Landbote, 18.4.2000


«Defizite in der SP gibt es auch ohne Ursula Koch»

Strukturreform, personelle Erneuerung und Neudefinition sozialdemokratischer Politik; darin sieht der Politikwissenschafter Andreas Ladner die zentralen Herausforderungen, die die SP zu bewältigen hat.

Interview: WalterBührer

Über das Scheitern von Ursula Koch an der Spitze der SP Schweiz ist viel geschrieben worden. Sehen Sie, Herr Ladner, auch Defizite in der SP, die mit Frau Koch nichts oder wenig zu tun haben?

Andreas Ladner: Solche Defizite gibt es zweifellos. Zunächst einmal auf der Ebene der Parteiorganisation: Die Strukturen der SP setzen voraus, dass die an der Führung beteiligten Personen untereinander harmonieren. Es braucht punkto Hierarchie wie auch punkto Arbeitsteilung klarere Regelungen.

Auch was die Auseinandersetzung mit aktuellen Themen betrifft, hinterliess die SP in den letzten Jahren keinen starken Eindruck...

Von sachpolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der SP hat man seit langem nichts mehr gehört. Eine Partei braucht aber inhaltliche Auseinandersetzungen, um sich positionieren zu können. Wenn man zu Themen, die von anderen Parteien angezogen werden, bessere Vorschläge machen kann, spielt es keine entscheidende Rolle, ob man von Anfang an dabei gewesen ist. Zum Beispiel beim Thema AHV: Hätte die SP auf die SVP-Vorstösse rasch und glaubwürdig antworten können, wäre dies am Ende vorteilhaft für sie gewesen.

Dies würde jedoch einen politischen Diskurs innerhalb der Partei voraussetzen, der auch unterschiedliche Meinungen zulässt?

Gewiss. Meines Erachtens wäre es falsch, anzunehmen, eine Partei müsse nach aussen immer geschlossen auftreten. Insbesondere bei Fragen, wo die konkreten Antworten nicht zum vornherein feststehen. Eine Partei darf dazu stehen, dass in ihrem Kreis unterschiedliche Meinungen vorhanden sind. Der SVP beispielsweise ist es immer wieder gelungen, sachliche Differenzen in politisches Kapital umzumünzen. Auch die kontroverse Parolenfassung zu den bilateralen Abkommen bringt der SVP möglicherweise mehr Gewinn als ein schlankes Ja oder Nein.

Erschweren nicht die Medien ­ mit ihrem Ruf nach raschen, pointierten Stellungsbezügen ­ diesen innerparteilichen Meinungsbildungsprozess?

Selbstverständlich verstärken die Medien Konflikte. Bei der SP wurden sie teilweise genüsslich zelebriert. Bei der SVP spricht man zwar von handfesten Konflikten. Im Vergleich mit der SP verkraftet die SVP interne Auseinandersetzungen jedoch relativ gelassen.

Hat es die SP nicht versäumt, sich thematisch auf die neuen Mittelschichten auszurichten, die heute ihr hauptsächliches Wählerpotential darstellen?

Zwischen den Forderungen, welche die SP stellt, und den Lebensbedingungen der Leute, welche SP wählen, sind zweifellos Diskrepanzen festzustellen. Beispielsweise, was die Regulierung des Arbeitsmarktes betrifft: Die neuen Mittelschichten, in denen die SP stark geworden ist, bestehen grossenteils aus Personen, die ihre Arbeitszeit relativ frei gestalten und durchaus bereit sind, auch Leistungskomponenten bei der Entlöhnung zu akzeptieren. Die SP macht ­ etwas überspitzt formuliert ­ Politik für Leute, die letztlich ihre Stimme der SVP geben.

Allerdings stehen hinter ihrer Politik unterschiedliche Grundwerte.

Die SP orientiert sich traditionell am Bild einer solidarischeren, gerechteren Gesellschaft. Dass diese Werte auch in Zukunft von einer Partei vertreten werden sollten, steht für mich ausser Zweifel. Allerdings legt die SP zu wenig Offenheit an den Tag, was die Umsetzung in praktische Politik betrifft: Beispielsweise wäre es denkbar, Eigenverantwortung vermehrt zu fördern, solange ein gutes Netz staatlicher Absicherung existiert. Über die Frage, welche Elemente zur staatlichen Grundversorgung gehören und welche der individuellen Eigenverantwortung überlassen werden können, müssten unterschiedliche Meinungen möglich sein.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen, welche die neue SP-Führung zu bewältigen hat?

Die strukturellen Reformen werden sich relativ einfach durchführen lassen. Hingegen ist es für die SP entscheidend, ob sie sich personell verstärken kann. Nach wie vor stehen Leute an der Spitze, welche diese Partei zum Teil seit Jahrzehnten geprägt haben. Bei der AHV war es typischerweise die ältere Generation, die letzte Woche Vorschläge unterbreitet hat. Auch bei der Koch-Nachfolge stehen ältere Personen im Vordergrund.

Die zweite Herausforderung sehe ich bei der Frage: Was ist eine moderne Sozialdemokratie? Will die SP weiterhin ihre traditionell linken Forderungen aufrechterhalten, oder gibt es Möglichkeiten, die Partei zu öffnen? Die SP wird sich zwangsläufig mit modernen sozialdemokratischen Strömungen, wie wir sie im Ausland beobachten, auseinandersetzen müssen. Mich erstaunt, dass eine solche Diskussion in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz bisher praktisch nicht stattgefunden hat.