WOZ, 12. Dez. 2002

 

Ist die Sozialdemokratie noch zu retten?
Eine Replik

 
Schafft mit dem Kopf, Genossen!
 


Peter Bodenmann

 


 
Franco Cavalli fordert eine politische Debatte über den Kurs der SP. Vielleicht hat er Recht, findet der ehemalige SP-Parteipräsident Peter Bodenmann. Hier sein offener Brief.


Lieber Franco Cavalli

Dein Artikel in der letzten WoZ hat mich geärgert. Er ging mir auf den Keks, und deshalb kurz vor Weihnachten eine etwas gallige Antwort.
Du zählst dich zur gewerkschaftlichen Linken. Wer politisiert, muss konzeptionell arbeiten. An diesem Anspruch misst sich Kritik und Selbstkritik.
Da die Linke national und international zurzeit leider zu keinem grossen Wurf fähig ist, muss die SP zumindest Politikfeld für Politikfeld linke Bausteine entwickeln, somit kleine Brötchen für bessere Zeiten backen.
Die SP hat in den letzten fünf Jahren – während deren du eine wichtige Funktion innehattest – darauf verzichtet, diese konzeptionelle Arbeit zu pflegen. Dies spiegelt sich in deinem Artikel, der kaum zufällig viele zentrale Fragen ausklammert.

Die EU: Die Schweiz hat politisch den Alleingang in Europa gewählt. Die Banken und Versicherungen wollen weiterhin ungestört 3000 Milliarden Franken Offshoregelder verwalten. Für mich stellt die EU den einzigen Raum dar, in dem die europäische Linke mit Aussicht auf Erfolg reregulieren kann. Wer in die EU will, muss seine Vorschläge eurokompatibel ausgestalten. Trotz Lippenbekenntnissen verfolgt die SP und mit ihr die gewerkschaftliche Linke in der politischen Praxis keine eurokompatible Politik mehr. Auch deshalb konnte sich Micheline Calmy-Rey – ohne wahrnehmbaren Widerspruch – vor der Wahl offensiv für den bilateralen Weg aussprechen. Und nach der Wahl für den EU-Beitritt. Beides lässt sich – da inzwischen irrelevant – problemlos kombinieren.

Ökologischer Umbau: Die SP und die Grünen haben den ökologischen Umbau als zentrales politisches Anliegen fallen gelassen. Die Logik des Faktors 4 – doppelter Reichtum und halber Ressourcenverbrauch – wird ausgeblendet. Und dies, obwohl der ökologische Umbau nicht nur Arbeitsplätze schafft, sondern sich dank dem technischen Fortschritt erstmals auch ökonomisch rechnet. Als einsamer Rufer in der Wüste verbleibt Ruedi Rechsteiner mit seinen Windmühlen.

Nachhaltiges Wachstum: Wirtschaftspolitik gehört ins Zentrum jeder linken Politik. Seit zehn Jahren wächst in der Schweiz das Bruttoinlandprodukt pro Kopf nicht mehr. Wer im Interesse der Lohnabhängigen politisiert, muss aufzeigen, wie nachhaltiges und kräftiges wirtschaftliches Wachstum zu schaffen ist. Über Anläufe zu einer antizyklischen Politik, die Couchepin bisher nicht ernst nehmen musste, weil der Druck der gewerkschaftlichen Linken fehlte, kam die Debatte nicht hinaus.
Ob linke Vorschläge eurokompatibel sind oder nicht, spielt neu keine Rolle mehr. Ein kontinuierliches Engagement für den ökologischen Umbau ist nicht mehr erkennbar. Notwendiger Strukturwandel in der Wirtschaft wird kurzerhand mit Liberalisierung und diese mit Privatisierung gleichgesetzt. Das alles erspart viel Kopfarbeit beim Politisieren.
Die Linke muss – wie du richtig feststellst – die Interessen der Lohnabhängigen vertreten. Das diffuse politische Konzept der neuen Mittelschichten und der neuen Mitte hat ausgedient. Heute wird es auch bei vielen Familien, die zwischen 6000 und 9000 Franken im Monat verdienen, Ende Monat knapp. Wer die Interessen der Lohnabhängigen vertreten will, muss deren Warenkorb zur Hand nehmen und sich überlegen, auf welchen Feldern er etwas bewegen kann.

Mieten: In der Schweiz sind sie zu hoch. In den letzten Jahren sind sie überproportional stark angestiegen. Der neue Mieterschutz ist schlechter als der alte, und schon der alte verhinderte die Explosion der Mieten nicht. Die Statistiken belegen: Je höher die Bodenpreise, desto höher die Mieten. Die Linke müsste offensiv die Bodenfrage, die Bodenrente, das Raumplanungsrecht und damit verbunden städtischen und somit staatlichen Wohnungsbau thematisieren.

Gesundheitswesen: Es rückt ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen. Die unsozialen Kopfprämien müssen weg. So weit haben wir keine Differenzen. Diese fangen dort an, wo es um die Strukturen dieses Sektors geht. Die Schweiz benötigt nicht mehr als zwei medizinische Fakultäten. 50 staatliche Spitäler mit je 300 Akutbetten sind genug. Fallpauschalen sind im stationären Bereich mit Globalbudgets und Qualitätskontrollen zu kombinieren. Der ambulante Bereich kann mit intelligenten Globalbudgets gesteuert werden. Die erreichbaren Ziele: Weniger und billigere Medikamente werden gezielter und daher wirksamer verschrieben. Weniger, aber bessere medizinische Geräte erhöhen die Qualität der medizinischen Versorgung. Beides schafft Spielraum für höhere Löhne des Pflegepersonals, bessere Betreuung der alterndenBevölkerung sowie für den Ausbau der Präventiv- und Arbeitsmedizin. Auf keinem Gebiet lässt sich heute die Überlegenheit staatlicher Planung und Globalsteuerung gegenüber ungeregelter privater Kapitalverwertung besser illustrieren als im Gesundheitswesen. Jean-François Steiert und du haben als Verantwortliche der Gesundheitsinitiative mitverhindert, dass diese Diskussion in Gang kam. Ein mehr als zwanzigseitiges Papier von mir verschwand auch in euren Schubladen.

Landwirtschaft: Mehr als 10 000 Bauernbetriebe, die je 100 Hektaren ökologisch bewirtschaften, braucht die Schweiz mittelfristig nicht. Die Linke müsste endlich die richtigen Fragen stellen: Wollen wir höhere Preise für landwirtschaftliche Rohprodukte bezahlen als die Österreicher? Ja oder nein? Sollen die Schweizer Bauern pro Hektare mehr Subventionen bekommen als ihre österreichischen Berufskollegen? Ja oder nein? Sollen wir die Bäuerinnen und Bauern weiterhin strukturerhaltend subventionieren? Oder sollen wir sie wie in Österreich sozialverträglich frühpensionieren? Ja oder nein? Wer vor dem Strukturwandel Angst hat, schützt – wie die gewerkschaftliche Linke – nicht nur die politischen Homelands der SVP. Nein, er verhindert damit über die Abschottung der nachfolgenden Verarbeitungs- und Verteilstrukturen den notwendigen Umbau der Binnenwirtschaft, die so effizient wie die Exportwirtschaft werden kann und muss.

Autos: Jährlich kaufen die Schweizer Lohnabhängigen 250 000 Autos und damit ein Stück sauer verdiente Mobilität. Jedes neue Auto ist in der Schweiz durchschnittlich 6000 Franken zu teuer. Auch das ist kein Thema der gewerkschaftlichen Linken. Selbst der rechte Sozialdemokrat Ruedi Strahm darf Autopreise nicht offensiv thematisieren. Wer nur bei den Löhnen und nicht auch bei den Lebenshaltungskosten ansetzt, verfolgt eine Politik, die mittelfristig nicht aufgehen kann.
Service public: Bleibt der Service public, wo du offenbar mit einer neuen Mehrheit in der Fraktion das Problem darin siehst, dass damals nicht eine Holding zwischen Post und Swisscom geschaffen wurde. Und gleichzeitig Verständnis für den angeblich von den Bürgerlichen so arg bedrängten Moritz Leuenberger aufbringst, der in Tat und Wahrheit seit Jahr und Tag die Möglichkeiten linker Exekutivpolitik nicht nutzt.
Aus meiner Sicht ist das Resultat der Regierungsarbeit von Moritz Leuenberger und Ruth Dreifuss – wie schon einige wenige Beispiele zeigen – auf vielen für die politische Linke zentralen Feldern suboptimal.
• Die Swisscom müsste längst die ganze Schweiz flächendeckend und kostengünstig mit ADSL versorgen und innert zwei, drei Jahren jeden Haushalt mit einem Glasfaseranschluss versorgt haben, über den jeder Haushalt und jeder Betrieb zu international konkurrenzfähigen Preisen telefonieren, schnell internetten und jedes beliebige TV-Programm runterladen kann.
• Die Krise um die Postverteilzentren könnte und müsste genutzt werden, um einer staatlichen Postbank und einem staatlich kontrollierten, kostengünstigen Zahlungsverkehr über das Handy zum Durchbruch zu verhelfen.
• Der im Departement Leuenberger institutionell angesiedelte ökologische Umbau bewegt praktisch niemanden mehr. So hat Deutschland die einst federführende Schweiz selbst bei den Energievorschriften für Neu- und Umbauten überholt.
• Ruth Dreifuss hat es sorgsam und erfolgreich vermieden, den notwendigen Strukturwandel im Gesundheitswesen auch nur anzudenken.
Linke Politik ist immer auch Politik im System. Im Vorfeld der Bundesratswahlen wäre es mehr als spannend gewesen, wenn Partei, Fraktion und deren Exponenten die Resultate der Arbeit der beiden SP-BundesrätInnen thematisiert hätten. Dies geschah nicht, vielleicht zu Recht, weil im Vorfeld von Bundesratswahlen die Linke immer leicht zu destabilisieren ist. Umso wichtiger wäre diese Diskussion im Nachfeld.
Zwei Bruchstellen sind – anstelle von drei von dir beliebig definierten politischen Tendenzen – innerparteilich unschwer auszumachen. Erstens: Wollen wir mehr oder weniger Staat, mehr oder weniger staatlich kontrollierte Betriebe? Zweitens: Braucht es mehr oder weniger Strukturwandel in staatlichen Betrieben und, dank diesen, in Wirtschaft und Gesellschaft?
Die Gurten-ManifestlerInnen wollen weniger Staat zwecks mehr Strukturwandel. Das Eigentum an den Produktionsmitteln ist ihnen inzwischen so lang wie breit.
Die gewerkschaftliche Linke will mehr Staat mit möglichst wenig Strukturwandel. Das Resultat dieser Politik wird mittelfristig weniger Staat bedeuten, weil staatliche Betriebe, die den Strukturwandel nicht vorantreiben und kontrollieren, sanft entschlafen oder kollabieren.
Gerade wer mittelfristig die Frage stellen will, ob nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nach wie vor notwendig und sinnvoll ist, muss heute aufzeigen, dass dynamische staatliche Unternehmen vergleichbare Produkte und Dienstleistungen sozialer, effizienter und günstiger erbringen können als private Unternehmen, die den Zwängen der Kapitalverwertung folgen.
Salopp formuliert wird der Service public somit zum Übungsfeld für den demokratischen, selbst verwalteten und effizienten Sozialismus. Dank der direkten Demokratie, dank der Liebe der Schweizerinnen und Schweizer zu ihren SBB, ihrer Post, ihrem Elektrizitätswerk und ihrer Swisscom kein aussichtsloses Unterfangen.
Dies alles hat wenig bis nichts mit taktischer Brillanz oder Aktionismus zu tun, die du mir freundlicherweise zuschreibst, sondern mit einem unterschiedlichen Verständnis, was linke Politik anpacken müsste und was nicht.
Nach dem SP-Kongress von Montreux, an dem Ursula Koch die Altpräsidenten aufgefordert hatte, sich künftig nicht mehr politisch einzumischen, habe ich versucht, die hier nur angetippte Logik strukturverändernder linker Politik in einer achtseitigen WoZ-Beilage zu konkretisieren (siehe WoZ Nr. 47/98). Ohne jede Reaktion vonseiten der Partei oder der Fraktion.
Der Entscheid für Ursula Koch als SP-Präsidentin war – wie sich zeigt – hochpolitisch, da entpolitisierend. Die romantische SP wollte eine Diskussion der Grundwerte, die – da unkonkret und inhaltslos – längst spurlos versandet ist. Die Rechten in der Partei wollten dank Ursula Koch endlich konkordante Ruhe statt permanente Opposition und Partizipation als die zwei Beine linker strukturverändernder Politik.
Seit fünf Jahren verzichten Partei und Fraktion weitgehend auf die Diskussion und Weiterentwicklung konzeptioneller Ansätze. Auch weil du diese Diskussion nicht mitorganisiert hast.
Nie waren die objektiven Voraussetzungen für eine strukturverändernde linke Politik besser als heute, wo die platzende Börsenblase das Vertrauen der Massen in den Neoliberalismus und die Selbstregulierungskräfte des Marktes nachhaltig zerstört hat.
Alles Gute im neuen Jahr.

Peter Bodenmann
 

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