BAZ vom 9.3.2002

 


Erschienen am: 09.03.2002
Wie die SVP Abstimmungsniederlagen zu Wahlsiegen macht
Die Nationalratswahlen von 1999, die mit einem Grosserfolg für die SVP endeten, waren für Schweizer Verhältnisse aussergewöhnlich. Haben die damaligen Ergebnisse das Parteiensystem umgekrempelt, oder handelte es sich um ein einmaliges Ereignis? Konnte die SVP ihre Erfolge seither konsolidieren? Eine Standortbestimmung.
Der Nationalratssaal aus der Vogelperspektive. In welche Richtung der Strukturwandel des Schweizer Parteiensystems geht, ist noch nicht entschieden. Bei den Parlamentswahlen von 2003 wird sich herausstellen, ob die SVP zur stärksten bürgerlichen Kraft wird. Foto Karl-Heinz Hug/Keystone
 

Bern. Bei den Nationalratswahlen 1999 fand für schweizerische Verhältnisse ein Erdrutsch statt. Die SVP hat nicht nur die CVP überholt, die beim Anteil der Wählerstimmen knapp vor ihr gelegen war, sondern ist mit einem Gewinn von 7,6 Prozentpunkten zur stärksten Partei geworden. Seither widerspiegelt die seit 1959 existierende Zauberformel nicht mehr die Kräfteverhältnisse der Parteien, was regelmässig zu Diskussionen über Sinn und Zweck des Konkordanzsystems führt. Eine derart grosse Verschiebung der Wählerstimmenanteile zwischen den Bundesratsparteien hatte es seit der Einführung des Proporzwahlsystems im Jahre 1919 nicht mehr gegeben.
Es stellt sich die Frage, ob die Wahlen von 1999 den Anfang einer neuen Epoche in der Geschichte des Schweizer Parteiensystems markieren oder ob es sich lediglich um eine vorübergehende Störung des Parteiengleichgewichts handelt. Die seither durchgeführten kantonalen und kommunalen Wahlen geben - zusammen mit diversen Volksabstimmungen - Aufschluss darüber, wie nachhaltig die Veränderungen sind und was von den Wahlen 2003 zu erwarten ist.

SP leicht im Plus

Seit Herbst 1999 ist die SVP in den Kantonen von Sieg zu Sieg geeilt. Zwischen März 2000 und März 2002 hat sie mit Ausnahme des Kantons Graubünden in allen Kantonen, in denen sie bereits vertreten war, ihre Wählerstimmenanteile bei Parlamentswahlen steigern können. Die Zugewinne in den Kantonen Schwyz, Freiburg, Solothurn, Basel-Landschaft, St. Gallen, Aargau, Thurgau und Waadt beliefen sich dabei durchschnittlich auf 4,2 Prozentpunkte. Zudem ist die SVP mit einem durchschnittlichen Wählerstimmenanteil von knapp zehn Prozent neu nun auch in den Kantonen Uri, Nid- und Obwalden, Basel-Stadt, Wallis und Genf vertreten. Insgesamt hat die Partei in den kantonalen Parlamenten mehr als 130 Sitze geholt. Ganz leicht im Plus liegt bezüglich der Wählerstimmenanteile auch die SP. Den Gewinnen in Uri, Ob- und Nidwalden, Solothurn, St. Gallen, Graubünden, Thurgau und Waadt stehen etwas geringere Verluste in Schwyz, Freiburg, Basel-Stadt, Schaffhausen, Aargau, Wallis, Neuenburg und Genf gegenüber.

Rückgang bei der CVP

Ganz anders sieht es bei der CVP aus. Hier muss die Entwicklung der Wählerstimmenanteile bei den kantonalen Legislativwahlen als besorgniserregend bezeichnet werden. In den meisten Kantonen sind die Zahlen rückläufig, und in den Kantonen Schwyz, Basel-Stadt, Thurgau, Wallis und Genf, wo die CVP Zugewinne verzeichnen konnte, betrugen diese weniger als einen Prozentpunkt. Der CVP garantieren allerdings die beachtlichen Werte in ihren Hochburgen - keine andere Partei verfügt in einzelnen Kantonen über eine derart dominante Stellung -, dass sie sich um ihre Existenz keine Sorgen machen muss. Und nach wie vor verfügt sie, nicht zuletzt dank ihrer guten Vertretung im Ständerat und den zwei Bundesräten, über eine starke Stellung in Bern. Ihre schwache und teilweise schwindende Bedeutung in den grossen und wichtigen Kantonen Zürich, Bern, Basel-Stadt, Waadt und Genf - genau dort, wo die CVP seit den 1970er Jahren versucht, verstärkt Fuss zu fassen - bringt jedoch die Gefahr mit sich, dass die Partei inskünftig nicht mehr als «nationale Kraft» wahrgenommen wird.
Die Bewertung für die FDP fällt zwar deutlich besser aus als für die CVP, aber auch sie kommt ins Minus zu liegen. Die FDP verfügt anders als die CVP über keine klaren Hochburgen, in denen sie mehr als 40 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen kann. Der Partei mangelt es an Ausstrahlung und Dynamik; sie wäre auf Erfolge angewiesen. Besonders negativ wirkt sich für sie das Abschneiden bei den jüngsten Wahlen in der Stadt Zürich aus.

Kleinparteien in Bedrängnis

Die 90er Jahre standen im Zeichen einer Polarisierung auf der Linken und auf der Rechten. Aber nicht nur FDP und CVP hatten mit Problemen zu kämpfen. Auch die kleinen Parteien hatten ihre Schwierigkeiten. Der Landesring der Unabhängigen und die Freiheitspartei sind von der Bildfläche verschwunden, die Schweizer Demokraten gibt es kaum mehr und auch die Grünen standen unter Druck. Die Wahlen im Waadtland und in der Stadt Zürich am vergangenen Wochenende haben aber gezeigt, dass auf der Linken durchaus Bedarf nach einem breiteren Angebot besteht und dass die Grünen noch nicht abzuschreiben sind. Überhaupt lehrt die Geschichte des Schweizer Parteiensystems, dass sich immer wieder Phasen mit mehreren kleineren und solche mit einer Konzentration auf die grösseren Parteien ablösen. Dies dürfte wohl auch in Zukunft so sein.

SVP hat die Nase vorn

Dass die jüngsten Wählerstimmenverschiebungen Ausdruck eines anhaltenden Trends sind, bestätigt der Blick auf sämtliche kantonalen Wahlgänge seit 1972 (vgl. Graphik Seite 4). In den letzten 30 Jahren haben die Bundesratsparteien in den Kantonen zusammen rund 520 Wahlkämpfe bestritten. Dabei haben sie bei 43 Prozent der Wahlteilnahmen Wählerstimmenanteile gewonnen und bei 57 Prozent verloren. Am häufigsten Gewinne feiern konnte die SP, am wenigsten häufig die CVP, aber auch bei SVP und FDP waren «Niederlagen» häufiger als «Siege». Entscheidend ist aber die Gesamtbilanz. Deutlich im Plus liegt hier die SVP mit einem durchschnittlichen Gewinn von 0,9 Prozentpunkten. Auch die SP liegt leicht im Plus. Auf sämtliche Wählgänge umgerechnet hat sie pro Wahl 0,1 Prozentpunkte dazugewonnen, während bei der FDP ein Minus von 0,3 und bei der CVP ein solches von 1,1 Prozent resultiert.

Exekutiven - die grosse Hürde

Wenig rosig sieht die Erfolgsbilanz der SVP in den Exekutiven aus, zumindest in den neuen Gebieten. Seit 1999 konnte sie keine zusätzlichen Regierungsratssitze gewinnen. Dass mit den Gewinnen in den Parlamentswahlen kaum Zugewinne in den kommunalen und kantonalen Exekutiven einhergehen, hängt zum einen mit der Oppositionsrolle der SVP zusammen. Die Wählerinnen und Wähler honorieren die holzschnittartige Kritik im Parlament, schenken der Partei aber kein Vertrauen für eine konstruktive Regierungsarbeit. Für eine schnell wachsende Partei ist es aber generell schwierig, genügend geeignete Kandidatinnen und Kandidaten für Regierungsämter zu finden. Schliesslich ist es auch ein rein rechnerisches Phänomen, das mit den Majorzwahlen, wie sie für Exekutivwahlen üblich sind, verbunden ist.
Auch eine grosse Partei ist in einem Drei- bis Vier-Parteien-System auf die Unterstützung oder zumindest auf die Billigung mindestens einer anderen Partei angewiesen. Solange die SVP nicht zusammen mit der FDP oder der CVP antritt, sind die Hürden sehr hoch. Kommen ihr die anderen Parteien aus Opportunismus oder Überzeugung entgegen, so stehen ihr auch hier die Türen bald weit offen. Hätte der Bürgerblock in der Stadt Zürich bei den jüngsten Wahlen gespielt, so hätte das Ergebnis für den Stadtrat sowohl für die FDP als auch für die SVP deutlich besser ausgesehen. In ihren traditionellen Kantonen Zürich, Bern, Glarus, Schaffhausen und Thurgau ist die SVP auf dem Lande aber auch hier gut verankert. Die SVP hat zudem schweizweit fünfmal mehr Gemeindepräsidenten als die SP.

Verwertung des SVP-Gewinns?

Parteipolitik dreht sich vorab um Wählerstimmenanteile und Sitze, aber auch um politische Inhalte und Forderungen. Das schweizerische System mit der direkten Demokratie ermöglicht den Parteien, abseits der Parlamente und Exekutiven Einfluss auf die Politik zu nehmen. Betrachtet man hier die Erfolgsbilanz der SVP, so fällt diese, zumindest auf den ersten Blick, deutlich bescheidener aus. Seit der erfolgreichen Verhinderung des EWR-Beitritts 1992 ist die SVP kaum mehr siegreich gewesen und vermochte weder das Ja zur Weltbank, die bilateralen Verträge, noch die bewaffneten Auslandeinsätze der Armee zu verhindern. Auch bei der jüngsten Abstimmung über den UNO-Betritt stand sie auf der Verliererseite.
Dass die in Volksabstimmungen erfolgreichen Parteien keinen Erfolg bei Wahlen haben, während die erfolglosen honoriert werden, ist nur scheinbar paradox. Wenn immer bei einer Vorlage die SVP die drei anderen Bundesratsparteien geschlossen gegen sich hat und sich gute Chancen ausrechnen darf, mehr als 35 Prozent der Stimmen für ihre Parole zu gewinnen, dann ist ihre Ausgangslage komfortabel. Solche Abstimmungen kann die SVP im Prinzip gar nicht verlieren. Auch wenn sie am Abstimmungssonntag nicht als Siegerin dasteht, kann sie geltend machen, die Interessen eines Teils der Bevölkerung vertreten zu haben, der über ihre Anhängerschaft hinausgeht.
Die UNO-Abstimmung des letzten Wochenendes wurde so für die SVP zum Steilpass für ihre Ausbreitung in der Innerschweiz und in den französischsprachigen Kantonen. In den CVP-Hochburgen Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden sowie Appenzell-Innerrhoden ist die Stimmbürgerschaft mehrheitlich der Parole der SVP gefolgt - obwohl die CVP ein Ja empfohlen hatte. Und in den Westschweizer Kantonen, in denen die SVP traditionell schwach ist, haben immerhin 30 bis 40 Prozent der Stimmenden gegen die anderen Parteien und gegen die offizielle Politik gestimmt.

Ursachen des Wandels

Die Gründe für die Veränderungen im Schweizer Parteiensystem der 1990er Jahre sind vielschichtig. Sicher hat die Häufung von aussenpolitischen Vorlagen zum Erfolg der SVP beigetragen. Sicher verfügt die SVP über eine schlagkräftige Parteiorganisation. Sicher hat sie in entscheidenden Momenten Zugang zu den notwendigen Ressourcen und sicher hat sie in der Person von Christoph Blocher eine charismatische Führerpersönlichkeit. Es stellt sich aber trotz allem die Frage, ob die Veränderungen nicht auch das Produkt eines gesellschaftlichen Wandels sind, der zu einer nachhaltigen Umgestaltung des Parteiensystems führen wird.
Die Schweizer Parteien waren lange Zeit fest in bestimmten Bevölkerungssegmenten verwurzelt: Die SP bei den Arbeitern, die CVP bei den Katholiken, die SVP bei den Bauern und die FDP bei den Freiberuflichen und Wirtschaftseliten. Mit dem aufkommenden Wohlstand und dem Anwachsen des Mittelstandes in den 1960er Jahren, mit dem Wandel der Beschäftigungsstruktur und dem fortschreitenden Säkularisierungsprozess entfremdete sich die Basis von ihren Interessenvertretern.

Bestandteile des «Sonderfalls»?

Der SVP ist es gelungen, durch eine Kurskorrektur, geschicktes Themenmanagement und gezielte Parteiaufbauarbeit neue Wählersegmente zu gewinnen. Auch die SP vermochte über weite Strecken die klassische Arbeiterschaft durch Teile des neuen Mittelstandes zu ersetzen. Die CVP scheint hingegen kein Mittel gegen das Nachlassen der traditionellen Parteibindungen zu finden und auch bei der FDP sind keine neuen, kräftig wachsenden Wurzeln sichtbar. Der Blick in andere Länder zeigt, dass konfessionell festgelegte Parteien genauso wenig zu den grossen Parteien gehören wie die Liberalen oder Freisinningen. Dies sollte der FDP und der CVP zu denken geben. Ihre herausragenden Positionen bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts sind möglicherweise Bestandteile des «Sonderfalls» Schweiz. Es ist wenig wahrscheinlich, dass auch die nächsten hundert Jahre durch dieselben vier Parteien geprägt werden.
In welche Richtung der Strukturwandel im Schweizer Parteiensystem verlaufen wird, ist indes noch nicht entschieden. Die Erfolge der SVP sind noch nicht konsolidiert. Zu gross ist der Anteil der Protestwähler, zu wenig zuverlässig und bewährt die Parteielite in den Expansionsgebieten. Mindestens drei Herausforderungen hat sie noch zu bewältigen: Sie muss den Wandel von einer Oppositionspartei zu einer Regierungspartei schaffen, sie muss die Protest- und Wechselwähler längerfristig einbinden können, und sie muss die Nachfolge ihrer heutigen Exponenten erfolgreich und ohne selbstzerstörerische Konflikte regeln.

Modell mit zwei Parteien

Vermögen FDP und CVP bis zu den Wahlen 2003 das Steuer nicht mehr herumzureissen, so wird die SVP zur stärksten Kraft auf der bürgerlichen Seite. Wie viel Raum für die fortschrittlichen, liberalen und sozialen Kräfte in der Mitte bleiben wird, hängt dann von der Entwicklung der Linken ab. Verharrt die SP klar links, so bleibt auch Raum für Mitte-Parteien, folgt sie jedoch einzelnen Exponenten in Richtung Mitte, dann anerbietet sich ein Modell mit lediglich zwei grossen Parteien.


Von Andreas Ladner

 

5. Juli 2001


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