BernerZeitung vom 18. Mai 2002

Protestwähler. Lieber ein Verführer als ein graues Parteiprogramm


Politologe Andreas Ladner über den Niedergang der traditionellen Parteien - von Stefan von Bergen

Herr Ladner, verkommen Wahlen in Europa zu einem zynischen Spiel, in dem man ohne echte Überzeugung abwählt statt wählt und Denkzettel verteilt?
Der Umgang mit dem Wählen verändert sich tatsächlich. Man wählt nicht mehr mit der gleichen Konstanz und mit dem gleichen Pflichtbewusstsein wie früher, als man von einer Partei überzeugt war und ihr treu blieb. Heute wird auch gewählt, um ein Missbehagen kundzutun. Das tun zwar nicht Mehrheiten. Aber ein Teil der Leute, die lange immer die gleiche Partei gewählt haben, wollen dieser plötzlich einen Denkzettel verpassen. In der Schweiz macht etwa die SVP in den Zürcher Goldküstengemeinden, einer FDP-Hochburg, erstaunlich viele Stimmen.
In Frankreich haben die Denkzettelwähler ein politisches Erdbeben ausgelöst.
Auch in Frankreich waren es nur ein paar wenige Prozent Wechselwähler. Wenn schon nur zweioder drei Prozent der Stimmen nicht zu den Trotzkisten sondern zu den Sozialisten gegangen wären, hätte Le Pen den zweiten Wahlgang nicht erreicht.
Le Pens Erfolg ist doch mehr als nur Wahlarithmetik!
Le Pen hat nur etwa 250 000 Stimmen mehr erreicht als bei den letzten Präsidentschaftswahlen. Die Wahlbeteilung sank aber. Deshalb stand er prozentual besser da. Es waren nicht dramatische Verschiebungen, sie hatten aber dramatische Folgen. Natürlich gibt es noch weitere Gründe: Die Kriminalität ist in Frankreichs Banlieus ein Problem. Und die Wähler schienen unzufrieden mit der «Cohabitation» von Bürgerlichen und Sozialisten, die ähnliche Programme vertreten. Deshalb wurden vermehrt die Extreme gewählt.
Eine wachsende Zahl von Wählern wählt nicht einmal znyisch, sondern überhaupt nicht. Bei den Berner Kantonswahlen waren es eben über 70 Prozent. Wem nützen eigentlich die Nichtwähler?
Früher ging man davon aus, dass eine hohe Wahlbeteiligung der Linken helfe, weil diese die Masse der Arbeiter organisiere. Heute ist es eher so, dass die Rechten von einer grossen Mobilisierung profitieren würden. Das hat man bei einigen Schweizer Abstimmungen gesehen, die stark mobilisierten und unerwartet hohe Anteile für die SVP ergaben. Weil die SVP im Kanton Bern Regierungs- und nicht Protestpartei ist, profitiert sie auch von einer tieferen Wahlbeteilung. Generell geht es um die Frage: Ist es ein Problem, wenn 60 Prozent nicht an die Urne gehen?
Es ist doch ein Problem, wenn sich immer weniger Leute für Politik interessieren?
In der Schweiz haben wir uns mit der tiefen Stimmbeteilung arrangiert. In anderen Ländern, etwa in Frankreich, beginnt man sie überhaupt erst zu beklagen. Aber die Frage ist doch: Ist eine möglichst hohe Wahlbeteiligung Garant für eine bessere Politik?
Ist sie es denn nicht?
Es ist mir jedenfalls keine Studie bekannt, die das hinreichend begründen würde. Wahlentscheide wären vielleicht besser legitimiert. Aber wichtiger ist, ob man überhaupt die Gelegenheit hat, an Wahlen teilzunehmen und dass mit einer gebührenden Sorgfalt gewählt wird. Wir werden nie mehr eine Zeit erleben, in der sich alle an Wahlen beteiligen werden. Die Leute orientieren sich heute vermehrt am Outcome der Politik. Wie Kunden: wenn es gut funktioniert, sind sie zufrieden mit den Politikern und wählen sie wieder.
Wählt man heute lieber Personen als Programme?
Personen haben sicher an Bedeutung gewonnen. Das hat auch mit den Medien zu tun, weil man über Personen besser berichten kann als über Parteiprogramme. Es ist sinnlos zu bedauern, dass die Wähler heute vor der Wahl nicht mehr fünf Parteiprogramme studieren. Aber ich bin optimistisch genug, dass sich Personen durchsetzen, die ihr Programm mit einer gewissen Glaubhaftigkeit vertreten.
Ist es glaubhaft, wenn Christoph Blocher vom drohenden Sozialismus und Silvio Berlusconi von einem kommunistischen Putsch sprechen?
Die Leute haben immer eine spezifische Wahrnehmung dessen, was ihnen geboten wird. Wer Blocher oder Berlusconi wählt, interessiert sich nicht für den historischen Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen. Diese sind überspitzt, aber sie kommen beim Wähler rüber als Gefühl, dass es da etwas Linkes gibt im Staat. Das ist auch nicht völlig falsch. Forderungen, die von den 68ern vertreten wurden - etwa die Legalisierung weicher Drogen oder das Konkubinat -, sind heute mehr oder weniger zu konsensualen Werten geworden. Leute mit einem konservativen Standpunkt können folgerichtig zum Schluss kommen, sie seien von linken Werten beherrscht.
Ist Politik heute ein rhetorischer Schlagabtausch zwischen Positionen, an die man gar nicht richtig glaubt?
Es gehört heute zum Spiel der Politik, dass man mit Überspitzungen und Extrempositionen das eigene Lager durchzubringen versucht. Man geht an die Schmerzgrenze und hält sich aber noch eine Hintertüre offen, durch die man sich argumentativ aus der Affäre ziehen könnte. Die SVP macht das wunderbar vor. Aber auch die Linke arbeitet so: Die SP unterstützt etwa die Halbierung des Verkehrs, obwohl sie das nicht will und weiss, dass es unrealistisch ist. Diese Methode ist aber zweischneidig. Bei den medialen Diskussionen verschafft man sich so mehr Gehör, die Wähler hören aber nicht genau hin. Sie sagen sich: Das finde ich doch auch, endlich sagt es einer mal. Was der Preis einer zugespitzten Forderung ist, überlegt man dann nicht mehr.
Vor einem Jahr wurde Italiens Ministerpräsident Berlusconi gewählt. Zeigt sein Beispiel, dass Wähler im vollen Wissen einen Verführer wählen?
Berlusconi hat tatsächlich etwas von einem Verführer. Er hat etwas Allmächtiges, weil er durch seinen Reichtum und seine Kontrolle über die Medien Möglichkeiten zur Verfügung hat wie kaum ein Politiker. Er ist für das Funktionieren der Demokratie eine Bedrohung. Erstaunlicherweise hat Italien wenig darauf reagiert, es hat ihn gar wiedergewählt. Ich kann mir das nur erklären durch ein politisches System, das nie Stabilität erlangt hat und anfällig ist auf Korruption. Die Italiener sagen sich vielleicht: Wir haben alle Varianten und Koalitionen probiert, kaum eine überlebte länger als fünf Monate. Aus diesem Verdruss heraus nimmt man Berlusconi vielleicht als grossen Captain wahr. Und es gab sicher auch eine Sympathie für seine Grandezza, die die Leute blendet.
Berlusconis Partei «Forza Italia» mutet an wie eine applaudierende Showtruppe. Ist das die Partei der Zukunft?
Die traditionellen Parteien mit ihren Sektionen und Ausschüssen sind wahrscheinlich nicht die Parteiform der Zukunft. «Forza Italia» ist eine wirksame Bündelung von Kräften hinter einem Leader. Der Preis dafür dürfte allerdings sein, dass eine solche Organisationsform längerfristig weniger gesichert ist.
Ist das politische Erdbeben in Europa nicht nur die Krise der Linken, sondern überhaupt der traditionellen Partei?
Ja. Es macht aber mehr Sinn, von einem Wandel der Parteien zu sprechen. In den letzten Jahren haben sie sich von dem entfernt, was sie einmal gewesen sind.
Was sind sie denn gewesen?
Die Entstehung der Grossparteien in Westeuropa war das Resultat verschiedener Konflikte in der historischen Entwicklung. Ein Beispiel: Im Laufe der Nationenbildung in Europa vereinten sich die Kräfte, die für einen Zentralstaat waren ebenso wie diejenigen, die für eine föderalistische Struktur waren. In der Schweiz war das der FDP-CVP-Konflikt. Aus dem Konflikt zwischen Arbeitern und Kapital entstanden die sozialdemokratischen Parteien, aus demjenigen zwischen Stadt und Land die Bauernparteien. Diese Konfliktlinien haben die Parteisysteme relativ lange strukturiert.
Wie positionieren sich die Parteien heute?
Früher wählten die Arbeiter SP, die Bauern SVP, die Katholiken CVP und das Grosskapital FDP. Heute sind sie nicht mehr in einem bestimmten Segment der Bevölkerung verankert. Diese Entwicklung hat schon in den sechziger Jahren begonnen. Damals hat man das Modell der Volksparteien propagiert und wollte alle Bevölkerungskreise ansprechen. In der Wohlstandsgesellschaft verwischten sich ja auch die Klassengrenzen. Die Öffnung der Parteien ging aber auch einher mit einer Entfremdung von ihrer Herkunft.
Wo nehmen die Parteien denn heute ihre Wähler her?
Zum einen haben sie einen Teil ihrer Stammwähler durch andere Gruppen austauschen müssen, zum anderen müssen sie Wechselwähler gewinnen. Das klassische Beispiel für einen eigentlichen Austausch der Basis ist in der Schweiz die SP. Früher waren das klar die Arbeiter. Heute wählen die Arbeiter, die es noch gibt, vorzüglich die SVP. Der SP ist es aber gelungen, die Abgänge zu ersetzen durch Leute aus der besser gebildeten, gehobeneren Mittelschicht.
Ist es untypisch, dass die Schweizer SP ihren Anteil halten konnte? In Europa scheinen die Linken ja im Niedergang zu sein.
Man muss differenzieren. In der Schweiz hat die SP nicht viel verloren, aber auch nichts gewonnen. Und sie ist im Vergleich mit anderen sozialdemokratischen Parteien Europas mit ihren etwa 22 Prozent Wähleranteil eher schwach. In Europa verloren die Sozialdemokraten tatsächlich in mehreren Ländern die Regierungsverantwortung. Die Ursachen muss man aber von Land zu Land betrachten. Die SPs haben unterschiedliche Strategien, und die politischen Systeme der Länder sind verschieden. Deutschland oder England haben das System eines ab und zu gewollten Regierungswechsels, die Schweiz garantiert der SP die Regierungsbeteiligung in einer Mehrheitskoalition. Es gibt die neue Mitte-Position von Tony Blairs englischer Labour Party oder von Gerhard Schröders SPD. Lionel Jospins Parti socialiste und die SP Schweiz positionieren sich eher links.
In den liberalen Ländern Dänemark und nun Holland erfolgten die Niederlagen der Linken und Vormarsch der Rechten fast schockartig. Was ist da passiert?
Beide Länder gelten als liberale, fortschrittliche Länder, die erfolgreiche Wirtschaftsprogramme verfochten. Der Erfolg der Rechten mag da zwar auch mit einem Protest zu tun haben, aber die Ursachen sind weniger handfest als in Frankreich, wo die sozialen Spannungen offensichtlich sind. Gerade in Wohlfahrts- und Sozialstaaten wie Holland oder Dänemark wird der Kuchen grosszügiger verteilt. Also gibt es auch mehr Anlass zu kritisieren, dass an Leute verteilt wird, die es sich nicht durch Leistung verdient haben. Vielleicht fällt das in Holland besonders auf, weil es ein transparentes Land ist. Das New Public Management, das genau aufzeigt, was wieviel kostet, kommt ja aus Holland. Sicher gilt: in diesen Ländern ist der gesellschaftliche Modernisierungssprozess schneller vorangeschritten, und nun macht sich der Widerstand bemerkbar.
In England und Deutschland gibt es keine starke rechtspopulistische Partei. Warum?
England und Deutschland haben und hatten durchaus Probleme mit rechtsextremen Parteien, etwa den Republikanern in Deutschland. Die beiden Politsysteme sind aber Regierungs-Oppositions-Systeme, in denen die Zugangshürden für kleinere Parteien sehr hoch sind. In Deutschland ist man aus historischen Gründen hellhörig gegen rechte Parteien und hat auch die Möglichkeit, diese zu verbieten.
Gibt es bei den deutschen Wahlen im September doch einen Ruck nach rechts, zur CDU/CSU, weil die Wähler Rot-grün einen Denkzettel verpassen wollen?
Im Moment sieht es für Schröder nicht so gut aus. Er müsste im Wahlkampf zeigen, dass das, was er mit seiner neuen Mitte versucht hat, ein zukunftsträchtiges Projekt ist. Dafür fehlt ihm aber die Zeit. Er muss auf eine gewisse Portion Glauben hoffen.
In Österreich ist Jörg Haiders FPÖ Regierungspartei und seither eher am Kriseln. Werden die Rechten entzaubert, indem man sie an der Macht teilhaben lässt?
Es ist jedenfalls ein demokratischer Test des FPÖ-Programms, denn in der Regierung spielen andere Entscheidungsrationalitäten. Da kann man nicht alles machen, was man so leicht sagt. Aber Haider hat sich ja zurückgezogen, als ob er sagen würde: Ich kann in dieser Regierung nichts bewirken, wartet, bis ich Kanzler werde. Die FPÖ hat zwar an Schwung verloren, die Frage ist aber, ob die Forderungen der Rechtspopulisten schon vom Tisch sind, wenn diese in eine Regierung eingebunden sind. Genug Leute glauben weiterhin daran. Und es kann ja ein Neuer kommen mit denselben Ideen.
Wie lange dauert der Aufstieg der Rechten denn noch an?
Die Geschichte der Parteien zeigt, dass alles in Wellen passiert. Wir sind eher am Anfang einer solchen Welle. Wir erleben ja jetzt erst den Protestrutsch.
Steht uns also ein autoritäres Jahrzehnt bevor?
Wir werden die nächsten zehn Jahre jedenfalls unter den Forderungen verbringen, die von der Rechten propagiert werden. Diese Forderungen sind prominent gestellt und werden von einem Teil der Leute unterstützt. Entscheidend ist nun, wie diejenigen, die an der Macht sind, mit diesem Druck umgehen. Ob sie diese Probleme aufnehmen und zu entschärfen versuchen. Oder ob sie sich wie die Rechten gebärden, um die Wähler der Rechten zu holen. Dann wird es einen wirklichen Rechtsrutsch geben.
Was werden die Wähler wählen?
Die Demokratie ist heute allzu selbstverständlich geworden. Sie war schon lange nicht mehr von totalitären Tendenzen gefährdet. Auch deshalb gibt es dieses Liebäugeln mit den extremen, aber auch lustigen Lagern. Das verspricht Spannung und Action. Le Pens Erfolg ist jetzt vielleicht eine Warnung, ein notwendiger Schrecken.
Was wäre die Lehre daraus?
Man hat als Wähler eine gewisse Verantwortung, man sollte nicht nur mit der Richtung einer Partei einverstanden sein, sondern auch zu ihren Lösungsvorschlägen stehen können.
Tönt ganz schön moralisch.
Ich habe kein Problem damit, für eine Wiederbesinnung auf die Demokratie zu plädieren. 
Der Autor: Stefan von Bergen ist «Zeitpunkt»-Leiter.
 

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