Neue Luzerner Zeitung vom 23.2.2002

 


Politologe Andreas Ladner zum Regierungsrats-Wahlsystem
 

«Es geht vor allem um Parteiinteressen»

Warum die Diskussion um Proporz oder Majorz dem Kanton Luzern gut tut - und warum die Frage nach dem besseren Wahlsystem so schwierig zu beantworten ist.

FDP, SP, GB und SVP rufen gemeinsam nach dem Proporz bei Regierungsratswahlen, um der CVP die Mehrheit zu nehmen. Erstaunt Sie dieses Vorgehen?


Andreas Ladner*: Meistens sind es die kleineren Parteien, die die Einführung des Proporzwahlverfahrens fordern. Eine solch geschlossene Allianz wie in Luzern ist eher selten. Bis anhin waren es ja nur SP und Grüne, die den Proporz verlangten, die bürgerlichen Parteien fuhren besser mit dem Majorzsystem. Wahrscheinlich geht es der FDP nicht um das bessere System, sondern darum, wie sie ihre Parteiinteressen am besten sichern kann.
 

Ist das nicht bedenklich?


Ladner: Das ist Politik pur.
 

Dass jede Partei das Beste für sich herausholen und keine Macht abgeben will, ist verständlich. Was meinen Sie zum Verhalten der CVP?


Ladner: Es ist sehr ungeschickt, dass sie sich im Hinblick auf die kommenden Wahlen an ihre vier Sitze klammert. Die Diskussion um das Wahlverfahren wäre vermutlich vom Tisch gefallen, wenn sie nachgegeben hätte. So aber provozierte die CVP eine geschlossene Allianz. Diese klaren Verhältnisse hätte sie verhindern können. Doch ist sie gefangen, indem sie keines ihrer vier Regierungsratsmitglieder zum Rücktritt zwingen will.
 

Verschliesst die CVP die Augen vor den Tatsachen?


Ladner: Die CVP hat ihre Mehrheit verloren, ganz klar, es ist nicht mehr wie früher. Sie ist vom Wähleranteil her aber immer noch in einer komfortablen Situation. Ihr 40-Prozent-Wähleranteil hat für die Kantone ausserhalb der Innerschweiz allerdings etwas Anachronistisches. Die CVP wird sich wohl damit abfinden müssen, dass solche Situationen nicht ewig dauern.
 

Die Parteien gehen von der Möglichkeit aus, dass bei einer Annahme der SVP-Initiative, die eine Verkleinerung der Regierung von sieben auf fünf Mitglieder verlangt, plötzlich vier der CVP angehören könnten.


Ladner: Das ist wohl vor allem eine Drohung im Hinblick auf die Abstimmung. Vier CVP-Mitglieder bei einer Fünferregierung wäre nicht einmal für die CVP gut.
 

Aber können Sie den Ärger der anderen Parteien nachvollziehen, insbesondere der FDP, die nicht gerade Feuer und Flamme für den Proporz ist?


Ladner: Die Situation der FDP wäre eigentlich im Majorz vorteilhafter: Zusammen mit der CVP könnte sie die Regierungsratswahlen managen, die beiden hätten komfortabel die Mehrheit gehabt. Doch das Verhalten der CVP hat die FDP in diese Situation getrieben. Es ist nachvollziehbar, dass sie verärgert reagiert.
 

Die ganzen Diskussionen um Proporz oder Majorz bringen Bewegung in die kantonale Politik.


Ladner: Demokratie lebt vom Wettbewerb der Parteien. In der Schweiz sind wir uns lange stabile Zusammensetzungen gewohnt, aber ich denke, wir halten zu sehr am Bestehenden fest, das kommt den Verhältnissen nicht mehr entgegen. Die Parteien können sich auf ihre Position zurückziehen und sagen, welchen Anspruch auf Sitze sie haben, ohne sich zu bemühen. Stabilität in diesem Sinne führt zu Trägheit. Wenn eine Partei aus der Regierung fällt, dann muss sie sich anstrengen und sich neu besser positionieren.
 

Aber ist es nicht von Vorteil, wenn Regierungen möglichst stabil sind?


Ladner: Die Frage ist, wie stabil die Stabilität sein muss und wie sinnvoll sie ist. Bei uns steht kein politisches System kurz vor dem Zusammenbrechen, auch nicht in den Kantonen Zug und Tessin, wo sich der Proporz seit Ende des 19. Jahrhunderts bewährt.
 

Was ist besser für Regierungsratswahlen: Proporz oder Majorz?


Ladner: Man kann nicht abschliessend und für alle Fälle sagen, was besser oder schlechter ist. Der Bürger muss entscheiden, was er vom Wahlsystem erwartet. Wer klare Verhältnisse will, entscheidet sich für Majorz. Wer für eine Machtteilung zwischen den Parteien ist, kann sagen: Das wird ehrlicher und sauberer mit dem Proporz erreicht. Beide Wahlverfahren führen in der Schweiz zu Mehrparteienregierungen, die Zusammensetzung der Exekutive ist nicht grundsätzlich anders. Beim Proporz sind höchstens etwas mehr kleine Parteien auf Exekutivebene zu finden, beim Majorz sind es eher die Grossen, die sich zusammen arrangieren.
 

Und ab und zu den freiwilligen Proporz spielen lassen: Sie verzichten zu gunsten einer anderen Partei auf einen Sitz.


Ladner: Auf den ersten Blick tönt der freiwillige Proporz schön und gut. Die Grossen fahren aber damit deutlich besser. Wenn ihnen ein Kandidat oder eine Kandidatin nicht passt, müssen die Kleinen jemand anderen aufstellen. Sie sind stark auf deren Goodwill angewiesen.
 

Also wäre der Proporz gerechter. Gegner sagen aber, dass Regierungsratswahlen Persönlichkeitswahlen seien. Beim Proporz würde die Stimme in erster Linie der Partei gelten.


Ladner: Auch Proporzwahlen sind Persönlichkeitswahlen. Man kann Proporzwahlen mit offenen Listen durchführen, wo also die Wählenden die Reihenfolge der Kandidatinnen und Kandidaten bestimmen. Wird bei der Wahl des Regierungsrates der Nationalratsproporz angewendet, ist Kumulieren erlaubt, können Kandidaten von der Liste gestrichen oder die Reihenfolge verändert werden. So hat auch der Proporz Persönlichkeitscharakter, die Kandidierenden können Stimmen aus einem anderen Lager holen. Bei der geschlossenen Liste hingegen liegt die ganze Entscheidung bei den Parteien, sie bestimmen, wer an erster, zweiter oder dritter Stelle steht. Bei Regierungsräten ist es sicher sinnvoll, wenn sie Stimmen aus der ganzen Bevölkerung auf sich vereinen können, sie müssen die Interessen des ganzen Kantons wahrnehmen.
 

Das spricht doch eigentlich für den Majorz.


Ladner: Die Persönlichkeitswahl kann man wie schon gesagt in beiden Systemen haben. Beim Proporz gibt es einfach weniger klare Mehrheiten. Es dürfte schwierig sein, sich für das eine oder andere auszusprechen. Man muss sich die Frage stellen, was wichtiger ist: der repräsentative Gedanke und die Integration der Parteien oder eine möglichst klar zusammengesetzte Regierung, in der es zu Mehrheiten kommt.
 

Was sind weitere Vor- und Nachteile der beiden Wahlsysteme?


Ladner: Die Wissenschaft ist sich beispielsweise nicht ganz einig, was zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Ich komme zum Schluss, dass beim Proporz mehr Leute wählen gehen, gerade in kleineren Gemeinden. Der Proporz führt zu Parteien, die mobilisieren. Er kommt dem Wählerwillen entgegen, das Angebot ist breiter. Andererseits ist es weniger übersichtlich, wer gewählt wird. Es kommt letztlich auf die Grösse eines politischen Systems und die darin vertretenen Parteien an.
 

Und wenn im Proporzsystem ein Regierungsratsmitglied vorzeitig aufhört? Rutscht dann einfach, wie bei der Legislative, der nächste auf der Liste nach?


Ladner. Das Nachrutschen hat bei Regierungsratswahlen natürlich eine ganz andere Bedeutung als im Parlament. Hier kann man diese Frage so lösen, indem man Neuwahlen oder Bestätigungswahlen durchführt. Die Frage des Nachrutschens ist nicht mit dem Proporz verbunden.
 

Trotzdem: Warum kennen alle Kantone ausser Zug und Tessin das Majorzwahlverfahren für die Regierung?


Ladner: Der Majorz war das erste Wahlverfahren, bevor es überhaupt Parteien gab. Wenn es das Kräfteverhältnis nicht aufdrängt, ist ein Wechsel nicht nötig. Der Majorz hat sich auch aus machttheoretischen Überlegungen halten können. Solange sich die bürgerlichen Parteien arrangieren können, steht ein Wechsel zum Proporz gar nicht zur Diskussion. In Luzern ist das jetzt nicht mehr der Fall, dort bemüht sich eine unheilige Allianz um den Proproz.
 

Diese will den Proporz sofort einführen, noch vor den nächsten Regierungsratswahlen.


Ladner: Man könnte meinen, Luzern sei der letzte Kanton, der den Proporz auf Regierungsratsebene noch nicht eingeführt hat. Man kann in der Frage des Wahlverfahrens sicher auch noch etwas die Zeit spielen lassen.
 

Wie schätzen Sie die Chancen für einen Systemwechsel im Kanton Luzern ein?


Ladner: Wenn die Parteien die Leute hinter sich haben und man davon ausgehen kann, dass sie entsprechend abstimmen, dann sähe es nicht schlecht aus. Die Frage ist, ob das beim Stimmbürger so rüberkommt. Immerhin betritt der Kanton Luzern Neuland und es besteht kein Druck, es wie alle anderen machen zu müssen, weil bisher nur zwei Kantone dieses System kennen. Einige werden Nein stimmen, weil sie es sich nicht vorstellen können, dass plötzlich die SVP in der Regierung sitzt. Beim Proporz kann das nicht mehr kontrolliert werden, dann hat eine Partei mit entsprechender Stimmenanzahl Anrecht auf einen Sitz. Es wäre erstaunlich, wenn sich Luzern für die Proporzwahl aussprechen würde, gerade weil es der erste Anlauf ist. Das Ganze ist noch zu neu, die sich wandelnde Kräftekonstellation zu unübersichtlich.
 



INTERVIEW VON MANUELA SPECKER

 

 


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