WOZ Nr. 43 vom 23. Oktober 2003

 


 


Die Konsequenzen

Der Knall


Von Urs Bruderer und Constantin Seibt

Die SVP setzt den Mitteparteien die Pistole auf die Brust. Elf Thesen, was dies für die politische Landschaft Schweiz bedeuten könnte.

«Ich führe eine Offensive gegen die herrschende politische Kultur. Die will ich zerstören. Die muss man zerstören.» (Christoph Blocher, am Wahlabend 1999)


1.
Die politische Schweiz, wie wir sie gekannt haben, ist Geschichte. Eine neue Epoche bricht an. Die alte Schweiz endete mit einem Wimmern, die neue begann mit einem Knall: Dem Wimmern der Mitteparteien folgte der Knall, als der SVP-Parteichef Ueli Maurer diesen Sonntag punkt sieben Uhr abends ihnen die Pistole auf die Brust setzte und deklarierte: Bundesrat Blocher oder Opposition.
Es war eine Ohrfeige von seltener Dramatik in der Schweizer Politik. Selten sah man bürgerliche Politiker durch andere bürgerliche Politiker so gedemütigt. Aber Maurers Ultimatum war mehr als eine Provokation. Es war auch ein Akt von seltener Klarheit und seltenem Mut. Denn seine Argumente waren stimmig und konsequent. Es ist konsequent, dass die SVP nach drei Siegen in Folge die Macht übernehmen will. Und es ist klar, dass nur einer dies glaubwürdig vertreten kann. Ihr Chef und einziger Kopf: Christoph Blocher.
Und es ist mutig, dass die SVP das tut. Kleinere Kämpfer als sie hätten alles so weiterlaufen lassen wie in der letzten Legislatur. Dort lief es prächtig. FDP und CVP waren eingeschüchtert und bereits weit nach rechts gerutscht. Sie portierten zentrale und symbolische Anliegen der SVP – etwa das gigantische Steuerpaket für die Reichen, das faktische Moratorium in Sachen EU-Beitritt oder das Nein zur schon sicher geglaubten Cannabislegalisierung.
Die SVP wechselt die Strategie im Augenblick des grössten Erfolgs.

2.
Im Prinzip hätte jede Partei guten Grund, die SVP in die Opposition zu schicken. Für die CVP geht es ums Überleben: Mit nur noch einem Bundesrat wird sie, was die SVP lange war, nämlich der geduldete Knecht am Tisch der Macht. Für die FDP wäre das Motiv Rache: Ihr Lieblingsszenario, der SVP bei Gelegenheit einen Bundesrat auf Kosten der SP zuzuschanzen, wurde ohne Warnung abgeblasen. Die SP oder die Grünen könnten ihre Macht ausbauen: Ihnen müsste nach diesem Wahlausgang Samuel Schmids Sitz zufallen.
Die neue Schweiz könnte mit einer Mitte-links-Regierung anfangen. Wie stark würde die SVP auf der Oppositionsbank zulegen? Gesamtschweizerisch wäre bei 35 Prozent Schluss. Zu wenig, um eine Regierung zu stürzen.
Reichte es, um die Politik mit Referenden und Initiativen lahm zu legen? Die SVP gewinnt Wahlen, Abstimmungen eher selten. Die Politik würde härter. Aber das wird sie auch mit Christoph Blocher im Bundesrat. Mit einer Mitte-links-Regierung würde sie auch fröhlicher, berechenbarer, besser.
Doch zum Regieren brauchen die Koalitionspartner drei Dinge: ein gemeinsames Programm, gute Nerven und Entschlossenheit. An all dem fehlt es.

3.
Tatsächlich ist Selbstvertrauen nicht gerade die Sache der Mitteparteien. Die angefallene CVP windet sich vor Angst. Sie wünscht sich abwechselnd alles: ein Bündnis mit der FDP und die Hilfe der Sozialdemokraten. Und bekommt nichts. (FDP-Nationalrat Felix Gutzwiller am TV, kalt: «Der Anspruch der SVP ist legitim.» Darauf CVP-Präsident Philipp Stähelin: «Man muss auch den Ständerat in die Rechnung einbeziehen.» Darauf die SP-Präsidentin Christiane Brunner: «Für die Vertretung im Bundesrat sollte allein die Zusammensetzung des Nationalrats gelten.»)
Entschlossen ist die FDP. Typisch argumentierte der Zürcher Parteipräsident Ruedi Noser gegenüber der WOZ: «Wir sind der Juniorpartner. Alles andere ist unrealistisch. Sie können in einem Unternehmen nicht von unrealistischen Annahmen ausgehen.» Und: «Wir haben keine Differenz zur SVP in bürgerlichen Fragen, etwa bei Steuern und Finanzen. Nur in weltanschaulichen.» Von Ärger über die SVP-Taktik – die Bekanntgabe des Ultimatums am TV – kein Wort.
Zu sagen, die einst stolze FDP habe das Gesicht verloren, ist zu sanft ausgedrückt. Sie hat sich von der SVP die Haut vom Gesicht reissen lassen. Sie ist bereit, den Führungsanspruch des Stärkeren zu akzeptieren, sich öffentlich zu ducken, die CVP zu opfern und das SVP-Politbüro dirigieren zu lassen.
Das wird sich in sieben Wochen nicht ändern, und darum wird am 10. Dezember Christoph Blocher zum Bundesrat gewählt.

4.
Damit beginnt für alle Bundesratsparteien ein Spiel mit hohem Risiko. Die bis jetzt wenig konstruktive SVP übernimmt die Führung. FDP und CVP spielen Juniorpartner. Die SP läuft Gefahr, dabei zu sein, ohne mitmachen zu können. Dieses Szenario ist immer noch besser als das für die nächste Legislatur allgemein erwartete: schleichender, undeklarierter Rechtsrutsch der bürgerlichen Mitte und irgendwann ein SVP-Bundesrat Maurer oder Spuhler. Der Vorteil: Die Entscheide in Bern oben haben nun einen ganz klaren Absender: 8704 Herrliberg. Und somit muss die SVP das Doppelspiel zwischen Regierung und Opposition, das sie so meisterhaft beherrscht hat, aufgeben: Hunde, die ihren Herrn anfallen, sind kein schönes Bild.

5.
Was Blocher selber betrifft, geht er ein Wagnis ein. Unbestreitbar ist er erfahren, clever, mit allen Wassern gewaschen. Nur, wer ist er eigentlich? Seine Unfassbarkeit gehört zu seinem Image, seine Abwesenheit zu seinen Stärken.
Nun wird er unter Dauerbeobachtung an der Spitze einer Verwaltung sein, für die er bislang nur ein Wort übrig hatte: Abbau. Mit der Hypothek, während Jahrzehnten Erwartungen aufgebaut zu haben, die er nun in vier Jahren einlösen muss. Und überdies muss er als Chef einer Partei für zu kurz Gekommene, Unzufriedene und Verunsicherte nun mit seiner Politik für Reiche und Grossunternehmen Ernst machen. Nicht der leichteste Job.

6.
Wer glaubt, dass Blocher daran so schnell scheitern wird wie die Populisten Ronald Schill, der frühe Berlusconi oder Jörg Haider, täuscht sich gewaltig. Die Unterschiede:
• Das Hauptprogramm dieser Politiker bestand in ihrem eigenen Namen.
• Sie kamen kometenhaft und mit einer untrainierten Truppe an die Macht.
• Sie hatten plötzlich massenweise Posten zu vergeben, wo eine Menge silberne Löffel herumlagen.
Die Folge war überall eine endlose Kette Korruptionsskandale.
Blocher ist nicht Populist – er bedient sich nur bisweilen populistischer Mittel. Er hat ein politisches Programm. Der Griff nach der Macht ist für ihn nicht Selbstzweck, er hätte viel früher dem Establishment beitreten können. Stattdessen hat er in einem Vierteljahrhundert aus einer gemächlichen Gewerblerpartei eine auf Askese und harte Arbeit verpflichtete Partei aufgebaut – eine gut trainierte, willige, schnelle, hierarchisch aufgebaute Propagandamaschine, bestückt mit hunderten von Mitgliedern, die in den scheinbar uneinnehmbaren Bastionen der Innerschweiz und der Romandie erfolgreich missionieren.
Die SVP hat mit ihrem Ultimatum gezeigt, dass sie nicht eine lavierende Partei unter anderen ist, sondern eine, die bereit ist, unter grossem Einsatz etwas zu verändern: als revolutionäre Kraft.

7.
Ist das übertrieben? Eine revolutionäre Kraft bestreitet die Legitimität des herrschenden politischen Systems. Die SVP bekämpft jede politische Institution, die ihr in den Weg kommt, etwa das Bundesgericht, wenn es willkürliche Einbürgerungen an der Urne verbietet, weil sie gegen die Verfassung verstossen. Die SVP verglich das Parlament nach den Bundesrichterwahlen mit dem Irak, als es nicht die ihr genehmen Kandidaten wählte, et cetera.
Als revolutionäre Kraft hält sich die SVP nicht an die Regeln, die für andere selbstverständlich sind. Jahrzehntelang bestand die Schweizer Politik aus Absprachen und Rücksichtnahme. Man beschimpfte seine Gegner nicht persönlich und veröffentlichte nicht – wie die SVP in Solothurn – in Inseraten ihre Telefonnummern. Man löschte nicht mit einem Schlag die Usanzen einer Bundesratswahl aus wie die SVP letzten Sonntag mit ihrem Ultimatum. Man nahm den eigenen Bundesrat nicht ohne Rückfrage als Geisel in einem Machtpoker und zwang ihn dabei noch, öffentlich Reue und Treue zu schwören. Kein Schweizer Bundesrat ist je von seiner Partei so gedemütigt worden wie Samuel Schmid.
Die anderen Parteien und die Medien sehen in den permanenten Regelverstössen der SVP nur Taktik. Die Partei gilt als Meisterin des medialen Spiels, der Übertreibung mit System. Auch das ist bezeichnend für eine revolutionäre Kraft: dass die etablierten Kreise, eingelullt nach einer langen Phase der Stabilität, ihre eigentliche Absicht nicht erkennen. Wer rechtzeitig warnt, gilt als Alarmist. Wer sich teils abgrenzt (zum Beispiel in Stilfragen), teils anpasst (zum Beispiel inhaltlich), gilt als vernünftig.

8.
Eine revolutionäre Kraft besitzt den Mut der Überzeugten. Es geht am 10. Dezember also nicht um Kosmetik an der Zauberformel, es geht um ein vollkommen neues Spiel.
Die SVP hat den Mut besessen, aus einem siegreichen Spiel (gerade jetzt, wo unauffällig mit Hilfe der Mitteparteien politisch geerntet werden könnte) auf dem Höhepunkt auszusteigen und alles auf eine Karte zu setzen. Sie will aus einer fast mächtigen Quasioppositionspartei in den Status der treibenden Regierungspartei mutieren.
Die Schwierigkeiten, die die anderen bürgerlichen Parteien mit der SVP haben, sind alles andere als zufällig: Die SVP macht zwar Deals, hält diese aber nur ein, bis sie nicht mehr opportun sind. Im Gegensatz zu den anderen verfolgt sie ein echtes Programm: Ihr Hass gegen Staat, wechselnde Schmarotzer und Freisinnige hat einen langen Atem. Ihre Dossiers verfolgt sie über Jahre.
Diese Leute meinen es ernst. Sie wollen nicht ein Stück der Macht. Sie wollen ein fundamental anderes Land.

9.
Und die Linke? Die Wahlen haben vor allem ihr Potenzial gezeigt: Die SP hat im Schlafwagenwahlkampf das beste Ergebnis seit 25 Jahren eingefahren, die Grüne praktisch tiefgefroren ein sensationelles Ergebnis erzielt – und das, nachdem fast alle Diskussionen während Jahren (ohne ihre Schuld) an ihnen vorbeigelaufen waren. Ein Rekordsommer genügte, um sie aufzutauen: Der Klimawandel und das Bedürfnis nach einer Alternative brachte vier Sitzgewinne.
Trotzdem ist das Ergebnis der SP schlecht. Immerhin sind vier atemraubende Jahre vergangen: das Platzen der Börsenblase, die Blamage des Old-Boys-Establishments bei Swissair, Rentenanstalt und Co., die abzockenden Versicherungen, der Angriff auf die Sozialwerke – Dynamit genug für mehr als 0,8 Prozentpunkte Gewinn. Kommt dazu, dass die FDP sich am Schluss selber versenkte: Ausgerechnet ihr letzter Kopf – Bundespräsident Pascal Couchepin – schaffte es, durch sein Schweigen zu den Krankenkassenprämien der Partei im Schlussspurt ein, zwei Prozentpunkte abzunehmen.

10.
Doch das ist nun Geschichte. Ein Bundesrat Blocher bietet der Linken die historische Chance, Methoden und Erbe der SVP zu übernehmen. Oder vielmehr zurückzuerobern: Die bösartige Form von Humor und Kritik, die radikale Gegnerschaft, den Aufbau einer Kaderpartei, den Marsch durch die Institutionen, das Doppelspiel von Regierungspartei und Opposition hat Blocher von der Linken gelernt. Was es jetzt braucht, ist ein klares Programm, begleitet von einer gebetsmühlenartigen Polemik, und viel harte Arbeit: Eine SVP-artige SP muss bereit sein, Unterschriften zu sammeln, Empörung auszuhalten und einige Niederlagen einzustecken. Das Schweizer System hat genügend Barrieren, um erfolgreich Sabotage zu leisten.
Der Hauptschauplatz der nächsten Legislatur wird das Steuerdossier sein. Die Abstimmung über die vier Milliarden Franken sinnloser Steuergeschenke (davon zwei Drittel für die reichsten sieben Prozent) ist die erste Chance, die SVP und ihre Vasallen zu stoppen. Und die Gelegenheit, offensiv und mit Hilfe der abtrünnigen Liberalen und Christlichsozialen, eine Initiative für eine nationale Erbschaftssteuer zu lancieren.

11.
Die Zeit der konkordanten Kompromisstaktik ist vorbei. Notwendig ist für die Linke darum auch ein Szenario für den Gang in die Opposition. Selbst wenn die Referenden anfangs nicht funktionieren, kann man damit rechnen, dass in einigen Jahren, wenn SVP und FDP Infrastruktur, Bildung, soziale Sicherheit in Trümmer gelegt haben, der Zeitpunkt gekommen ist, das Ruder zu übernehmen. Diese Regierung ist treffbar. Denn das werden wir ihr zu verdanken haben: Klassenmedizin, Aufblähung des Finanzplatzes auf Kosten der übrigen Wirtschaft, Schutz der Pharma- und Autoimportmonopole, Aufweichung der Renten, Schutz der ineffizienten Versicherungslobby, sinnlose Strassenbaugrossprojekte et cetera.
Was auf die Linke wartet, ist somit ein heiss geführter Kampf in einem immer kälteren Land. Es ist der Kampf gegen eine motivierte Truppe wirtschaftsliberal-konservativer Ideologen, die über die Realität denken wie die Erfinder des Haarschneidehelms: «Sind die Köpfe nicht verschieden gross?» – «Ja, aber nur beim ersten Mal.» Es sind entschlossene Leute: Sie haben über zwanzig Jahre daran gearbeitet, eine Kaderpartei aufzubauen und ihre bürgerlichen Gegner zur Kapitulation zu zwingen.
Wenn die Linke ein machbares Programm und harte Kritik bringt, hat sie eine kleine, aber existente Chance. Es ist die Chance, nach zwanzig Jahren neoliberaler Ideologie wieder die Herrschaft über die Köpfe zu übernehmen: durch Protest und durch Programm.
Auf die Revolution folgt meistens die Konterrevolution. Auf den Knall das Echo.

 

 

 


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