NZZ, 15.9.2000


 

Chancen und Potenziale für die FDP

 

 

Fast ein Jahr schon ist seit den letzten eidgenössischen Parlamentswahlen durchs Land gegangen. Die SPS dümpelt linkskonservativ vor sich hin und wird Mitte Oktober in ostblockartiger Manier die einzige Kandidatin für das Parteipräsidium (Christiane Brunner) küren. Die CVP tritt an Ort, schwankt und windet sich wie eh und je. Die SVP politisiert konsequent nationalkonservativ, bekommt aber absehbare Image- und Flügelprobleme mit der fälligen Integration ihres rechtsbürgerlichen Wähler- und Mitgliederzuwachses von 1999.

Wo aber steht die bürgerlich-liberale FDP, die noch dieses Jahr einen neuen Generalsekretär und vermutlich nächstes Jahr auch einen neuen Parteipräsidenten männlichen oder weiblichen Geschlechtes zu bestellen hat? Sitzt die nach wie vor fraktionsstärkste Partei ohnmächtig in der politischen Zentrumsfalle, wie häufig und resignativ moniert wird? Oder bricht sie aus aus dieser angeblichen Falle und profiliert sich als moderne Problemlösungs- und Reformpartei jenseits von links und rechts, wie dies ebenso häufig, aber missverständlich und auch missverstanden behauptet wird?

Zuerst ein Blick zurück. Die neunziger Jahre waren schwierige Jahre für die FDP. Sie wurde von der SVP rechts überholt und entsprechend in die politische Mitte gedrängt. Der erfolgte Vormarsch der neu als mitregierende Oppositionspartei ausgerichteten SVP ging (vor allem 1999) auf Kosten kleiner Rechtsparteien, laufend auf Kosten der CVP und zum Teil der SPS, aber auch (vor allem zwischen 1987 und 1995) auf Kosten des Freisinns - entweder direkt oder indirekt, zum Beispiel via Autopartei. So verlor die FDP vorab Teile ihrer wert- oder strukturkonservativen, ihrer liberalkonservativen Gefolgschaft im bäuerlich-gewerblichen Mittelstand an die rechts- und nationalkonservative Konkurrenz (FDP-Wähleranteil 1987 bis 1999 minus 3,3 Prozent, 1991 bis 1999 minus 1,4 Prozent).

Die Gründe für diesen Teil-Einbruch der SVP in rechtsfreisinniges Territorium sind vielfältig und reichen tief. Die sogenannte Kopp-Affäre (materiell: ein abgestrittenes Telefongespräch mit dem Ehegatten) und die zeitweilige Stigmatisierung des einst mächtigen Zürcher Wirtschaftsfreisinns stehen symbolisch für die hygienisch gemeinte Forderung nach einer sauberen Trennung von Politik und Wirtschaft. Damit einher ging im Gefolge der neuen und globalen Standortkonkurrenz eine Tendenz zum Rückzug von freisinnigen oder potenziell freisinnigen Wirtschaftsexponenten aus der aktiven (Partei-)Politik. Auf bürgerlich- konservative Kräfte in der FDP entfremdend wirkten sodann das freisinnige Ja zum EWR (weil vom Bundesrat kontraproduktiv zur blossen Vorstufe eines späteren EU-Vollbeitrittes degradiert) und das 1995 von "EU-Turbos" durchgedrückte, wenn auch mehr prinzipiell als realpolitisch gemeinte FDP-Bekenntnis zum strategischen EU-Beitritts-Ziel.

Blössen und Angriffsflächen gab sich der Freisinn aber auch dadurch, dass er als Partei von ‚TŠterné mit dem Prozess der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung von Anfang an identifiziert wurde. Zwar haben die Schweiz und die Schweizer von diesem Prozess mittlerweile ganz klar profitiert. Doch steht der Kollektivgewinn so klar erst heute fest. Zuerst aber musste dieser Gewinn über den Abschied von alten industriegesellschaftlichen und den Aufbau von neuen informationsgesellschaftlichen Berufsqualifikationen schmerzhaft erarbeitet werden. Entsprechend lange regierten politikmächtige Gefühle der Verunsicherung und der Angst vor Besitzstandsverlusten. Während die SVP unter Führung von Blocher (auch er ein wirtschaftlicher "global player") solche Gefühle durch militanten Heimatschutz politisch kapitalisierte, betonte die pragmatische FDP zukunftsgewiss mehr die Chancen als die Risiken und unterschätzte dabei vielleicht den Hang, aber auch die Fähigkeit des Schweizers, "zu jammern, ohne zu leiden" (Franz Steinegger).

Gegenüber einer SVP, die zunehmend als antietatistische und rechtskonservative Oppositionspartei agierte, bot der Freisinn als aufgeschlossene Regierungspartei aber auch Angriffsflächen auf dem Feld der Wirtschafts- und Innenpolitik. Die SVP tat und tut sich schwer mit der Veränderung der Schweiz hin zu einer modernen, pluralistischen und ebenso multinationalen wie multikulturellen Schweiz. Nicht so die FDP, und es ist deshalb keine freisinnige Option, aus Gründen blosser parteipolitischer Opportunität die SVP in gesellschafts-, drogen- oder ausländerpolitischen Fragen rechts zu überholen bzw. zu kopieren. Der Freisinn zahlt für diese Differenz, für diese Weigerung seinen Preis, und er tut dies auch im Bereich der Fiskal- und Sozialpolitik.

Seit 1995 stellt die FDP den Finanzminister. Dies im inzwischen erfolgreichen Bestreben, den Bundeshaushalt zu sanieren, ohne den (Sozial-)Staat auszubluten - was ohne einen Mix aus Mehreinnahmen und Minderausgaben politisch nicht möglich (gewesen) wäre. Tatsache ist, dass Villiger im Unterschied zu seinem sozialdemokratischen Vorgänger den Bremsweg auch auf der Ausgabenseite eingeleitet hat. Tatsache ist auch, dass nur schon der blosse Status quo im Bereich sozialstaatlicher Grundleistungen ohne Mehreinnahmen (Mehrwertsteuer- und Lohnprozente für die AHV und die Arbeitslosenversicherung) nicht finanziert wäre. Das hat nichts mit Fiskalismus, aber viel mit finanz- und sozialpolitischer Verantwortung zu tun - was allerdings einem billigen und politisch unrealistischen Finanzpopulismus ö la SVP immer wieder Angriffsflächen eröffnet hat und eröffnen wird.

Erinnert sei zudem an freisinnige Vorschläge für Ausgabenreduktionen auch in diesem Bereich (weg vom alljährlichen Teuerungsausgleich bei der AHV, Herabsetzung der Taggelder bei der ALV), die dann aber entweder im Parlament oder vor dem Volk keine Mehrheiten fanden. Demgegenüber agierte und agiert die SVP auf diesem komplexen Feld wohl populär, aber ohne Konsequenz und Realismus: Die AHV ist mit dem Verkauf von Nationalbank-Gold oder der besseren Bewirtschaftung des AHV-Fonds mitnichten dauerhaft gesichert, die bilateralen Verträge als Konsequenz aus dem EWR- Nein waren ohne den teuren Alpentransit und die LSVA nicht zu haben usw. usw. Gerade der vorab von der SVP aussenpolitisch erzwungene Weg des kooperativen Alleinganges, des Bilateralismus eben, steht beispielhaft für den wenig verantwortungsorientierten Polit-Populismus der rechten Konkurrenz zum Freisinn: Die SVP sagt lauwarm Ja zu den Verträgen, macht sie aber als ‚schlechte Verträge' madig, sagt Nein zu den kostenrelevanten Konsequenzen und an der Urne, also faktisch auch Nein zu den Verträgen selbst (70 Prozent der SVP-Anhänger).

Alle genannten Gründe machen verständlich, wieso der Freisinn als gesellschaftlich aufgeschlossene, als aussenpolitisch offene und als staatsverantwortliche Kraft im Laufe der neunziger Jahre gewisse Einbrüche an seinem rechten ‚Rand' hinnehmen musste und konsequenterweise auch hingenommen hat. Insgesamt aber, auch dies muss gesagt sein, hielten sich diese Verluste in doch engeren Grenzen, wurde die Erosion vor allem bei den letzten eidgenössischen Wahlen weitgehend gestoppt. Für die Zukunft ist deshalb keineswegs eine defensive Halte-Politik oder gar Anbiederung an Standpunkte und Tonalität der SVP angesagt, sondern die möglichst agile Ausschöpfung von durchaus vorhandenen Chancen und Potenzialen.

Solche Chancen und Potenziale eröffnen sich für die FDP gegenüber sowohl der links- wie der rechtskonservativen Konkurrenz. Sowohl die SPS wie auch die SVP verharren politisch und mental im Status quo. Unter Führung von neomarxistischen (Cavalli) und sozialkonservativen (Brunner) Köpfen wird die SPS keine Partei, die eine neue Akzeptanz auch in der politischen Mitte sucht und in der sich moderne, reformorientierte, linksliberale Sozialdemokraten wirklich wohl fühlen und entfalten können. Zugleich zahlt auch die SVP den politischen Preis für ihren Erfolg von 1999, erzielt vor allem durch die Integration des gesamten konservativen Lagers am Rand rechtsaussen. Als Folge davon rückt auch das massgebliche Zentrum der SVP selbst weiter nach rechts.

Erster Ausdruck davon ist das Ja der SVP Schweiz zur 18%-Initiative für eine Begrenzung der Einwanderung - ein Ja im Widerspruch zu den Interessen des selbständigen Mittelstandes, im Widerspruch zur Haltung nahestehender Wirtschaftsorganisationen, durchgedrückt von einer nationalkonservativ-xenophoben Basis gegen eine passive Parteiführung, die sich nicht anlegen will mit den problematischen Geistern in den eigenen Reihen, die sie rief und die sie nun hat. Weitere Beispiele dieser Art werden folgen, sind programmiert: Nein zu einem Uno-Beitritt (wieso eigentlich, als ‚Alternative' zu einem EU-Beitritt?), Nein zur sicherheitspolitischen Modernisierung und Neuorientierung der Armee usw. Man braucht jedenfalls kein Hellseher zu sein, um auch der bisher so geschlossenen SVP zunehmende Flügelkämpfe und interne Querelen vorauszusagen, Abwendungen auch von modernen Konservativen, von liberalkonservativen Kräften, die sich in der SVP immer weniger wohl fühlen werden. - Sowohl links wie rechts eröffnen sich deshalb für die FDP Chancen und Potenziale. Mit eigenständigen Lösungen und Antworten kann sich der Freisinn glaubhaft und attraktiv abgrenzen, politisch profilieren, über die eigenen Reihen von heute hinaus auch als Alternative für links- wie rechtsliberale Kräfte empfehlen - Kräfte, die in der SPS und in der SVP zunehmend heimatlos werden. Dies bedingt allerdings eine geschickte, sachpolitisch standfeste und sattelfeste, vor allem aber eine auch personell noch breiter abgestützte Führungsarbeit beim Freisinn. Denn auch der Freisinn ist und bleibt eine Minderheit.

Um seine eigenen Positionen mehrheitsfähig und populär zu machen, braucht es von Fall zu Fall wechselnde Bündnispartner zur Rechten wie zur Linken, im Parlament wie auch im Volk. Solches aber ist ohne Kompromisse - einmal mehr Mitte-Links, einmal mehr Mitte-Rechts - nicht zu haben. Hierbei hängt letztlich alles davon ab, wer diesen Kompromissen den politischen Stempel aufdrückt, wer mehr Mehrheitsbeschaffer oder mehr Mehrheitsbildner ist, wer sie besser kommuniziert. Geschickt und schlau, mit Engagement und Herzblut geführt, stehen die Karten für die FDP in der Zukunft eher gut als schlecht.