Weltwoche Nr. 43 vom 23. Oktober 2003

 



Wie liberal ist die SVP?
Urs Paul Engeler

Mit ihrem Wahlversprechen hat sich die Schweizerische Volkspartei weit von ihren Wurzeln entfernt. Ist sie wirklich die moderne Partei, die Freiräume schafft für neues Wirtschaftswachstum? Eine Durchleuchtung.

 
Bis heute ein zwiespältiges Gebilde: die SVP, 1971 aus der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei entstanden.

Seit Sonntag, 19. Oktober, mittags um zwölf, ist die Schweizerische Volkspartei unbestritten die Leaderin des Bürgerblocks im eidgenössischen Parlament. Seit Sonntag, 19. Oktober, 19 Uhr, ist ihr erster Mann, der Zürcher Unternehmer und Nationalrat Christoph Blocher, 63, definitiv die neue Leitfigur der rechten Mehrheit des Landes. Dem vor vier Jahren noch verhöhnten Anwärter steht nach der Ansage seiner Bundesratskandidatur diesmal der Weg in die Regierung weit offen. Verdattert lobend, beugen seine freisinnigen Feinde und Konkurrenten sich. Die SVP dominiert die Schweizer Politik, zumindest elektoral – und verbal. Die Junge SVP teilt per Communiqué mit, wie ekstatisch in den Stuben und an den Tischen der Partei gejubelt wird: «Wie die 68er werden wir dieses Land grundlegend umkrempeln. Mit einem Unterschied: Wir werden dabei Erfolg haben!»

Hat ausgerechnet die alte Formation der Bauern und der Gewerbler sich zur (neo)liberalen Speerspitze gewandelt, die der Stag-Nation Schweiz neuen Schwung und neue wirtschaftliche Blüte bringen wird, zur Partei, die den bedrohten Wohlstand garantiert? Ist die SVP im Herbst 2003 mehr als eine Ansammlung verkleideter Agrarier? War der Zustrom zur SVP die reale «Demonstration der liberalen Kräfte» zur Rettung des Landes, wie sie vor dem Wahltag der schwach gewordene Freisinn (vergeblich für sich) gefordert hatte?

35 Jahre nach dem leisen linken «Marsch durch die Institutionen» und der damit verbundenen Expansion der Staatsmacht wird von rechts laut die neoliberale Gegenrevolution ausgerufen. Christoph Blocher werde, so fasst die Junge SVP die Stimmung in der Partei zusammen, «unseren ausgepowerten und heruntergewirtschafteten Staat mit der gleichen Energie und strategischen Überlegenheit in der globalisierten Welt in die Poleposition katapultieren, wie er auch die SVP von einer 10-Prozent-Partei gegen massivsten Widerstand zur stärksten Kraft des Landes gemacht hat».

Das tönt euphorisch, ist aber genau das, was die Partei in ihrem jahrelangen Wahlkampf versprochen hat, nicht nur implizit, auch explizit. Als politische Kraft der Erneuerung werde sie die verkrusteten Strukturen aufbrechen, den lähmenden Staat in enge Schranken weisen, Wachstum schaffen. Sie hat Hoffnung geweckt in einem Land, dem es nicht gut geht, das seine ökonomische Prosperität und andere Selbstverständlichkeiten gefährdet sieht. Die SVP will den Staat der Umverteiler und Regulierer, den Verursacher der kollektiven Lähmung und des drohenden Ruins, zerschlagen.

In ihrer Wahlplattform, die sich über Seiten wie ein Schnellkurs in liberaler Ökonomie liest, verspricht die SVP der Nation tatsächlich einen klassisch antietatistischen Schub: weniger Steuern, weniger Abgaben, mehr Eigenverantwortung, weniger Staatsinterventionismus, Senkung der Staatsquote, weniger Vorschriften, weniger Bürokratie, mehr Freiheiten für Individuen und für Unternehmen, freie Fahrt auf staufreien Strassen, weniger Staatspropaganda, freiere Medien. Alles perfekt und übersichtlich dargelegt. Doch Zweifel bleiben.

Das politische Erbgut

Gestartet ist die Partei ungefähr am andern Ende des politischen Spektrums, im korporativ-strukturkonservativen Milieu, im Geiste eines antisozialistischen Etatismus. Gesamtschweizerisch formierte sich die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), wie die SVP bis 1971 hiess, 1936 aus nationalistisch geprägten Mittelstandsideologen und aus fortschrittsfeindlichen Gruppierungen. Der Bauernstand (und damit die Partei, die ihn vertrat) wurde in damaliger Diktion noch gepriesen als «Schutzwall gegen die verderblichen Einflüsse von Überindustrialisierung, Grossstadt und Vermassung» sowie die immer wieder attackierte Grossfinanz. Die Landbewohner waren Bewahrer einer als «ursprünglich» oder gar «natürlich» gepriesenen Lebensform.

Eingriffe des Staates verdammte die BGB nicht generell; sie begrüsste diese sogar, soweit sie die Einkommen der Agrarier stützten, die Absprachen der Gewerbler garantierten und für Ruhe und Ordnung sorgten. Negativ wurde der Staat nur bewertet, wenn er den Ausbau des Sozialstaates und den Schutz der Arbeiter zum Ziel hatte. Das ist zwar schon einige Jahre her, aber nicht einfach vergangen und Geschichte, sondern das Erbgut der Partei, das nicht rasch mit einem Kleiderwechsel abgestreift werden kann.

Der aktuelle Wahlkampf der SVP erinnerte mehr an die Ursprünge der Gruppierung als an die kühnen wirtschaftspolitischen Ziele. Mit ihrer Pilgerfahrt auf die Aelggi-Alp im Kanton Obwalden, die geografische «Mitte der Schweiz», und der in Kloten ausgerufenen «allgemeinen Mobilmachung» weckte sie den Reflex des Schutzes der Grenzen und der Abwehr einer Bedrohung von aussen, schuf sie keineswegs neue Begeisterung für innere Reformen und die Freude über den zu erwartenden Fortschritt und eine bessere Zukunft. «Schweizer Qualität» war nur eine weitere Strophe im abgeleierten Lied vom «Sonderfall Schweiz».

Mutige Deregulierung mit Risiken versus Besinnung auf bequeme tradierte Werte. Die SVP ist ein höchst zwiespältiges Gebilde geblieben bis auf den heutigen Tag. Die Widersprüche kann und will auch Parteipräsident Ueli Maurer nicht auflösen. Im Interview mit der Sonntagszeitung meinte er auf die Frage, ob die SVP nun tatsächlich eine neoliberale Partei sei oder doch eher eine Gruppe zum Schutz der traditionellen nationalen Besonderheiten bleibe: «Wir pflegen eine Mischung von konservativen Elementen und wirtschaftlichem Liberalismus. Die Identität des Landes darf nicht auf dem Altar des Neoliberalismus geopfert werden.»

Was gilt? Strebt die SVP nach Wettbewerb, nach raschen Reformen, nach Öffnung der Märkte, mithin nach Unsicherheit, Wagnis, Innovation und Wachstum? Oder schützt sie, wenn die Entscheidungen konkret und schmerzhaft werden, die lieb gewordene Vergangenheit? Für den ultraliberalen St. Galler Ökonomieprofessor und ehemaligen Landesring-Nationalrat Franz Jaeger ist dies «die absolut spannende und zentrale Frage» nach diesem Wahlwochenende: «Gelingt es der Partei, das alte Schutzdenken zu überwinden und mit strukturellen Reformen die Wachstumsoffensive auszulösen?»

Es besteht zumindest die Hoffnung, dass eine moderne Wachstumspolitik lanciert wird. Die starken Positionen der SVP sind deren restriktive Finanz-, Spar-, und Steuerpolitik, welche die Verfügungsgewalt über das Geld nicht ganz dem ineffizienten Verteilstaat abtreten will. Die SVP erscheint in der Tat plötzlich als der verlässlichste Partner des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse, der vor den Wahlen eine Inserate-Serie lancierte mit den Slogans «Jeder halbe Franken über den Staat», «Grössere Löcher im Portemonnaie» oder «Nur eine finanziell gesunde Schweiz ist eine starke Schweiz».

Konsequent ist die Haltung der Partei auch gegen die Subventionierung von Industrien (Swiss), weiter ihr Kampf gegen Zentralismus und Regulierung, gegen einen sakrosankten Service public und gegen das oft missbräuchlich eingesetzte Verbandsbeschwerderecht, das private Organisationen faktisch in den Rang einer definitiven Bewilligungsinstanz befördert hat. Das Nein zum EU-Beitritt verhindert, dass die Schweiz sich vor ihren Problemen in eine noch grössere Bürokratie flüchtet, und sichert den Finanzplatz vor dem Zugriff ausländischer Fiskalisten. In summa ist Jaeger geneigt, den Sieg der SVP als «Rutsch in die richtige Richtung, hin zu einer liberalen Wirtschaftspolitik» zu werten.

Mit Einschränkungen allerdings: Noch immer werde die Landwirtschaft geschützt. Mutige Statements gegen die Hochpreisinsel Schweiz seien bislang keine zu hören. Die Migrationspolitik, vor allem was die Ausdehnung der bilateralen Verträge auf die neuen EU-Staaten in Osteuropa betreffe, werde von unbegründeten Ängsten geprägt. Und vor den notwendigen Reformen zur Finanzierung der Renten drücke man sich. Die Spitzen der Partei seien zwar so weit, glaubt Jaeger, doch sei noch viel Überzeugungsarbeit nötig, um die Basis zu bewegen. Real ist die SVP eine gespaltene Partei: oben eine wirtschaftsliberale Elite, die sich dem konservativen Fussvolk (noch) nicht offenbart.

Exakt so, wie Gewerkschafter Mindestlöhne für Angestellte postulieren, verspricht die SVP-Wahlbroschüre den Bäuerinnen und Bauern ein «gerechtes und vergleichbares Einkommen». Als könnte ein Land, das in der Welthandelsorganisation (WTO) die weitere Liberalisierung des globalen Handels fordert, dies noch lange garantieren. Blocher weiss genau, wie schädlich für alle dieser Schutz der Bauern ist, die ihn verehren und wählen. Doch erst dunkel hat er vor einigen Wochen im Tages-Anzeiger bereits angekündigt, dass sich in der Agrarpolitik einiges ändern müsse: «Hier brauchen wir eine Klärung.» Gemeint ist wohl, dass der Erfinder der neuen SVP nicht nur das bäuerliche Bodenrecht, das die bebaute Scholle unter Sonderstatut stellt und aus dem freien Markt nimmt, abschaffen will, dass er nicht nur die Verbandsbürokratie ausräumen, sondern einen Liberalisierungsschub initiieren wird: mehr Freiheit und Selbstverantwortung, mehr Unsicherheit und Chancen auch für Bauern.

Die Hürden: Agrarpolitik, Ausländer, AHV

Es werde, meint Robert Nef, als Leiter des Liberalen Instituts gewissermassen der schweizerische Gralshüter des liberalen Gedankenguts, der eigentliche Lackmustest für die Wandlung der SVP. Will sie glaubwürdig bleiben, muss sie zuerst ihren treuen Mitbegründern die Wahrheit erklären.

Auch der xenophoben Basis, die scharenweise SVP-Zettel in die Urne geworfen hat. Immer noch repetiert die Partei die völlig veralteten, ökonomisch unsinnigen Forderungen nach der «realen Senkung der Ausländerquoten» und nach der Abschottung des Arbeitsmarktes vom interessanten Potenzial der neuen EU-Staaten im Osteuropa. Aus radikaler liberal-ökonomischer Sicht gibt es nicht Schweizer und Ausländer, sondern nur Arbeitskräfte, die der Markt braucht, und Menschen, die wirtschaftliche Aktivitäten entwickeln. Blocher, der bereits vor der Abstimmung über die bilateralen Verträge mit der Personenfreizügigkeit eine abenteuerliche rhetorische Spitzkehre vorgenommen hat, bereitet auch auf diesem Feld einen Kurswechsel vor: Er kämpfe gegen die illegale Einwanderung, sei aber nicht gegen Ausländer, die in der Schweiz willkommen sind, erklärte er in einem Interview mit einer italienischen Zeitung. Im Gegensatz zu dem, was die Opposition zu sagen pflege, sei er auch nicht fremdenfeindlich. Er setzt auf das amerikanische Modell mit ökonomischen An- und Abreizen.

Zweiter Lackmustest: Will die SVP glaubwürdig bleiben, muss sie ihre Migrationspolitik ändern, muss sie pragmatisch den rationalen Markt und nicht mehr länger blinde Ressentiments spielen lassen, darf sie nicht nur oben eine 18-Prozent-Initiative zur Beschränkung der Einwanderung ablehnen, muss sie das Nein bei ihrer Basis auch begründen und durchsetzen.

Ebenso muss sie ihren Populismus in der Rentenpolitik ablegen. Noch vor den Wahlen fütterte sie das Volk mit der Illusion, die Finanzierungsprobleme der AHV liessen sich mit dem Nationalbankgold lösen. Reflexartig zog sie die mentale Notbremse, als Bundespräsident Pascal Couchepin die gewohnten Regeln der Umverteilung ab 65 Jahren in Frage stellte. Sie wurde an der Urne belohnt für das Verschweigen der Probleme und das Ausweichen aufs Thema «Scheininvalidität».

Dritte Probe für die Vertrauenswürdigkeit der Partei: Sie muss ihren Anhängern beibringen, dass die AHV (wie das Rentensystem insgesamt) nur auf drei Arten gesichert werden kann: mit einer Erhöhung des Rentenalters, mit einer Kürzung der Leistungen oder mit einer Erhöhung der Steuern.

Das Modell Zürich funktioniert

Will die SVP definitiv zu einer modernen liberalen Partei werden, muss sie auch ihren «verkappten Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit ihrer Werthaltungen» (Robert Nef) aufgeben. «Die SVP steht zur traditionellen Familie und wehrt sich gegen die schleichende Aushöhlung der Ehe», skizziert sie im Programm ihr normatives Gesellschaftsbild: «Die SVP bekämpft alle Versuche der Diskriminierung der Institution Familie durch die Gleichstellung mit anderen Gemeinschaftsformen.» Daraus folgt zwingend der unrealistische und vor allem die Frauen ökonomisch hemmende Kampf der Partei gegen Blockzeiten, Tagesschulen und Kinderkrippen: weiterer Ballast auf dem Weg zur Poleposition in der globalisierten Welt.

Nicht nur das System der Sozialversicherungen, der Staat insgesamt, ja selbst die gewohnte Lebensweise der Bürger: Alle basieren auf stetigem wirtschaftlichem Wachstum. Stagniert die wirtschaftliche Entwicklung nur für zwei, drei Jahre, regiert schon die Krise. Die SVP mit ihrer Historie, ihrer Klientel und ihren Handicaps hat sehr viel versprochen, wenn sie die Schweiz auf dem liberalen Pfad zu neuem Wachstum zurückführen will.

Allerdings scheint das Modell in Zürich zu funktionieren. Hier haben die ehemaligen Agrarier die vormals wirtschaftsliberale, mittlerweile aber etatistisch-verfilzte FDP faktisch zerschlagen. Seit ihrer Wahlschlappe in diesem Frühling bewegt sich die erneuerte FDP im Schlepptau der SVP wieder auf geradem antietatistischem Kurs. Seit April treten ihre Spitzen an gegen «Wohlfahrtsstaat-Exzesse» (Nef), gegen die Hochsteuerpolitik, gegen die automatisierte Umverteilung, gegen Protektionismus. Plötzlich könnten sie den alten FDP-Slogan «Weniger Staat, mehr Freiheit und Selbstverantwortung», den sie schon in die Archive gesteckt hatten, wieder unterschreiben. Unter dem Druck der SVP-Elite wurde in Zürich zumindest die FDP umgekrempelt. Vielleicht wird der 19. Oktober doch zur Wende für die Schweiz.
 


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