei den grossen Sponsoren der FDP sagen kann, dass sie für die Wirtschaft die bessere Politik macht als die Freisinnigen, trifft das die FDP im Mark. Da sich die SVP heute auch aus den Reihen der FDP alimentiert, trägt auch die FDP eine Mitschuld an ihrem Erfolg.
Nein. Die SVP macht Oppositionspolitik und steigt mit Forderungen ein, die realpolitisch nicht umzusetzen sind. Die FDP dagegen anerkennt in gewissen Bereichen, dass sich die Gesellschaft weiterentwickelt, dass es gewisse Probleme gibt, die mit der neoliberalen Staatsabbau-Politik der SVP nicht gelöst werden können und für die es einen leistungsfähigen Staat braucht. Zudem vertritt die FDP diejenigen bürgerlichen Kräfte, bei denen liberal nicht nur in der Wirtschaftspolitik, sondern auch in gesellschaftspolitischen Fragen einen Wert darstellt. Diesen Unterschied kann die FDP offenbar nicht mehr deutlich genug vermitteln.
Neue Zürcher Zeitung, 22. Juli 2000