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Der Nationalratssaal
aus der Vogelperspektive. In welche Richtung der Strukturwandel
des Schweizer Parteiensystems geht, ist noch nicht entschieden.
Bei den Parlamentswahlen von 2003 wird sich herausstellen, ob die
SVP zur stärksten bürgerlichen Kraft wird. Foto Karl-Heinz Hug/Keystone
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Bern. Bei den Nationalratswahlen 1999
fand für schweizerische Verhältnisse ein Erdrutsch statt. Die SVP hat
nicht nur die CVP überholt, die beim Anteil der Wählerstimmen knapp
vor ihr gelegen war, sondern ist mit einem Gewinn von 7,6
Prozentpunkten zur stärksten Partei geworden. Seither widerspiegelt
die seit 1959 existierende Zauberformel nicht mehr die
Kräfteverhältnisse der Parteien, was regelmässig zu Diskussionen über
Sinn und Zweck des Konkordanzsystems führt. Eine derart grosse
Verschiebung der Wählerstimmenanteile zwischen den Bundesratsparteien
hatte es seit der Einführung des Proporzwahlsystems im Jahre 1919
nicht mehr gegeben.
Es stellt sich die Frage, ob die Wahlen von 1999 den Anfang einer
neuen Epoche in der Geschichte des Schweizer Parteiensystems markieren
oder ob es sich lediglich um eine vorübergehende Störung des
Parteiengleichgewichts handelt. Die seither durchgeführten kantonalen
und kommunalen Wahlen geben - zusammen mit diversen Volksabstimmungen
- Aufschluss darüber, wie nachhaltig die Veränderungen sind und was
von den Wahlen 2003 zu erwarten ist.
SP leicht im Plus
Seit Herbst 1999 ist die SVP in den Kantonen von Sieg zu Sieg geeilt.
Zwischen März 2000 und März 2002 hat sie mit Ausnahme des Kantons
Graubünden in allen Kantonen, in denen sie bereits vertreten war, ihre
Wählerstimmenanteile bei Parlamentswahlen steigern können. Die
Zugewinne in den Kantonen Schwyz, Freiburg, Solothurn,
Basel-Landschaft, St. Gallen, Aargau, Thurgau und Waadt beliefen sich
dabei durchschnittlich auf 4,2 Prozentpunkte. Zudem ist die SVP mit
einem durchschnittlichen Wählerstimmenanteil von knapp zehn Prozent
neu nun auch in den Kantonen Uri, Nid- und Obwalden, Basel-Stadt,
Wallis und Genf vertreten. Insgesamt hat die Partei in den kantonalen
Parlamenten mehr als 130 Sitze geholt. Ganz leicht im Plus liegt
bezüglich der Wählerstimmenanteile auch die SP. Den Gewinnen in Uri,
Ob- und Nidwalden, Solothurn, St. Gallen, Graubünden, Thurgau und
Waadt stehen etwas geringere Verluste in Schwyz, Freiburg,
Basel-Stadt, Schaffhausen, Aargau, Wallis, Neuenburg und Genf
gegenüber.
Rückgang bei der CVP
Ganz anders sieht es bei der CVP aus. Hier muss die Entwicklung der
Wählerstimmenanteile bei den kantonalen Legislativwahlen als
besorgniserregend bezeichnet werden. In den meisten Kantonen sind die
Zahlen rückläufig, und in den Kantonen Schwyz, Basel-Stadt, Thurgau,
Wallis und Genf, wo die CVP Zugewinne verzeichnen konnte, betrugen
diese weniger als einen Prozentpunkt. Der CVP garantieren allerdings
die beachtlichen Werte in ihren Hochburgen - keine andere Partei
verfügt in einzelnen Kantonen über eine derart dominante Stellung -,
dass sie sich um ihre Existenz keine Sorgen machen muss. Und nach wie
vor verfügt sie, nicht zuletzt dank ihrer guten Vertretung im
Ständerat und den zwei Bundesräten, über eine starke Stellung in Bern.
Ihre schwache und teilweise schwindende Bedeutung in den grossen und
wichtigen Kantonen Zürich, Bern, Basel-Stadt, Waadt und Genf - genau
dort, wo die CVP seit den 1970er Jahren versucht, verstärkt Fuss zu
fassen - bringt jedoch die Gefahr mit sich, dass die Partei inskünftig
nicht mehr als «nationale Kraft» wahrgenommen wird.
Die Bewertung für die FDP fällt zwar deutlich besser aus als für die
CVP, aber auch sie kommt ins Minus zu liegen. Die FDP verfügt anders
als die CVP über keine klaren Hochburgen, in denen sie mehr als 40
Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen kann. Der Partei mangelt
es an Ausstrahlung und Dynamik; sie wäre auf Erfolge angewiesen.
Besonders negativ wirkt sich für sie das Abschneiden bei den jüngsten
Wahlen in der Stadt Zürich aus.
Kleinparteien in Bedrängnis
Die 90er Jahre standen im Zeichen einer Polarisierung auf der Linken
und auf der Rechten. Aber nicht nur FDP und CVP hatten mit Problemen
zu kämpfen. Auch die kleinen Parteien hatten ihre Schwierigkeiten. Der
Landesring der Unabhängigen und die Freiheitspartei sind von der
Bildfläche verschwunden, die Schweizer Demokraten gibt es kaum mehr
und auch die Grünen standen unter Druck. Die Wahlen im Waadtland und
in der Stadt Zürich am vergangenen Wochenende haben aber gezeigt, dass
auf der Linken durchaus Bedarf nach einem breiteren Angebot besteht
und dass die Grünen noch nicht abzuschreiben sind. Überhaupt lehrt die
Geschichte des Schweizer Parteiensystems, dass sich immer wieder
Phasen mit mehreren kleineren und solche mit einer Konzentration auf
die grösseren Parteien ablösen. Dies dürfte wohl auch in Zukunft so
sein.
SVP hat die Nase vorn
Dass die jüngsten Wählerstimmenverschiebungen Ausdruck eines
anhaltenden Trends sind, bestätigt der Blick auf sämtliche kantonalen
Wahlgänge seit 1972 (vgl. Graphik Seite 4). In den letzten 30 Jahren
haben die Bundesratsparteien in den Kantonen zusammen rund 520
Wahlkämpfe bestritten. Dabei haben sie bei 43 Prozent der
Wahlteilnahmen Wählerstimmenanteile gewonnen und bei 57 Prozent
verloren. Am häufigsten Gewinne feiern konnte die SP, am wenigsten
häufig die CVP, aber auch bei SVP und FDP waren «Niederlagen» häufiger
als «Siege». Entscheidend ist aber die Gesamtbilanz. Deutlich im Plus
liegt hier die SVP mit einem durchschnittlichen Gewinn von 0,9
Prozentpunkten. Auch die SP liegt leicht im Plus. Auf sämtliche
Wählgänge umgerechnet hat sie pro Wahl 0,1 Prozentpunkte dazugewonnen,
während bei der FDP ein Minus von 0,3 und bei der CVP ein solches von
1,1 Prozent resultiert.
Exekutiven - die grosse Hürde
Wenig rosig sieht die Erfolgsbilanz der SVP in den Exekutiven aus,
zumindest in den neuen Gebieten. Seit 1999 konnte sie keine
zusätzlichen Regierungsratssitze gewinnen. Dass mit den Gewinnen in
den Parlamentswahlen kaum Zugewinne in den kommunalen und kantonalen
Exekutiven einhergehen, hängt zum einen mit der Oppositionsrolle der
SVP zusammen. Die Wählerinnen und Wähler honorieren die
holzschnittartige Kritik im Parlament, schenken der Partei aber kein
Vertrauen für eine konstruktive Regierungsarbeit. Für eine schnell
wachsende Partei ist es aber generell schwierig, genügend geeignete
Kandidatinnen und Kandidaten für Regierungsämter zu finden.
Schliesslich ist es auch ein rein rechnerisches Phänomen, das mit den
Majorzwahlen, wie sie für Exekutivwahlen üblich sind, verbunden ist.
Auch eine grosse Partei ist in einem Drei- bis Vier-Parteien-System
auf die Unterstützung oder zumindest auf die Billigung mindestens
einer anderen Partei angewiesen. Solange die SVP nicht zusammen mit
der FDP oder der CVP antritt, sind die Hürden sehr hoch. Kommen ihr
die anderen Parteien aus Opportunismus oder Überzeugung entgegen, so
stehen ihr auch hier die Türen bald weit offen. Hätte der Bürgerblock
in der Stadt Zürich bei den jüngsten Wahlen gespielt, so hätte das
Ergebnis für den Stadtrat sowohl für die FDP als auch für die SVP
deutlich besser ausgesehen. In ihren traditionellen Kantonen Zürich,
Bern, Glarus, Schaffhausen und Thurgau ist die SVP auf dem Lande aber
auch hier gut verankert. Die SVP hat zudem schweizweit fünfmal mehr
Gemeindepräsidenten als die SP.
Verwertung des SVP-Gewinns?
Parteipolitik dreht sich vorab um Wählerstimmenanteile und Sitze, aber
auch um politische Inhalte und Forderungen. Das schweizerische System
mit der direkten Demokratie ermöglicht den Parteien, abseits der
Parlamente und Exekutiven Einfluss auf die Politik zu nehmen.
Betrachtet man hier die Erfolgsbilanz der SVP, so fällt diese,
zumindest auf den ersten Blick, deutlich bescheidener aus. Seit der
erfolgreichen Verhinderung des EWR-Beitritts 1992 ist die SVP kaum
mehr siegreich gewesen und vermochte weder das Ja zur Weltbank, die
bilateralen Verträge, noch die bewaffneten Auslandeinsätze der Armee
zu verhindern. Auch bei der jüngsten Abstimmung über den UNO-Betritt
stand sie auf der Verliererseite.
Dass die in Volksabstimmungen erfolgreichen Parteien keinen Erfolg bei
Wahlen haben, während die erfolglosen honoriert werden, ist nur
scheinbar paradox. Wenn immer bei einer Vorlage die SVP die drei
anderen Bundesratsparteien geschlossen gegen sich hat und sich gute
Chancen ausrechnen darf, mehr als 35 Prozent der Stimmen für ihre
Parole zu gewinnen, dann ist ihre Ausgangslage komfortabel. Solche
Abstimmungen kann die SVP im Prinzip gar nicht verlieren. Auch wenn
sie am Abstimmungssonntag nicht als Siegerin dasteht, kann sie geltend
machen, die Interessen eines Teils der Bevölkerung vertreten zu haben,
der über ihre Anhängerschaft hinausgeht.
Die UNO-Abstimmung des letzten Wochenendes wurde so für die SVP zum
Steilpass für ihre Ausbreitung in der Innerschweiz und in den
französischsprachigen Kantonen. In den CVP-Hochburgen Uri, Schwyz, Ob-
und Nidwalden sowie Appenzell-Innerrhoden ist die Stimmbürgerschaft
mehrheitlich der Parole der SVP gefolgt - obwohl die CVP ein Ja
empfohlen hatte. Und in den Westschweizer Kantonen, in denen die SVP
traditionell schwach ist, haben immerhin 30 bis 40 Prozent der
Stimmenden gegen die anderen Parteien und gegen die offizielle Politik
gestimmt.
Ursachen des Wandels
Die Gründe für die Veränderungen im Schweizer Parteiensystem der
1990er Jahre sind vielschichtig. Sicher hat die Häufung von
aussenpolitischen Vorlagen zum Erfolg der SVP beigetragen. Sicher
verfügt die SVP über eine schlagkräftige Parteiorganisation. Sicher
hat sie in entscheidenden Momenten Zugang zu den notwendigen
Ressourcen und sicher hat sie in der Person von Christoph Blocher eine
charismatische Führerpersönlichkeit. Es stellt sich aber trotz allem
die Frage, ob die Veränderungen nicht auch das Produkt eines
gesellschaftlichen Wandels sind, der zu einer nachhaltigen
Umgestaltung des Parteiensystems führen wird.
Die Schweizer Parteien waren lange Zeit fest in bestimmten
Bevölkerungssegmenten verwurzelt: Die SP bei den Arbeitern, die CVP
bei den Katholiken, die SVP bei den Bauern und die FDP bei den
Freiberuflichen und Wirtschaftseliten. Mit dem aufkommenden Wohlstand
und dem Anwachsen des Mittelstandes in den 1960er Jahren, mit dem
Wandel der Beschäftigungsstruktur und dem fortschreitenden
Säkularisierungsprozess entfremdete sich die Basis von ihren
Interessenvertretern.
Bestandteile des «Sonderfalls»?
Der SVP ist es gelungen, durch eine Kurskorrektur, geschicktes
Themenmanagement und gezielte Parteiaufbauarbeit neue Wählersegmente
zu gewinnen. Auch die SP vermochte über weite Strecken die klassische
Arbeiterschaft durch Teile des neuen Mittelstandes zu ersetzen. Die
CVP scheint hingegen kein Mittel gegen das Nachlassen der
traditionellen Parteibindungen zu finden und auch bei der FDP sind
keine neuen, kräftig wachsenden Wurzeln sichtbar. Der Blick in andere
Länder zeigt, dass konfessionell festgelegte Parteien genauso wenig zu
den grossen Parteien gehören wie die Liberalen oder Freisinningen.
Dies sollte der FDP und der CVP zu denken geben. Ihre herausragenden
Positionen bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts sind
möglicherweise Bestandteile des «Sonderfalls» Schweiz. Es ist wenig
wahrscheinlich, dass auch die nächsten hundert Jahre durch dieselben
vier Parteien geprägt werden.
In welche Richtung der Strukturwandel im Schweizer Parteiensystem
verlaufen wird, ist indes noch nicht entschieden. Die Erfolge der SVP
sind noch nicht konsolidiert. Zu gross ist der Anteil der
Protestwähler, zu wenig zuverlässig und bewährt die Parteielite in den
Expansionsgebieten. Mindestens drei Herausforderungen hat sie noch zu
bewältigen: Sie muss den Wandel von einer Oppositionspartei zu einer
Regierungspartei schaffen, sie muss die Protest- und Wechselwähler
längerfristig einbinden können, und sie muss die Nachfolge ihrer
heutigen Exponenten erfolgreich und ohne selbstzerstörerische
Konflikte regeln.
Modell mit zwei Parteien
Vermögen FDP und CVP bis zu den Wahlen 2003 das Steuer nicht mehr
herumzureissen, so wird die SVP zur stärksten Kraft auf der
bürgerlichen Seite. Wie viel Raum für die fortschrittlichen, liberalen
und sozialen Kräfte in der Mitte bleiben wird, hängt dann von der
Entwicklung der Linken ab. Verharrt die SP klar links, so bleibt auch
Raum für Mitte-Parteien, folgt sie jedoch einzelnen Exponenten in
Richtung Mitte, dann anerbietet sich ein Modell mit lediglich zwei
grossen Parteien.
Von Andreas Ladner |