Wie liberal ist die SVP?
Urs Paul Engeler
Mit ihrem Wahlversprechen hat sich die Schweizerische
Volkspartei weit von ihren Wurzeln entfernt. Ist sie wirklich die
moderne Partei, die Freiräume schafft für neues Wirtschaftswachstum?
Eine Durchleuchtung.
|
Bis heute ein
zwiespältiges Gebilde: die SVP, 1971 aus der Bauern-, Gewerbe- und
Bürgerpartei entstanden. |
Seit Sonntag, 19. Oktober, mittags um zwölf, ist
die Schweizerische Volkspartei unbestritten die Leaderin des
Bürgerblocks im eidgenössischen Parlament. Seit Sonntag, 19. Oktober, 19
Uhr, ist ihr erster Mann, der Zürcher Unternehmer und Nationalrat
Christoph Blocher, 63, definitiv die neue Leitfigur der rechten Mehrheit
des Landes. Dem vor vier Jahren noch verhöhnten Anwärter steht nach der
Ansage seiner Bundesratskandidatur diesmal der Weg in die Regierung weit
offen. Verdattert lobend, beugen seine freisinnigen Feinde und
Konkurrenten sich. Die SVP dominiert die Schweizer Politik, zumindest
elektoral – und verbal. Die Junge SVP teilt per Communiqué mit, wie
ekstatisch in den Stuben und an den Tischen der Partei gejubelt wird:
«Wie die 68er werden wir dieses Land grundlegend umkrempeln. Mit einem
Unterschied: Wir werden dabei Erfolg haben!»
Hat ausgerechnet die alte Formation der Bauern und der Gewerbler sich
zur (neo)liberalen Speerspitze gewandelt, die der Stag-Nation Schweiz
neuen Schwung und neue wirtschaftliche Blüte bringen wird, zur Partei,
die den bedrohten Wohlstand garantiert? Ist die SVP im Herbst 2003 mehr
als eine Ansammlung verkleideter Agrarier? War der Zustrom zur SVP die
reale «Demonstration der liberalen Kräfte» zur Rettung des Landes, wie
sie vor dem Wahltag der schwach gewordene Freisinn (vergeblich für sich)
gefordert hatte?
35 Jahre nach dem leisen linken «Marsch durch die Institutionen» und der
damit verbundenen Expansion der Staatsmacht wird von rechts laut die
neoliberale Gegenrevolution ausgerufen. Christoph Blocher werde, so
fasst die Junge SVP die Stimmung in der Partei zusammen, «unseren
ausgepowerten und heruntergewirtschafteten Staat mit der gleichen
Energie und strategischen Überlegenheit in der globalisierten Welt in
die Poleposition katapultieren, wie er auch die SVP von einer
10-Prozent-Partei gegen massivsten Widerstand zur stärksten Kraft des
Landes gemacht hat».
Das tönt euphorisch, ist aber genau das, was die Partei in ihrem
jahrelangen Wahlkampf versprochen hat, nicht nur implizit, auch
explizit. Als politische Kraft der Erneuerung werde sie die verkrusteten
Strukturen aufbrechen, den lähmenden Staat in enge Schranken weisen,
Wachstum schaffen. Sie hat Hoffnung geweckt in einem Land, dem es nicht
gut geht, das seine ökonomische Prosperität und andere
Selbstverständlichkeiten gefährdet sieht. Die SVP will den Staat der
Umverteiler und Regulierer, den Verursacher der kollektiven Lähmung und
des drohenden Ruins, zerschlagen.
In ihrer Wahlplattform, die sich über Seiten wie ein Schnellkurs in
liberaler Ökonomie liest, verspricht die SVP der Nation tatsächlich
einen klassisch antietatistischen Schub: weniger Steuern, weniger
Abgaben, mehr Eigenverantwortung, weniger Staatsinterventionismus,
Senkung der Staatsquote, weniger Vorschriften, weniger Bürokratie, mehr
Freiheiten für Individuen und für Unternehmen, freie Fahrt auf
staufreien Strassen, weniger Staatspropaganda, freiere Medien. Alles
perfekt und übersichtlich dargelegt. Doch Zweifel bleiben.
Das politische Erbgut
Gestartet ist die Partei ungefähr am andern Ende des politischen
Spektrums, im korporativ-strukturkonservativen Milieu, im Geiste eines
antisozialistischen Etatismus. Gesamtschweizerisch formierte sich die
Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), wie die SVP bis 1971 hiess,
1936 aus nationalistisch geprägten Mittelstandsideologen und aus
fortschrittsfeindlichen Gruppierungen. Der Bauernstand (und damit die
Partei, die ihn vertrat) wurde in damaliger Diktion noch gepriesen als
«Schutzwall gegen die verderblichen Einflüsse von
Überindustrialisierung, Grossstadt und Vermassung» sowie die immer
wieder attackierte Grossfinanz. Die Landbewohner waren Bewahrer einer
als «ursprünglich» oder gar «natürlich» gepriesenen Lebensform.
Eingriffe des Staates verdammte die BGB nicht generell; sie begrüsste
diese sogar, soweit sie die Einkommen der Agrarier stützten, die
Absprachen der Gewerbler garantierten und für Ruhe und Ordnung sorgten.
Negativ wurde der Staat nur bewertet, wenn er den Ausbau des
Sozialstaates und den Schutz der Arbeiter zum Ziel hatte. Das ist zwar
schon einige Jahre her, aber nicht einfach vergangen und Geschichte,
sondern das Erbgut der Partei, das nicht rasch mit einem Kleiderwechsel
abgestreift werden kann.
Der aktuelle Wahlkampf der SVP erinnerte mehr an die Ursprünge der
Gruppierung als an die kühnen wirtschaftspolitischen Ziele. Mit ihrer
Pilgerfahrt auf die Aelggi-Alp im Kanton Obwalden, die geografische
«Mitte der Schweiz», und der in Kloten ausgerufenen «allgemeinen
Mobilmachung» weckte sie den Reflex des Schutzes der Grenzen und der
Abwehr einer Bedrohung von aussen, schuf sie keineswegs neue
Begeisterung für innere Reformen und die Freude über den zu erwartenden
Fortschritt und eine bessere Zukunft. «Schweizer Qualität» war nur eine
weitere Strophe im abgeleierten Lied vom «Sonderfall Schweiz».
Mutige Deregulierung mit Risiken versus Besinnung auf bequeme tradierte
Werte. Die SVP ist ein höchst zwiespältiges Gebilde geblieben bis auf
den heutigen Tag. Die Widersprüche kann und will auch Parteipräsident
Ueli Maurer nicht auflösen. Im Interview mit der Sonntagszeitung meinte
er auf die Frage, ob die SVP nun tatsächlich eine neoliberale Partei sei
oder doch eher eine Gruppe zum Schutz der traditionellen nationalen
Besonderheiten bleibe: «Wir pflegen eine Mischung von konservativen
Elementen und wirtschaftlichem Liberalismus. Die Identität des Landes
darf nicht auf dem Altar des Neoliberalismus geopfert werden.»
Was gilt? Strebt die SVP nach Wettbewerb, nach raschen Reformen, nach
Öffnung der Märkte, mithin nach Unsicherheit, Wagnis, Innovation und
Wachstum? Oder schützt sie, wenn die Entscheidungen konkret und
schmerzhaft werden, die lieb gewordene Vergangenheit? Für den
ultraliberalen St. Galler Ökonomieprofessor und ehemaligen
Landesring-Nationalrat Franz Jaeger ist dies «die absolut spannende und
zentrale Frage» nach diesem Wahlwochenende: «Gelingt es der Partei, das
alte Schutzdenken zu überwinden und mit strukturellen Reformen die
Wachstumsoffensive auszulösen?»
Es besteht zumindest die Hoffnung, dass eine moderne Wachstumspolitik
lanciert wird. Die starken Positionen der SVP sind deren restriktive
Finanz-, Spar-, und Steuerpolitik, welche die Verfügungsgewalt über das
Geld nicht ganz dem ineffizienten Verteilstaat abtreten will. Die SVP
erscheint in der Tat plötzlich als der verlässlichste Partner des
Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse, der vor den Wahlen eine
Inserate-Serie lancierte mit den Slogans «Jeder halbe Franken über den
Staat», «Grössere Löcher im Portemonnaie» oder «Nur eine finanziell
gesunde Schweiz ist eine starke Schweiz».
Konsequent ist die Haltung der Partei auch gegen die Subventionierung
von Industrien (Swiss), weiter ihr Kampf gegen Zentralismus und
Regulierung, gegen einen sakrosankten Service public und gegen das oft
missbräuchlich eingesetzte Verbandsbeschwerderecht, das private
Organisationen faktisch in den Rang einer definitiven
Bewilligungsinstanz befördert hat. Das Nein zum EU-Beitritt verhindert,
dass die Schweiz sich vor ihren Problemen in eine noch grössere
Bürokratie flüchtet, und sichert den Finanzplatz vor dem Zugriff
ausländischer Fiskalisten. In summa ist Jaeger geneigt, den Sieg der SVP
als «Rutsch in die richtige Richtung, hin zu einer liberalen
Wirtschaftspolitik» zu werten.
Mit Einschränkungen allerdings: Noch immer werde die Landwirtschaft
geschützt. Mutige Statements gegen die Hochpreisinsel Schweiz seien
bislang keine zu hören. Die Migrationspolitik, vor allem was die
Ausdehnung der bilateralen Verträge auf die neuen EU-Staaten in
Osteuropa betreffe, werde von unbegründeten Ängsten geprägt. Und vor den
notwendigen Reformen zur Finanzierung der Renten drücke man sich. Die
Spitzen der Partei seien zwar so weit, glaubt Jaeger, doch sei noch viel
Überzeugungsarbeit nötig, um die Basis zu bewegen. Real ist die SVP eine
gespaltene Partei: oben eine wirtschaftsliberale Elite, die sich dem
konservativen Fussvolk (noch) nicht offenbart.
Exakt so, wie Gewerkschafter Mindestlöhne für Angestellte postulieren,
verspricht die SVP-Wahlbroschüre den Bäuerinnen und Bauern ein
«gerechtes und vergleichbares Einkommen». Als könnte ein Land, das in
der Welthandelsorganisation (WTO) die weitere Liberalisierung des
globalen Handels fordert, dies noch lange garantieren. Blocher weiss
genau, wie schädlich für alle dieser Schutz der Bauern ist, die ihn
verehren und wählen. Doch erst dunkel hat er vor einigen Wochen im
Tages-Anzeiger bereits angekündigt, dass sich in der Agrarpolitik
einiges ändern müsse: «Hier brauchen wir eine Klärung.» Gemeint ist
wohl, dass der Erfinder der neuen SVP nicht nur das bäuerliche
Bodenrecht, das die bebaute Scholle unter Sonderstatut stellt und aus
dem freien Markt nimmt, abschaffen will, dass er nicht nur die
Verbandsbürokratie ausräumen, sondern einen Liberalisierungsschub
initiieren wird: mehr Freiheit und Selbstverantwortung, mehr
Unsicherheit und Chancen auch für Bauern.
Die Hürden: Agrarpolitik, Ausländer, AHV
Es werde, meint Robert Nef, als Leiter des Liberalen Instituts
gewissermassen der schweizerische Gralshüter des liberalen Gedankenguts,
der eigentliche Lackmustest für die Wandlung der SVP. Will sie
glaubwürdig bleiben, muss sie zuerst ihren treuen Mitbegründern die
Wahrheit erklären.
Auch der xenophoben Basis, die scharenweise SVP-Zettel in die Urne
geworfen hat. Immer noch repetiert die Partei die völlig veralteten,
ökonomisch unsinnigen Forderungen nach der «realen Senkung der
Ausländerquoten» und nach der Abschottung des Arbeitsmarktes vom
interessanten Potenzial der neuen EU-Staaten im Osteuropa. Aus radikaler
liberal-ökonomischer Sicht gibt es nicht Schweizer und Ausländer,
sondern nur Arbeitskräfte, die der Markt braucht, und Menschen, die
wirtschaftliche Aktivitäten entwickeln. Blocher, der bereits vor der
Abstimmung über die bilateralen Verträge mit der Personenfreizügigkeit
eine abenteuerliche rhetorische Spitzkehre vorgenommen hat, bereitet
auch auf diesem Feld einen Kurswechsel vor: Er kämpfe gegen die illegale
Einwanderung, sei aber nicht gegen Ausländer, die in der Schweiz
willkommen sind, erklärte er in einem Interview mit einer italienischen
Zeitung. Im Gegensatz zu dem, was die Opposition zu sagen pflege, sei er
auch nicht fremdenfeindlich. Er setzt auf das amerikanische Modell mit
ökonomischen An- und Abreizen.
Zweiter Lackmustest: Will die SVP glaubwürdig bleiben, muss sie ihre
Migrationspolitik ändern, muss sie pragmatisch den rationalen Markt und
nicht mehr länger blinde Ressentiments spielen lassen, darf sie nicht
nur oben eine 18-Prozent-Initiative zur Beschränkung der Einwanderung
ablehnen, muss sie das Nein bei ihrer Basis auch begründen und
durchsetzen.
Ebenso muss sie ihren Populismus in der Rentenpolitik ablegen. Noch vor
den Wahlen fütterte sie das Volk mit der Illusion, die
Finanzierungsprobleme der AHV liessen sich mit dem Nationalbankgold
lösen. Reflexartig zog sie die mentale Notbremse, als Bundespräsident
Pascal Couchepin die gewohnten Regeln der Umverteilung ab 65 Jahren in
Frage stellte. Sie wurde an der Urne belohnt für das Verschweigen der
Probleme und das Ausweichen aufs Thema «Scheininvalidität».
Dritte Probe für die Vertrauenswürdigkeit der Partei: Sie muss ihren
Anhängern beibringen, dass die AHV (wie das Rentensystem insgesamt) nur
auf drei Arten gesichert werden kann: mit einer Erhöhung des
Rentenalters, mit einer Kürzung der Leistungen oder mit einer Erhöhung
der Steuern.
Das Modell Zürich funktioniert
Will die SVP definitiv zu einer modernen liberalen Partei werden, muss
sie auch ihren «verkappten Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit ihrer
Werthaltungen» (Robert Nef) aufgeben. «Die SVP steht zur traditionellen
Familie und wehrt sich gegen die schleichende Aushöhlung der Ehe»,
skizziert sie im Programm ihr normatives Gesellschaftsbild: «Die SVP
bekämpft alle Versuche der Diskriminierung der Institution Familie durch
die Gleichstellung mit anderen Gemeinschaftsformen.» Daraus folgt
zwingend der unrealistische und vor allem die Frauen ökonomisch hemmende
Kampf der Partei gegen Blockzeiten, Tagesschulen und Kinderkrippen:
weiterer Ballast auf dem Weg zur Poleposition in der globalisierten
Welt.
Nicht nur das System der Sozialversicherungen, der Staat insgesamt, ja
selbst die gewohnte Lebensweise der Bürger: Alle basieren auf stetigem
wirtschaftlichem Wachstum. Stagniert die wirtschaftliche Entwicklung nur
für zwei, drei Jahre, regiert schon die Krise. Die SVP mit ihrer
Historie, ihrer Klientel und ihren Handicaps hat sehr viel versprochen,
wenn sie die Schweiz auf dem liberalen Pfad zu neuem Wachstum
zurückführen will.
Allerdings scheint das Modell in Zürich zu funktionieren. Hier haben die
ehemaligen Agrarier die vormals wirtschaftsliberale, mittlerweile aber
etatistisch-verfilzte FDP faktisch zerschlagen. Seit ihrer Wahlschlappe
in diesem Frühling bewegt sich die erneuerte FDP im Schlepptau der SVP
wieder auf geradem antietatistischem Kurs. Seit April treten ihre
Spitzen an gegen «Wohlfahrtsstaat-Exzesse» (Nef), gegen die
Hochsteuerpolitik, gegen die automatisierte Umverteilung, gegen
Protektionismus. Plötzlich könnten sie den alten FDP-Slogan «Weniger
Staat, mehr Freiheit und Selbstverantwortung», den sie schon in die
Archive gesteckt hatten, wieder unterschreiben. Unter dem Druck der
SVP-Elite wurde in Zürich zumindest die FDP umgekrempelt. Vielleicht
wird der 19. Oktober doch zur Wende für die Schweiz.
|