Die SVP
setzt den Mitteparteien die Pistole auf die Brust. Elf Thesen, was dies für
die politische Landschaft Schweiz bedeuten könnte.
«Ich führe eine Offensive gegen die herrschende politische Kultur. Die will
ich zerstören. Die muss man zerstören.» (Christoph Blocher, am Wahlabend
1999)
1.
Die politische Schweiz, wie wir sie gekannt haben, ist Geschichte. Eine neue
Epoche bricht an. Die alte Schweiz endete mit einem Wimmern, die neue begann
mit einem Knall: Dem Wimmern der Mitteparteien folgte der Knall, als der
SVP-Parteichef Ueli Maurer diesen Sonntag punkt sieben Uhr abends ihnen die
Pistole auf die Brust setzte und deklarierte: Bundesrat Blocher oder
Opposition.
Es war eine Ohrfeige von seltener Dramatik in der Schweizer Politik. Selten
sah man bürgerliche Politiker durch andere bürgerliche Politiker so
gedemütigt. Aber Maurers Ultimatum war mehr als eine Provokation. Es war
auch ein Akt von seltener Klarheit und seltenem Mut. Denn seine Argumente
waren stimmig und konsequent. Es ist konsequent, dass die SVP nach drei
Siegen in Folge die Macht übernehmen will. Und es ist klar, dass nur einer
dies glaubwürdig vertreten kann. Ihr Chef und einziger Kopf: Christoph
Blocher.
Und es ist mutig, dass die SVP das tut. Kleinere Kämpfer als sie hätten
alles so weiterlaufen lassen wie in der letzten Legislatur. Dort lief es
prächtig. FDP und CVP waren eingeschüchtert und bereits weit nach rechts
gerutscht. Sie portierten zentrale und symbolische Anliegen der SVP – etwa
das gigantische Steuerpaket für die Reichen, das faktische Moratorium in
Sachen EU-Beitritt oder das Nein zur schon sicher geglaubten
Cannabislegalisierung.
Die SVP wechselt die Strategie im Augenblick des grössten Erfolgs.
2.
Im Prinzip hätte jede Partei guten Grund, die SVP in die Opposition zu
schicken. Für die CVP geht es ums Überleben: Mit nur noch einem Bundesrat
wird sie, was die SVP lange war, nämlich der geduldete Knecht am Tisch der
Macht. Für die FDP wäre das Motiv Rache: Ihr Lieblingsszenario, der SVP bei
Gelegenheit einen Bundesrat auf Kosten der SP zuzuschanzen, wurde ohne
Warnung abgeblasen. Die SP oder die Grünen könnten ihre Macht ausbauen:
Ihnen müsste nach diesem Wahlausgang Samuel Schmids Sitz zufallen.
Die neue Schweiz könnte mit einer Mitte-links-Regierung anfangen. Wie stark
würde die SVP auf der Oppositionsbank zulegen? Gesamtschweizerisch wäre bei
35 Prozent Schluss. Zu wenig, um eine Regierung zu stürzen.
Reichte es, um die Politik mit Referenden und Initiativen lahm zu legen? Die
SVP gewinnt Wahlen, Abstimmungen eher selten. Die Politik würde härter. Aber
das wird sie auch mit Christoph Blocher im Bundesrat. Mit einer
Mitte-links-Regierung würde sie auch fröhlicher, berechenbarer, besser.
Doch zum Regieren brauchen die Koalitionspartner drei Dinge: ein gemeinsames
Programm, gute Nerven und Entschlossenheit. An all dem fehlt es.
3.
Tatsächlich ist Selbstvertrauen nicht gerade die Sache der
Mitteparteien. Die angefallene CVP windet sich vor Angst. Sie wünscht sich
abwechselnd alles: ein Bündnis mit der FDP und die Hilfe der
Sozialdemokraten. Und bekommt nichts. (FDP-Nationalrat Felix Gutzwiller am
TV, kalt: «Der Anspruch der SVP ist legitim.» Darauf CVP-Präsident Philipp
Stähelin: «Man muss auch den Ständerat in die Rechnung einbeziehen.» Darauf
die SP-Präsidentin Christiane Brunner: «Für die Vertretung im Bundesrat
sollte allein die Zusammensetzung des Nationalrats gelten.»)
Entschlossen ist die FDP. Typisch argumentierte der Zürcher Parteipräsident
Ruedi Noser gegenüber der WOZ: «Wir sind der Juniorpartner. Alles andere ist
unrealistisch. Sie können in einem Unternehmen nicht von unrealistischen
Annahmen ausgehen.» Und: «Wir haben keine Differenz zur SVP in bürgerlichen
Fragen, etwa bei Steuern und Finanzen. Nur in weltanschaulichen.» Von Ärger
über die SVP-Taktik – die Bekanntgabe des Ultimatums am TV – kein Wort.
Zu sagen, die einst stolze FDP habe das Gesicht verloren, ist zu sanft
ausgedrückt. Sie hat sich von der SVP die Haut vom Gesicht reissen lassen.
Sie ist bereit, den Führungsanspruch des Stärkeren zu akzeptieren, sich
öffentlich zu ducken, die CVP zu opfern und das SVP-Politbüro dirigieren zu
lassen.
Das wird sich in sieben Wochen nicht ändern, und darum wird am 10. Dezember
Christoph Blocher zum Bundesrat gewählt.
4.
Damit beginnt für alle Bundesratsparteien ein Spiel mit hohem Risiko.
Die bis jetzt wenig konstruktive SVP übernimmt die Führung. FDP und CVP
spielen Juniorpartner. Die SP läuft Gefahr, dabei zu sein, ohne mitmachen zu
können. Dieses Szenario ist immer noch besser als das für die nächste
Legislatur allgemein erwartete: schleichender, undeklarierter Rechtsrutsch
der bürgerlichen Mitte und irgendwann ein SVP-Bundesrat Maurer oder Spuhler.
Der Vorteil: Die Entscheide in Bern oben haben nun einen ganz klaren
Absender: 8704 Herrliberg. Und somit muss die SVP das Doppelspiel zwischen
Regierung und Opposition, das sie so meisterhaft beherrscht hat, aufgeben:
Hunde, die ihren Herrn anfallen, sind kein schönes Bild.
5.
Was Blocher selber betrifft, geht er ein Wagnis ein. Unbestreitbar ist
er erfahren, clever, mit allen Wassern gewaschen. Nur, wer ist er
eigentlich? Seine Unfassbarkeit gehört zu seinem Image, seine Abwesenheit zu
seinen Stärken.
Nun wird er unter Dauerbeobachtung an der Spitze einer Verwaltung sein, für
die er bislang nur ein Wort übrig hatte: Abbau. Mit der Hypothek, während
Jahrzehnten Erwartungen aufgebaut zu haben, die er nun in vier Jahren
einlösen muss. Und überdies muss er als Chef einer Partei für zu kurz
Gekommene, Unzufriedene und Verunsicherte nun mit seiner Politik für Reiche
und Grossunternehmen Ernst machen. Nicht der leichteste Job.
6.
Wer glaubt, dass Blocher daran so schnell scheitern wird wie die
Populisten Ronald Schill, der frühe Berlusconi oder Jörg Haider, täuscht
sich gewaltig. Die Unterschiede:
• Das Hauptprogramm dieser Politiker bestand in ihrem eigenen Namen.
• Sie kamen kometenhaft und mit einer untrainierten Truppe an die Macht.
• Sie hatten plötzlich massenweise Posten zu vergeben, wo eine Menge
silberne Löffel herumlagen.
Die Folge war überall eine endlose Kette Korruptionsskandale.
Blocher ist nicht Populist – er bedient sich nur bisweilen populistischer
Mittel. Er hat ein politisches Programm. Der Griff nach der Macht ist für
ihn nicht Selbstzweck, er hätte viel früher dem Establishment beitreten
können. Stattdessen hat er in einem Vierteljahrhundert aus einer
gemächlichen Gewerblerpartei eine auf Askese und harte Arbeit verpflichtete
Partei aufgebaut – eine gut trainierte, willige, schnelle, hierarchisch
aufgebaute Propagandamaschine, bestückt mit hunderten von Mitgliedern, die
in den scheinbar uneinnehmbaren Bastionen der Innerschweiz und der Romandie
erfolgreich missionieren.
Die SVP hat mit ihrem Ultimatum gezeigt, dass sie nicht eine lavierende
Partei unter anderen ist, sondern eine, die bereit ist, unter grossem
Einsatz etwas zu verändern: als revolutionäre Kraft.
7.
Ist das übertrieben? Eine revolutionäre Kraft bestreitet die Legitimität
des herrschenden politischen Systems. Die SVP bekämpft jede politische
Institution, die ihr in den Weg kommt, etwa das Bundesgericht, wenn es
willkürliche Einbürgerungen an der Urne verbietet, weil sie gegen die
Verfassung verstossen. Die SVP verglich das Parlament nach den
Bundesrichterwahlen mit dem Irak, als es nicht die ihr genehmen Kandidaten
wählte, et cetera.
Als revolutionäre Kraft hält sich die SVP nicht an die Regeln, die für
andere selbstverständlich sind. Jahrzehntelang bestand die Schweizer Politik
aus Absprachen und Rücksichtnahme. Man beschimpfte seine Gegner nicht
persönlich und veröffentlichte nicht – wie die SVP in Solothurn – in
Inseraten ihre Telefonnummern. Man löschte nicht mit einem Schlag die
Usanzen einer Bundesratswahl aus wie die SVP letzten Sonntag mit ihrem
Ultimatum. Man nahm den eigenen Bundesrat nicht ohne Rückfrage als Geisel in
einem Machtpoker und zwang ihn dabei noch, öffentlich Reue und Treue zu
schwören. Kein Schweizer Bundesrat ist je von seiner Partei so gedemütigt
worden wie Samuel Schmid.
Die anderen Parteien und die Medien sehen in den permanenten Regelverstössen
der SVP nur Taktik. Die Partei gilt als Meisterin des medialen Spiels, der
Übertreibung mit System. Auch das ist bezeichnend für eine revolutionäre
Kraft: dass die etablierten Kreise, eingelullt nach einer langen Phase der
Stabilität, ihre eigentliche Absicht nicht erkennen. Wer rechtzeitig warnt,
gilt als Alarmist. Wer sich teils abgrenzt (zum Beispiel in Stilfragen),
teils anpasst (zum Beispiel inhaltlich), gilt als vernünftig.
8.
Eine revolutionäre Kraft besitzt den Mut der Überzeugten. Es geht am 10.
Dezember also nicht um Kosmetik an der Zauberformel, es geht um ein
vollkommen neues Spiel.
Die SVP hat den Mut besessen, aus einem siegreichen Spiel (gerade jetzt, wo
unauffällig mit Hilfe der Mitteparteien politisch geerntet werden könnte)
auf dem Höhepunkt auszusteigen und alles auf eine Karte zu setzen. Sie will
aus einer fast mächtigen Quasioppositionspartei in den Status der treibenden
Regierungspartei mutieren.
Die Schwierigkeiten, die die anderen bürgerlichen Parteien mit der SVP
haben, sind alles andere als zufällig: Die SVP macht zwar Deals, hält diese
aber nur ein, bis sie nicht mehr opportun sind. Im Gegensatz zu den anderen
verfolgt sie ein echtes Programm: Ihr Hass gegen Staat, wechselnde
Schmarotzer und Freisinnige hat einen langen Atem. Ihre Dossiers verfolgt
sie über Jahre.
Diese Leute meinen es ernst. Sie wollen nicht ein Stück der Macht. Sie
wollen ein fundamental anderes Land.
9.
Und die Linke? Die Wahlen haben vor allem ihr Potenzial gezeigt: Die SP
hat im Schlafwagenwahlkampf das beste Ergebnis seit 25 Jahren eingefahren,
die Grüne praktisch tiefgefroren ein sensationelles Ergebnis erzielt – und
das, nachdem fast alle Diskussionen während Jahren (ohne ihre Schuld) an
ihnen vorbeigelaufen waren. Ein Rekordsommer genügte, um sie aufzutauen: Der
Klimawandel und das Bedürfnis nach einer Alternative brachte vier
Sitzgewinne.
Trotzdem ist das Ergebnis der SP schlecht. Immerhin sind vier atemraubende
Jahre vergangen: das Platzen der Börsenblase, die Blamage des
Old-Boys-Establishments bei Swissair, Rentenanstalt und Co., die abzockenden
Versicherungen, der Angriff auf die Sozialwerke – Dynamit genug für mehr als
0,8 Prozentpunkte Gewinn. Kommt dazu, dass die FDP sich am Schluss selber
versenkte: Ausgerechnet ihr letzter Kopf – Bundespräsident Pascal Couchepin
– schaffte es, durch sein Schweigen zu den Krankenkassenprämien der Partei
im Schlussspurt ein, zwei Prozentpunkte abzunehmen.
10.
Doch das ist nun Geschichte. Ein Bundesrat Blocher bietet der Linken die
historische Chance, Methoden und Erbe der SVP zu übernehmen. Oder vielmehr
zurückzuerobern: Die bösartige Form von Humor und Kritik, die radikale
Gegnerschaft, den Aufbau einer Kaderpartei, den Marsch durch die
Institutionen, das Doppelspiel von Regierungspartei und Opposition hat
Blocher von der Linken gelernt. Was es jetzt braucht, ist ein klares
Programm, begleitet von einer gebetsmühlenartigen Polemik, und viel harte
Arbeit: Eine SVP-artige SP muss bereit sein, Unterschriften zu sammeln,
Empörung auszuhalten und einige Niederlagen einzustecken. Das Schweizer
System hat genügend Barrieren, um erfolgreich Sabotage zu leisten.
Der Hauptschauplatz der nächsten Legislatur wird das Steuerdossier sein. Die
Abstimmung über die vier Milliarden Franken sinnloser Steuergeschenke (davon
zwei Drittel für die reichsten sieben Prozent) ist die erste Chance, die SVP
und ihre Vasallen zu stoppen. Und die Gelegenheit, offensiv und mit Hilfe
der abtrünnigen Liberalen und Christlichsozialen, eine Initiative für eine
nationale Erbschaftssteuer zu lancieren.
11.
Die Zeit der konkordanten Kompromisstaktik ist vorbei. Notwendig ist für
die Linke darum auch ein Szenario für den Gang in die Opposition. Selbst
wenn die Referenden anfangs nicht funktionieren, kann man damit rechnen,
dass in einigen Jahren, wenn SVP und FDP Infrastruktur, Bildung, soziale
Sicherheit in Trümmer gelegt haben, der Zeitpunkt gekommen ist, das Ruder zu
übernehmen. Diese Regierung ist treffbar. Denn das werden wir ihr zu
verdanken haben: Klassenmedizin, Aufblähung des Finanzplatzes auf Kosten der
übrigen Wirtschaft, Schutz der Pharma- und Autoimportmonopole, Aufweichung
der Renten, Schutz der ineffizienten Versicherungslobby, sinnlose
Strassenbaugrossprojekte et cetera.
Was auf die Linke wartet, ist somit ein heiss geführter Kampf in einem immer
kälteren Land. Es ist der Kampf gegen eine motivierte Truppe
wirtschaftsliberal-konservativer Ideologen, die über die Realität denken wie
die Erfinder des Haarschneidehelms: «Sind die Köpfe nicht verschieden
gross?» – «Ja, aber nur beim ersten Mal.» Es sind entschlossene Leute: Sie
haben über zwanzig Jahre daran gearbeitet, eine Kaderpartei aufzubauen und
ihre bürgerlichen Gegner zur Kapitulation zu zwingen.
Wenn die Linke ein machbares Programm und harte Kritik bringt, hat sie eine
kleine, aber existente Chance. Es ist die Chance, nach zwanzig Jahren
neoliberaler Ideologie wieder die Herrschaft über die Köpfe zu übernehmen:
durch Protest und durch Programm.
Auf die Revolution folgt meistens die Konterrevolution. Auf den Knall das
Echo. |