FDP, SP, GB und SVP rufen gemeinsam nach dem Proporz bei
Regierungsratswahlen, um der CVP die Mehrheit zu nehmen. Erstaunt Sie
dieses Vorgehen?
Andreas Ladner*: Meistens sind es die kleineren Parteien, die die
Einführung des Proporzwahlverfahrens fordern. Eine solch geschlossene
Allianz wie in Luzern ist eher selten. Bis anhin waren es ja nur SP und
Grüne, die den Proporz verlangten, die bürgerlichen Parteien fuhren
besser mit dem Majorzsystem. Wahrscheinlich geht es der FDP nicht um das
bessere System, sondern darum, wie sie ihre Parteiinteressen am besten
sichern kann.
Ist das nicht bedenklich?
Ladner: Das ist Politik pur.
Dass jede Partei das Beste für sich herausholen und keine Macht
abgeben will, ist verständlich. Was meinen Sie zum Verhalten der CVP?
Ladner: Es ist sehr ungeschickt, dass sie sich im Hinblick auf
die kommenden Wahlen an ihre vier Sitze klammert. Die Diskussion um das
Wahlverfahren wäre vermutlich vom Tisch gefallen, wenn sie nachgegeben
hätte. So aber provozierte die CVP eine geschlossene Allianz. Diese
klaren Verhältnisse hätte sie verhindern können. Doch ist sie gefangen,
indem sie keines ihrer vier Regierungsratsmitglieder zum Rücktritt
zwingen will.
Verschliesst die CVP die Augen vor den Tatsachen?
Ladner: Die CVP hat ihre Mehrheit verloren, ganz klar, es ist
nicht mehr wie früher. Sie ist vom Wähleranteil her aber immer noch in
einer komfortablen Situation. Ihr 40-Prozent-Wähleranteil hat für die
Kantone ausserhalb der Innerschweiz allerdings etwas Anachronistisches.
Die CVP wird sich wohl damit abfinden müssen, dass solche Situationen
nicht ewig dauern.
Die Parteien gehen von der Möglichkeit aus, dass bei einer
Annahme der SVP-Initiative, die eine Verkleinerung der Regierung von
sieben auf fünf Mitglieder verlangt, plötzlich vier der CVP angehören
könnten.
Ladner: Das ist wohl vor allem eine Drohung im Hinblick auf die
Abstimmung. Vier CVP-Mitglieder bei einer Fünferregierung wäre nicht
einmal für die CVP gut.
Aber können Sie den Ärger der anderen Parteien nachvollziehen,
insbesondere der FDP, die nicht gerade Feuer und Flamme für den Proporz
ist?
Ladner: Die Situation der FDP wäre eigentlich im Majorz
vorteilhafter: Zusammen mit der CVP könnte sie die Regierungsratswahlen
managen, die beiden hätten komfortabel die Mehrheit gehabt. Doch das
Verhalten der CVP hat die FDP in diese Situation getrieben. Es ist
nachvollziehbar, dass sie verärgert reagiert.
Die ganzen Diskussionen um Proporz oder Majorz bringen Bewegung
in die kantonale Politik.
Ladner: Demokratie lebt vom Wettbewerb der Parteien. In der
Schweiz sind wir uns lange stabile Zusammensetzungen gewohnt, aber ich
denke, wir halten zu sehr am Bestehenden fest, das kommt den
Verhältnissen nicht mehr entgegen. Die Parteien können sich auf ihre
Position zurückziehen und sagen, welchen Anspruch auf Sitze sie haben,
ohne sich zu bemühen. Stabilität in diesem Sinne führt zu Trägheit. Wenn
eine Partei aus der Regierung fällt, dann muss sie sich anstrengen und
sich neu besser positionieren.
Aber ist es nicht von Vorteil, wenn Regierungen möglichst
stabil sind?
Ladner: Die Frage ist, wie stabil die Stabilität sein muss und
wie sinnvoll sie ist. Bei uns steht kein politisches System kurz vor dem
Zusammenbrechen, auch nicht in den Kantonen Zug und Tessin, wo sich der
Proporz seit Ende des 19. Jahrhunderts bewährt.
Was ist besser für Regierungsratswahlen: Proporz oder Majorz?
Ladner: Man kann nicht abschliessend und für alle Fälle sagen,
was besser oder schlechter ist. Der Bürger muss entscheiden, was er vom
Wahlsystem erwartet. Wer klare Verhältnisse will, entscheidet sich für
Majorz. Wer für eine Machtteilung zwischen den Parteien ist, kann sagen:
Das wird ehrlicher und sauberer mit dem Proporz erreicht. Beide
Wahlverfahren führen in der Schweiz zu Mehrparteienregierungen, die
Zusammensetzung der Exekutive ist nicht grundsätzlich anders. Beim
Proporz sind höchstens etwas mehr kleine Parteien auf Exekutivebene zu
finden, beim Majorz sind es eher die Grossen, die sich zusammen
arrangieren.
Und ab und zu den freiwilligen Proporz spielen lassen: Sie
verzichten zu gunsten einer anderen Partei auf einen Sitz.
Ladner: Auf den ersten Blick tönt der freiwillige Proporz schön
und gut. Die Grossen fahren aber damit deutlich besser. Wenn ihnen ein
Kandidat oder eine Kandidatin nicht passt, müssen die Kleinen jemand
anderen aufstellen. Sie sind stark auf deren Goodwill angewiesen.
Also wäre der Proporz gerechter. Gegner sagen aber, dass
Regierungsratswahlen Persönlichkeitswahlen seien. Beim Proporz würde die
Stimme in erster Linie der Partei gelten.
Ladner: Auch Proporzwahlen sind Persönlichkeitswahlen. Man kann
Proporzwahlen mit offenen Listen durchführen, wo also die Wählenden die
Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten bestimmen. Wird bei der
Wahl des Regierungsrates der Nationalratsproporz angewendet, ist
Kumulieren erlaubt, können Kandidaten von der Liste gestrichen oder die
Reihenfolge verändert werden. So hat auch der Proporz
Persönlichkeitscharakter, die Kandidierenden können Stimmen aus einem
anderen Lager holen. Bei der geschlossenen Liste hingegen liegt die
ganze Entscheidung bei den Parteien, sie bestimmen, wer an erster,
zweiter oder dritter Stelle steht. Bei Regierungsräten ist es sicher
sinnvoll, wenn sie Stimmen aus der ganzen Bevölkerung auf sich vereinen
können, sie müssen die Interessen des ganzen Kantons wahrnehmen.
Das spricht doch eigentlich für den Majorz.
Ladner: Die Persönlichkeitswahl kann man wie schon gesagt in
beiden Systemen haben. Beim Proporz gibt es einfach weniger klare
Mehrheiten. Es dürfte schwierig sein, sich für das eine oder andere
auszusprechen. Man muss sich die Frage stellen, was wichtiger ist: der
repräsentative Gedanke und die Integration der Parteien oder eine
möglichst klar zusammengesetzte Regierung, in der es zu Mehrheiten
kommt.
Was sind weitere Vor- und Nachteile der beiden Wahlsysteme?
Ladner: Die Wissenschaft ist sich beispielsweise nicht ganz
einig, was zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Ich komme zum
Schluss, dass beim Proporz mehr Leute wählen gehen, gerade in kleineren
Gemeinden. Der Proporz führt zu Parteien, die mobilisieren. Er kommt dem
Wählerwillen entgegen, das Angebot ist breiter. Andererseits ist es
weniger übersichtlich, wer gewählt wird. Es kommt letztlich auf die
Grösse eines politischen Systems und die darin vertretenen Parteien an.
Und wenn im Proporzsystem ein Regierungsratsmitglied vorzeitig
aufhört? Rutscht dann einfach, wie bei der Legislative, der nächste auf
der Liste nach?
Ladner. Das Nachrutschen hat bei Regierungsratswahlen natürlich
eine ganz andere Bedeutung als im Parlament. Hier kann man diese Frage
so lösen, indem man Neuwahlen oder Bestätigungswahlen durchführt. Die
Frage des Nachrutschens ist nicht mit dem Proporz verbunden.
Trotzdem: Warum kennen alle Kantone ausser Zug und Tessin das
Majorzwahlverfahren für die Regierung?
Ladner: Der Majorz war das erste Wahlverfahren, bevor es
überhaupt Parteien gab. Wenn es das Kräfteverhältnis nicht aufdrängt,
ist ein Wechsel nicht nötig. Der Majorz hat sich auch aus
machttheoretischen Überlegungen halten können. Solange sich die
bürgerlichen Parteien arrangieren können, steht ein Wechsel zum Proporz
gar nicht zur Diskussion. In Luzern ist das jetzt nicht mehr der Fall,
dort bemüht sich eine unheilige Allianz um den Proproz.
Diese will den Proporz sofort einführen, noch vor den nächsten
Regierungsratswahlen.
Ladner: Man könnte meinen, Luzern sei der letzte Kanton, der den
Proporz auf Regierungsratsebene noch nicht eingeführt hat. Man kann in
der Frage des Wahlverfahrens sicher auch noch etwas die Zeit spielen
lassen.
Wie schätzen Sie die Chancen für einen Systemwechsel im Kanton
Luzern ein?
Ladner: Wenn die Parteien die Leute hinter sich haben und man
davon ausgehen kann, dass sie entsprechend abstimmen, dann sähe es nicht
schlecht aus. Die Frage ist, ob das beim Stimmbürger so rüberkommt.
Immerhin betritt der Kanton Luzern Neuland und es besteht kein Druck, es
wie alle anderen machen zu müssen, weil bisher nur zwei Kantone dieses
System kennen. Einige werden Nein stimmen, weil sie es sich nicht
vorstellen können, dass plötzlich die SVP in der Regierung sitzt. Beim
Proporz kann das nicht mehr kontrolliert werden, dann hat eine Partei
mit entsprechender Stimmenanzahl Anrecht auf einen Sitz. Es wäre
erstaunlich, wenn sich Luzern für die Proporzwahl aussprechen würde,
gerade weil es der erste Anlauf ist. Das Ganze ist noch zu neu, die sich
wandelnde Kräftekonstellation zu unübersichtlich.