Die Wochenzeitung Nr. 49 /5. Dez. 2002

 

Der Linkskurs der SPS und die Wahlen 2003

 
Zurück zu den Lohnabhängigen
 

Franco Cavalli

 
 
«Ist die Sozialdemokratie noch zu retten?», fragt SP-Nationalrat Franco Cavalli. Er analysiert den Zustand der Partei und fordert das Ende der undifferenzierten Mittelschichtspolitik.

Zweifelsohne ist die Hochblüte des Neoliberalismus vorbei, und wir müssen feststellen, dass es derzeit an einer klaren linken und gemeinsamen Alternative fehlt. Trotz gelegentlichen Lichtblicken in einigen Ländern scheint die parteipolitisch organisierte radikale Linke zersplittert zu sein. Die europäische Sozialdemokratie ihrerseits fällt durch eine Orientierungslosigkeit auf. Diese Orientierungskrise wurde kurzfristig mit dem strategisch sehr dürftigen, aber einflussreichen «Blair-Schröder-Papier» überspielt. Während die NZZ den «Dritten Weg» wie Schnee an der Sonne schmelzen sieht, entdecken plötzlich linksliberale Medien, die jahrelang nach der «neuen Mitte» gerufen haben, dass dieser Weg ein Bruch mit den lohnabhängigen Schichten war und zugleich auch eine Stärkung des Rechtspopulismus zur Folge hatte. Besucht man irgendeinen sozialdemokratischen Kongress in Westeuropa, wird einem schnell klar, warum diese Parteien einen beträchtlichen Teil ihrer Stammwählerschaft verloren haben. Tatsächlich dominieren dort Funktionäre und Repräsentanten jener Yuppie-Technokraten, die an eine «humanitäre Variante des Kapitalismus» glauben. Es war vor allem diese soziale Umschichtung der sozialdemokratischen Führungskader, die zur Politik der «neuen Mitte» beziehungsweise zum Verlust beträchtlicher Teile der Lohnabhängigen führte – auch in der SPS. (...)

Aktuelle Orientierungskrise
In den neunziger Jahren profitierte die SPS sowohl von denselben objektiven Bedingungen, die fast überall in Europa sozialdemokratische Wahlsiege ermöglichten, wie auch von der taktischen Brillanz und vom Aktionismus ihres damaligen Parteipräsidenten Peter Bodenmann: Die Geprellten der neoliberalen Umstrukturierung sahen in den Sozialdemokraten das Bollwerk gegen einen weiteren Sozialabbau, die «dynamische Mitte» liess sich vom Reformdrang des Parteipräsidenten mitreissen – was zum Wahlerfolg von 1995 führte. Wenig später wurde aber bereits der Beginn eines Richtungsstreites ersichtlich. Die simple Botschaft von Bodenmann («Wir meistern den Strukturwandel zugunsten der Lohnabhängigen») konnte nur in Ausnahmesituationen greifen. Im Normalfall setzt sich eben doch das «normale Kräfteverhältnis» im schweizerischen Parteiensystem regelmässig durch, ganz klar im Interesse der Bürgerlichen. Nehmen wir zum Beispiel die PTT-Reform, damals als Paradefall der Reformfähigkeit der SPS gefeiert. Heute würde die SP-Mehrheit, vor allem nach dem erfolgreichen Nein zum Elektrizitätsmarktgesetz (EMG), höchstwahrscheinlich die Holding-Lösung vorziehen, die damals verworfen wurde. Wenn wir heute nämlich eine Post haben, die von einem Börsengang schwärmt, und eine Swisscom, die keine auch noch so asoziale Restrukturierung verpasst, dann liegt es nicht nur daran, dass Bundesrat Moritz Leuenberger «ein Rechtsabweichler ist», sondern viel eher an der Tatsache, dass in diesem Lande die Bürgerlichen immer noch das Sagen haben.
Es war zuerst der linke Flügel der SPS, vorwiegend in der Romandie, der sich gegen weitere Liberalisierungspläne im Service public aufbäumte. Ihre Allianz mit den eher konservativen GenossInnen (Rudolf Strahm, Peter Vollmer und anderen) sowie den ModernisiererInnen (Regine Aeppli, Vreni Müller-Hemmi und anderen) führte 1997, nach der Demission von Peter Bodenmann, zur Wahl von Ursula Koch als Parteipräsidentin – gegen Andrea Hämmerle, der zum Bodenmann-Kreis gehörte. Die kurze Ära Koch wurde allerdings durch innerparteiliche persönliche Querelen und Blockierungen überschattet, weswegen keine richtige inhaltliche und programmatische Auseinandersetzung in Gang kommen konnte. Die jetzige Parteipräsidentin Christiane Brunner ist ihrerseits gegen jede Auseinandersetzung: einerseits weil Grundsatzdebatten ihren Handlungsspielraum einengen könnten, anderseits weil sie sich fast ausschliesslich auf die parlamentarischen Sachgeschäfte konzentriert. Als langfristige Option ist bei ihr nur ein gewisser Annäherungskurs an den sozialliberalen Teil der FDP feststellbar. Hauptsorge von Brunner ist es, die eigene heterogene Partei zusammenzuhalten: So kann sie mal mit dem «Gurtenmanifest» liebäugeln, das eine liberale und konsensorientierte Wertegemeinschaft von KonsumentInnen, Bankiers und Lohnabhängigen anvisiert, und dann wiederum das linksgewerkschaftliche Referendum gegen die Abschaffung des Beamtenstatus unterstützen. Solche widersprüchlichen Entscheide sowie wechselnde Mehrheiten unter den verschiedenen Lagern in Partei und Fraktion lassen in der Öffentlichkeit den Eindruck einer gewissen Orientierungslosigkeit der SP-Führung entstehen.
Vereinfacht und ohne Berücksichtigung der sehr wohl existierenden Schattierungen in jedem Lager kann man zurzeit drei Strömungen in der SPS unterscheiden. Einmal das rechtssozialdemokratische Lager, das unter anderem in Simonetta Sommaruga und in Elmar Ledergerber seine ExponentInnen hat. Die SP des Kantons Zürich wollte sogar den Bezug auf den «demokratischen Sozialismus» aus ihrem Parteiprogramm streichen, und der Präsident der Stadtpartei, Koni Loepfe, fand, die von zwei nationalen Parteitagen fast einstimmig beschlossene Gesundheitsinitiative, die eine einkommensabhängige Prämienfinanzierung vorsieht, sei nicht weniger dumm als die von der SVP vorgesehene Volksinitiative, die ein Dreiklassensystem für das Gesundheitswesen anstrebt. Dieses Lager geht wohl davon aus, dass der grosse Teil der SP-Wählerschaft bereit ist, sich je länger, desto weniger an die Beschlüsse der Parteiorgane zu halten. (...)
Die zweite Strömung könnte vereinfachend als der «Ex-Bodenmann-Kreis» bezeichnet werden (Werner Marti, Andrea Hämmerle, Hildegard Fässler, Susanne Leutenegger und andere). Im Gegensatz zum rechten Lager, das die sozialen Härten des Strukturwandels lediglich sozial etwas abfedern möchte, will diese Strömung steuern und steht deshalb für eine offensive Service-public-Politik des Staates. Sie war beispielsweise entscheidend an der Festlegung der staatsinterventionistischen SP-Linie bei der vorläufigen Lösung der Swissair-Krise beteiligt.
Der linke Flügel der SPS ist besonders in der welschen Schweiz stark vertreten; Pierre Yves Maillard prägt dort den politischen Kurs. Dieser Flügel wird aber auch in der deutschen Schweiz von wichtigen ExponentInnen getragen; dazu gehören zum Beispiel Christine Goll (Parteivizepräsidentin) und Paul Rechsteiner, dessen Wahl zum Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) das politische Kräfteverhältnis im linken Lager stärkte. Ihr Einfluss dürfte nach der Ablehnung des Elektrizitätsmarktgesetzes vom September 2002 noch zunehmen: Nachdem die Mehrheit der SP-Fraktion im Parlament letztlich doch noch für die Liberalisierung des Strommarktes gestimmt hatte, muss das Nein in der Volksabstimmung als ein sensationeller Erfolg für den SGB und den linken SP-Flügel gewertet werden, die das Referendum ergriffen hatten. (...)
Diese Flügelkämpfe in der SPS werden meiner Ansicht nach den Ausgang der eidgenössischen Wahlen 2003 keineswegs negativ beeinflussen, im Gegenteil. Ich prognostiziere sogar Gewinne für die SP, zum einen wegen der offensichtlichen programmatischen Schwäche der bürgerlichen Parteien CVP und FDP; zum andern gibt es eine gewisse Verdrossenheit in der Bevölkerung, was den Rechtspopulismus der Blocher-SVP angeht, wenngleich diese die Politikthemen Sicherheit und Asyl in menschenverachtender Weise besetzt hält. Dennoch: Die SPS mit ihrer traditionellen Sozialkompetenz wird mit entscheidenden Wahlthemen punkten können: AHV-Revision, Rentenklau beim Pensionskassengesetz, Abstimmung über die Gesundheitsinitiative und die Revision des Krankenversicherungsgesetzes.

SP auf Linkskurs
Trotz einem möglichen Wahlerfolg im Jahr 2003 wird sich aber an der «Orientierungskrise» nichts Entscheidendes ändern. Die nächste richtungsentscheidende Auseinandersetzung ist für die Wahl des oder der neuen PräsidentIn 2004 vorprogrammiert. Sollte sich dabei wider Erwarten der blairistische Flügel durchsetzen, brechen für die SPS schwierige Zeiten an. (...) Der linke Flügel muss sich deshalb für die bevorstehenden Auseinandersetzungen rechtzeitig vorbereiten; nötig ist eine intensive thematische Diskussion. Zu diesem Zweck möchte ich nur ganz kursorisch einige besonders wichtige Themen skizzieren.
Erstens: Die SPS muss die Lohnabhängigen zurückgewinnen, die sie an die SVP verloren hat oder die sich enttäuscht zurückgezogen haben. Das bedeutet, dass sie mit den Gewerkschaften zusammen eine offensive Vorwärtsstrategie der Lohnabhängigen entwerfen muss, da diese in den neunziger Jahren etwa zehn Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Dieser Verlust ist vor allem auf die steigenden Kopfprämien der Krankenversicherung zurückzuführen. Diese Vorwärtstrategie darf nicht nur den direkten Lohn berücksichtigen, sondern muss auch den «indirekten Teil» miteinbeziehen, der wegen der steigenden Ausgaben für die Mieten, die Gesundheit und für die Bildung immer wichtiger wird. (...) Es ist an der Zeit, zu verstehen, dass diese Themen für die Umverteilungspolitik und daher auch für den Klassenkampf mindestens so wichtig sind wie Steuerfragen.
Zweitens: Die SPS muss von einer undifferenzierten Mittelschichtspolitik Abstand nehmen; dies setzt aber eine einigermassen rationale sozioökonomische Analyse des Mittelstandes in der Schweiz voraus. Darunter gibt es nämlich Teile (zum Beispiel die Gesundheitsberufe), die mehr und mehr deklassiert werden, und andere, die sich in einer weniger kapitalkonformen Gesellschaft besser entfalten könnten (zum Beispiel technische Intelligenz in einer staatlich geführten Pharmaindustrie). Diese Analyse könnte auch dazu dienlich sein, bei der Diskussion über «postmoderne Themen» wieder etwas Dialektik ins Spiel zu bringen. (...)
Drittens: Die SPS muss eine radikale Reformpolitik entwerfen, die auch die Veränderung des soziopolitischen Kräfteverhältnisses als Ziel hat. Fragen, die heute als «heikel» gelten, müssen also wieder angepackt werden: beispielsweise die Mitbestimmung beziehungsweise die Rechte der Lohnabhängigen am Arbeitsort, die Verwaltung der Pensionskassengelder, ja sogar die Fusion zwischen AHV und Pensionskassen. Langfristig wird man auch der Frage nach Eigentums- und Besitzverhältnissen nicht mehr aus dem Wege gehen können.
Viertens: Man wird also wiederum über ein neues gesellschaftliches Projekt nachdenken müssen. Die Linke der SP in Frankreich hat dies in der jetzt dort laufenden Debatte nach der Wahlniederlage auf den Punkt gebracht: «Man kann nicht gleichzeitig zum Weltwirtschaftsforum nach Davos und zum Weltsozialforum nach Porto Alegre gehen.» Dies setzt aber eine Öffnung gegenüber den Kräften voraus, die links der SP politisieren: der globalisierungskritischen Bewegung, Attac und der gewerkschaftlichen Linken.
Fünftens: Jetzt, wo die Schweiz endlich in der Uno ist, muss die SPS wieder aussenpolitisch aktiv werden. Dies wurde lange Zeit vernachlässigt oder nur als Cocktaildiplomatie verstanden. Wir brauchen einen neuen Zusammenhang der linken SozialdemokratInnen in Europa, hier könnte eine linke SPS eine wichtige Rolle spielen. Ein erster Schritt wurde auf europäischer Ebene mit der «Sozialen Republik» gemacht, der der «Oltener Kreis» linker SozialdemokratInnen angehört. Die «Soziale Republik» will aus der EU einen demokratischen Bundesstaat machen, ohne wirtschaftlichen Stabilitätspakt und mit einem neu aufgebauten, kontinentalen staatlichen Service public. Dieser Zusammenhang linker SozialdemokratInnen ist umso dringender, als die Kriegspolitik wieder vorherrschend wird, nachdem die US-Regierung in ihrer neuen strategischen Sicherheitspolitik sich das Recht angemasst hat, weltweit präventiv Kriege zu führen. Umso enttäuschender ist darob die Tatsache, dass Teile der sozialistischen Internationale (Blair, D’Alema, Peres u. a.) sich als Knechte dieser imperialen Politik haben einspannen lassen.
Ist es vielleicht an der Zeit, daran zu denken, in Zimmerwald nochmals ein Treffen «linker SozialdemokratInnen» zu organisieren?

Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags von Franco Cavalli für die soeben erschienene Nummer 43 der Zeitschrift «Widerspruch». Das Heft zum Thema «Linke und Macht» ist im Buchhandel oder direkt über vertrieb@widerspruch.ch erhältlich (216 Seiten, 25 Franken).

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