NZZ, 19.8.1999


 


Die Parteien an den Leistungsgrenzen?

 


Aufgaben, Strukturen und Mängel im Überblick

 
 
Von Andreas Ladner und Michael Brändle*

     Die Kritik an den politischen Parteien hat sich auch hierzulande zu einer Gewohnheit entwickelt. Eine Erhebung im Rahmen eines Forschungsprojekts streicht demgegenüber - auch in Zahlen - heraus, dass das politische System der Schweiz hohe Anforderungen an seine Miliz-Parteien stellt und diese mit bescheidenen Ressourcen wichtige Aufgaben für die Demokratie wahrnehmen. Nach Ansicht der Autoren werden die Parteien allerdings nicht darum herumkommen, ihre Strukturen grundlegend zu überdenken, und der Staat wird sich stärker für sie engagieren müssen.

     Kaum leichter lässt sich heute Beifall holen als mit abschätzigen Äusserungen über die politischen Parteien. Vorgeworfen wird ihnen, sie seien sachlich inkompetent und unfähig, die anstehenden politischen Probleme zu lösen, sie seien vor allem an Macht und Privilegien interessiert, überaltert und von ihrer Basis entfremdet. Tatsächlich weht den Parteien ein kälterer Wind entgegen. Die an sie gestellten Anforderungen sind kontinuierlich gestiegen: Komplexe Fragen und vernetzte Problemlagen verlangen nach Lösungen, und die beschleunigte, stark mediatisierte Alltagspolitik macht es notwendig, dass sie sich schnell und kompetent zu aktuellen Sachfragen äussern.
 
Zahlreiche Parteien, grosses Engagement

    Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern mit einer sehr grossen Zahl an organisatorisch gefestigten Parteien. Bei den letzten Nationalratswahlen wurden Vertreterinnen und Vertreter aus nicht weniger als 16 Parteien gewählt. Noch komplexer wird es, wenn wir uns auf die Ebene der Kantone und Gemeinden begeben. Insgesamt gibt es mehr als 180 Kantonalparteien und etwa 5000 Ortsparteien. Diese Feingliederung entspricht der Struktur des politischen Systems, bringt aber einen enormen Personal- und Koordinationsaufwand mit sich. Gesamthaft gesehen dürften mehrere zehntausend Personen ein Parteiamt ausüben. Die nationalen Parteizentralen der Bundesratsparteien haben mehr als zwanzig unterschiedliche und relativ autonome Kantonalparteien zu koordinieren, und in grösseren Kantonen verlieren die Kantonalparteien mit teilweise weit über hundert Lokalsektionen schnell einmal den Überblick.

    Zu den wichtigsten Funktionen der Parteien gehören die Rekrutierung von Kandidaten für öffentliche Ämter, die Bündelung von Interessen und die Orientierungshilfe in der Politik. Die Rekrutierung von Kandidatinnen und Kandidaten für die unzähligen politischen Ämter, die es im föderalistischen System der Schweiz gibt, stellt die Parteien vor grosse Herausforderungen. Allein für die Besetzung aller Regierungs- und Parlamentssitze auf Bundesebene, in Kantonen und Gemeinden haben die Parteien rund 35 000 Personen zu rekrutieren. Hinzu kommen in den Gemeinden Zehntausende von Kommissionssitzen. Zwar ist es für die prestigeträchtigen Ämter auf höherer Ebene einfach, Interessierte zu finden, die Parteien müssen jedoch sicherstellen, dass auch geeignete Leute vorgeschlagen werden. Bei der Besetzung der zahlreichen, teilweise wenig attraktiven Mandate auf lokaler Ebene bekunden die Ortsparteien zunehmend Mühe, überhaupt jemanden zu finden.

    Besonders gefordert sind die Schweizer Parteien auch bei der Meinungsbildung in Sachfragen. Sie haben sich - anders als Interessenverbände - nolens volens mit allen Vorlagen zu befassen, auch mit wenig spektakulären oder unpopulären. Die grosse Zahl von Abstimmungsvorlagen auf allen drei Ebenen verlangt von den Parteien eine andauernde Meinungsbildung und Mobilisierung. In den letzten zwei Jahrzehnten gelangten auf nationaler Ebene über 140, auf kantonaler Ebene weit über 2000 Vorlagen zur Abstimmung. Urnengänge in den grösseren Gemeinden fordern die Parteien zusätzlich. Von den Parteien wird erwartet, dass sie über die Vorlagen diskutieren, Parolen fassen, Kampagnen durchführen und den Stimmberechtigten die Standpunkte vermitteln. Zudem sollen sie sich Gedanken über den gesellschaftlichen Wandel machen und eine politische Orientierung anbieten, die über die Alltagsgeschäfte hinausgeht.

    Und schliesslich bündeln die Parteien die verschiedenen gesellschaftlichen Interessen und bringen sie in einer angemessenen Form in das System von politischen Entscheiden ein. Diese Aggregations- und innerparteiliche Vermittlungsfunktion ist angesichts der regionalen und sprachlich-kulturellen Heterogenität unseres Landes besonders bedeutungsvoll. Sie schafft eine Optik, die über Partikularinteressen hinausgeht, und wirkt in einem hohen Masse integrativ. Bis anhin waren die Schweizer Parteien im Ausgleich divergierender Interessen erfolgreich. Die Gefahr einer Spaltung des gesamten Parteiensystems entlang den Sprachgrenzen, wie in Belgien geschehen, bestand bisher kaum. Allerdings stehen heute in der öffentlichen Diskussion nicht die wenig spektakulären, aber sehr aufwendigen Vermittlungs- und Integrationsleistungen im Vordergrund, sondern vor allem die parteiinternen Differenzen.
 
Mangel an Mitgliedern, Geld und Profis

    Wie in den anderen Ländern Westeuropas sinkt auch in der Schweiz die Bereitschaft, sich parteipolitisch zu engagieren. Praktisch alle Parteien sind mit einer rückläufigen oder stagnierenden Anhängerschaft und Mitgliederzahl konfrontiert. Ebenso nimmt die ideelle und finanzielle Unterstützung der Parteien ab. Gleichzeitig haben sich die Parteien in der Öffentlichkeit einer zunehmenden Konkurrenz gegenüber zu behaupten. Immer häufiger dominieren solvente Einzelpersonen und Interessengruppen mit aufwendigen und kostspieligen Kampagnen den politischen Ideenmarkt. Bei wirtschaftlich wichtigen Abstimmungsvorlagen fliessen von den betroffenen Interessenkreisen und aus Verbandskassen Millionenbeträge in die Abstimmungskampagnen. Bei staatspolitischen Vorlagen hingegen sind die Parteien oft sich selbst überlassen und haben mit wenigen tausend Franken nationale «Abstimmungskampagnen» zu bestreiten.

    Der Finanzbedarf der Parteien ist gestiegen, die freien Betriebsmittel stagnieren oder gehen zurück. Bei der Spendenpraxis zeichnet sich zudem eine klare Entwicklung ab: Konnten einzelne Parteien bisher mit der regelmässigen Unterstützung gewisser Wirtschaftskreise rechnen, werden heute Unterstützungsleistungen immer häufiger an konkrete politische Projekte gebunden. Damit verschärft sich die Abhängigkeit der Parteien von den Spenden Dritter, und eine mittelfristige Finanzplanung wird verunmöglicht. Die meisten Parteien stehen diesen Entwicklungen hilflos gegenüber. Die spärlichen Eigenmittel erlauben kaum je bezahlte Medienaktionen, vielmehr sehen sie sich veranlasst, ihre Präsenz in den Medien durch «Events» zu sichern. Dabei entsteht die Gefahr, dass die Inhalte zu kurz kommen.

    Wenig auszurichten haben die Parteien auch bei der professionellen Bearbeitung politischer Themen; die inhaltliche politische Arbeit leisten grösstenteils Milizpolitiker. In den schweizerischen Parteizentralen befassen sich durchschnittlich nur rund drei Personen beruflich mit der inhaltlichen Arbeit, bei den grossen Parteien sind es fünf bis sieben. Rund ein Viertel dieser personellen Ressourcen wird jeweils für die parlamentarische Fraktion eingesetzt. Von parteieigenen Forschungsgruppen oder Think Tanks, die komplexe Sachthemen fundiert bearbeiten, sind die Schweizer Parteien weit entfernt. Ein deutliches Signal setzte in dieser Hinsicht die CVP Schweiz, die sich im November 1997 offiziell aus dem Vernehmlassungsverfahren verabschiedete, um sich laut eigenen Angaben finanziellen und personellen «Raum» zu schaffen. Macht dieses Beispiel Schule, wird der wichtige vorparlamentarische Entscheidungsprozess nur noch den Vertretern von Partikulärinteressen überlassen.
 
Strukturreformen und Parteienförderung

    Es ist kaum davon auszugehen, dass sich die Lage der politischen Parteien kurz- bis mittelfristig markant verbessern wird. Die Parteien werden nicht darum herumkommen, ihre Strukturen zu überdenken; neue, kreative Lösungen sind gefragt. Wichtige Anregungen lassen sich bei den aktuellen Reformen des Staatswesens finden. Es stellt sich auch für das Schweizer Parteiensystem die Frage, ob sich eine Organisation mit so vielen verschiedenen und bis in die kleinsten Gemeinden organisierten Parteien noch aufrechterhalten lässt. Wie bei den Gemeinden und Kantonen wird die Lösung irgendwo im Bereich zwischen stärkerer Zusammenarbeit und Fusion liegen. Vielleicht gibt es bei den Bundesratsparteien schon bald Sektionen, welche bewusst mehrere Gemeinden oder Kantone abdecken, oder es werden überparteiliche Sachkommissionen gebildet. Dabei könnten beispielsweise Vertreter von SP und CVP im Rahmen einer Arbeitsgruppe eine gemeinsame Sozialpolitik erarbeiten oder FDP und SVP zusammen ihre Vorstellungen einer künftigen Finanz- und Steuerpolitik präsentieren.

    Das Modell des New Public Management lehrt, dass es sinnvoll sein kann, gewisse Aufgaben von Agenturen erbringen zu lassen. So könnten die Kantonalparteien parteiinterne Dienstleistungen (Mitgliederverwaltung, Versand, Organisation von Veranstaltungen) zusammenlegen und gemeinsam im Auftragsverhältnis an private Firmen vergeben. Eine effizientere Organisation der administrativen Tätigkeit würde möglich, ohne die kantonsspezifische politisch-inhaltliche Arbeit zu tangieren und einen übermächtigen nationalen Parteiapparat entstehen zu lassen.

    Insgesamt werden aber Reformen nicht ausreichen, die Parteien wieder flottzumachen. Über kurz oder lang wird die Schweiz nicht darum herumkommen, ihre politischen Parteien mit staatlichen Mitteln zu fördern. Wichtig ist dabei, dass den Parteien gezielt unter die Arme gegriffen wird. Nicht Wahlkämpfe und Abstimmungskampagnen müssen staatlich gefördert werden, sondern die fundierte politische Arbeit zur Lösung aktueller und zukünftiger Probleme.
 
 
 
Die Bundesratsparteien in Zahlen

FDP CVP SVP SP Total

Mitglieder  87 000 73 000 59 000 38 000 257 000

Anzahl Lokalparteien  ca. 1 300 ca. 1 020 1 010 1 120 ca. 4 450

Anzahl Kantonalparteien  26 31 23 25 105

Vollzeitstellen 

    der Kantonalparteien  28 17 8 22 75

Vollzeitstellen 

    der nationalen Parteien  12,1 12,6 8,3 11,9 44,9

davon für politisch-inhaltliche 

     Arbeit (national)  7,25 7,0 5,3 6,9 26,45

Budget nationale Partei 1999 

    (in Mio. Fr.)  2,6 2,3 1,4 3,5 9,8

Anteil Spenden (in Prozent)  61 51 42 12 -

    * Die Autoren arbeiten am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und untersuchten im Rahmen eines Nationalfondsprojekts den Wandel der Schweizer Parteiorganisationen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.