Tages-Anzeiger vom 28.3.2003


Parteienbasis weniger zerstritten als Spitze

SVP und FDP sind sich viel näher, als ihr Dauerstreit zu zeigen scheint. Die Linke ist noch geschlossener. Und dazwischen ist fast nichts mehr, zeigt eine Studie der Universität Zürich.

Von Andreas Ladner und Urs Meuli

In den letzten Jahren ist die Schweizer Parteienlandschaft in Bewegung geraten. Verantwortlich dafür ist in erster Linie die SVP mit ihren Wahlerfolgen. Sie sorgt für Unruhe im bürgerlichen Lager und beschuldigt die anderen Parteien, nach links gerutscht zu sein. Stimmt dieser Vorwurf, wie gross sind die Unterschiede zwischen den bürgerlichen Parteien, und wie gross ist die Distanz zur SP?

Ganz besonders interessieren die Verhältnisse im Kanton Zürich. Hier nahm die Erfolgsgeschichte der SVP ihren Anfang, hier wogt der Kampf zwischen FDP und SVP besonders heftig, und hier werden am 6. April Parlament und Regierung neu gewählt. Das Augenmerk liegt für einmal auf der Basis der Parteien, auf den Lokalparteien in den Gemeinden. Die den folgenden Ausführungen zu Grunde liegenden Daten stammen aus einer gesamtschweizerischen Erhebung, die in den letzten Monaten durchgeführt wurde. Eine vergleichbare Untersuchung fand bereits einmal in den Jahren 1989/1990 statt, sodass auch Aussagen über die Veränderungen in den letzten Jahren gemacht werden können.

Stabilität an der Basis

Was die Selbstverortung der Lokalparteien auf der Links-rechts-Achse anbelangt, so hat im Kanton Zürich zwischen der FDP und der SVP in den letzten Jahren ein Positionswechsel stattgefunden. Zu Beginn der 1990er-Jahre lag die FDP noch rechts von der SVP, heute wird der Extremwert von der SVP eingenommen. Dazu gekommen ist es, weil die FDP leicht nach links und die SVP leicht nach rechts gerutscht ist. Der absolute Unterschied zwischen den beiden Parteien ist aber deutlich geringer, als es in der Tagespolitik den Anschein macht.

Die CVP bildet zusammen mit der EVP eine nach Wählerstimmenanteilen kleine Mitte. Beide Parteien sind in den letzten Jahren leicht nach links gerutscht und gruppieren sich um den Mittelpunkt, die CVP leicht rechts, die EVP leicht links davon. Und die SP hält sich zusammen mit den Grünen deutlich und stabil auf der linken Seite. Insgesamt sind aber die Durchschnittswerte der Zürcher Lokalparteien erstaunlich stabil geblieben.

Deutlich grösser werden die Unterschiede, wenn die Lokalparteien angeben müssen, wie sie ihre nationale Partei einschätzen. Hier zeigt sich ein klarer Rechtsrutsch bei der SVP und ein ebenso deutlicher Rutsch in die Mitte bei der FDP. Obwohl die Rechtspolitik der SVP im Kanton Zürich ihren Ursprung fand, kommt sie offensichtlich auf nationaler Ebene deutlich stärker zum Tragen. Und bei der FDP dürften national die sozialliberalen Kräfte unter anderem aus dem Welschland stärker zum Zuge kommen.

Die Zürcher Grünen und die SP positionieren die nationale Partei etwa gleich wie sich selbst. Bei den Grünen fällt zudem auf, dass vor allem die nationale Partei klar nach links gerutscht ist. Die Zürcher CVP- und EVP-Sektionen liegen ganz leicht links vom Kurs ihrer Bundesparteien.

Klare Fronten in der Sachpolitik

Anschaulicher als die Einstufung auf der Links-rechts-Dimension ist die Einstellung der Parteien zu konkreten politischen Fragen. In den wichtigsten politischen Auseinandersetzungen befinden sich auch hier SVP und FDP sehr nahe zusammen. Bürgerliche Postulate finden bei ihren Lokalsektionen in der Regel klare Mehrheiten, linke Postulate werden von ihnen ähnlich klar abgelehnt. Unterschiede zwischen den beiden Parteien zeigen sich einzig in der Geschlossenheit, mit der sie in einzelnen Fragen auftreten. So sind eine Verschärfung der Asylgesetzgebung und der Themenkatalog der inneren Sicherheit (Gewalt, Kriminalität) für die SVP wichtiger als die Liberalisierung staatlicher Aufgaben. Bei diesem Thema herrscht in weiten Teilen der SVP-Basis (noch?) Skepsis vor. Zusätzlich sind die Freisinnigen generell weniger kompromisslos bei der Ablehnung linker Postulate (Ausnahme bildet die Forderung nach stärkerer Besteuerung hoher Einkommen). Dies zeigt sich vor allem beim Umweltschutz und bei der Forderung der kontrollierten Abgabe von Heroin. Bemerkenswert ist die Einstellung der FDP-Mitglieder zu einem EU-Beitritt. Sie sind zwar weniger dezidiert gegen die EU als die SVP-Mitglieder, dass aber nur in jeder achten FDP-Lokalsektion eine Mehrheit der Mitglieder für den Beitritt ist, erstaunt, wenn man bedenkt, dass diese Partei vor noch nicht allzu langer Zeit die Integration in Europa auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Im linken Parteienspektrum sind die Unterschiede in sachpolitischen Diskussionen noch geringer als im bürgerlichen Lager. Zwei Ausnahmen bilden zum einen das Postulat nach einer verstärkten Besteuerung hoher Einkommen, das die Grünen nicht ganz so kompromisslos befürworten wie die SP-Sektionen, und zum andern die Frage eines EU-Beitritts der Schweiz. Die Grünen hatten sich schon vor zehn Jahren gegen einen EWR-Beitritt der Schweiz engagiert, und sie nahmen dabei sogar in Kauf, mit der SVP gegen die EWR-Befürworter zu kämpfen. Diese Europaskepsis schimmert an der Basis der Grünen noch immer durch. Die beiden Mitteparteien CVP und EVP finden sich je nach politischer Frage im linken oder rechten Lager. Linke Positionen vertreten beide Parteien bei der Ablehnung einer Verringerung der Sozialausgaben und einer Liberalisierung staatlicher Aufgaben sowie bei der Zustimmung zur Einführung einer Mutterschaftsversicherung und bei Fragen des Umweltschutzes. Für bürgerliche Anliegen engagieren sich CVP und EVP beim Thema innere Sicherheit, bei der Ablehnung eines Ausbaus der politischen Rechte für Ausländer und bei der Ablehnung eines Beitritts der Schweiz zur EU. Im Vergleich der beiden Mitteparteien politisiert die CVP erkennbar bürgerlicher. Im Gegensatz zur EVP ist mindestens die Hälfte der CVP-Lokalparteien bei fiskalischen Fragen und bei der Asylgesetzgebung gleicher Meinung wie FDP und SVP.

In Anbetracht der geringen Wählerstimmenanteile der Mitteparteien EVP und CVP im Kanton Zürich kann von einem bipolaren Parteiensystem gesprochen werden. Auf der einen Seite stehen FDP und SVP, die sich an ihrer Basis sowohl bezüglich der Positionierung wie auch bezüglich der Grundeinstellung zu sachpolitischen Fragen kaum wesentlich unterscheiden. Ein Abdriften der FDP in die Mitte oder gar auf die linke Seite des politischen Spektrums hat in den Lokalsektionen nicht stattgefunden. Die aktuellen Streitereien zwischen FDP und SVP im Kanton Zürich basieren nicht auf grundlegenden ideologischen Unterschieden. Sie rühren daher, dass ein Kampf um die Vorherrschaft im bürgerlichen Lager entbrannt ist. Die SVP unterscheidet sich vor allem durch ihre Radikalität und ihren politischen Stil sowie durch ihre mangelnde Bereitschaft, zu Kompromissen Hand zu bieten.

Die grosse Gefahr für die FDP

Die Gefahr für die FDP besteht in dieser Konstellation darin, dass sie als moderatere Version der SVP an Anziehungskraft verliert und überflüssig wird. Ihre Zukunft wird davon abhängen, wie weit es ihr gelingt, sich als eigenständige Gestalterin zwischen SVP und SP zu profilieren. Dies würde aber bedingen, dass auch an der Basis ein Wandel vollzogen wird, wie er auf nationaler Ebene bereits stattgefunden hat. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die möglicherweise überlebensnotwendige Neupositionierung nicht ohne Verluste an die SVP zu realisieren ist.

Das linke Lager ist geschlossener. Auf Grund der Machtverhältnisse kann es sich aber nur dann durchsetzen, wenn es ihm gelingt, bürgerliche Kräfte auf seine Seite zu ziehen. Die Unterstützung der Mitteparteien EVP und CVP reicht nicht mehr für eine Mehrheit. Somit sind auch die Voraussetzungen für die so genannte Koalition der Vernunft von Fall zu Fall gegeben: für die SP, weil sie nur so ihre politischen Anliegen durchsetzen kann, für die FDP, weil sie sich dadurch von der SVP absetzt und als Mittepartei bestimmt, auf welcher Seite die Mehrheiten zu Stande kommen.


Zu den Personen
Der Politologe Andreas Ladner und der Soziologe Urs Meuli arbeiten am Soziologischen Institut der Universität Zürich an einem Nationalfondsprojekt über den Wandel der Parteien auf lokaler Ebene.

Andreas Ladner ist Assistenzprofessor am Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern.

Urs Meuli ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Institut der Universität Zürich.


Die Befragungen
 

Die Angaben zu den Parteien stützen sich auf zwei gesamtschweizerische Befragungen der Präsidentinnen und Präsidenten der Lokalparteien aus den Jahren 1989/90 und 2002/03. Die Befragungen wurden am Soziologischen Institut der Universität Zürich im Auftrag des Nationalfonds durchgeführt. Zu beiden Zeitpunkten wurden alle rund 5000 lokalen Parteisektionen in einem schriftlichen Fragebogen gebeten, Auskunft über ihre Lokalsektion zu geben. Etwas mehr als die Hälfte der Lokalparteien haben jeweils den umfangreichen Fragebogen ausgefüllt. Im Kanton Zürich sind in der aktuellen Studie von den sechs grössten Parteien 319 Lokalparteien vertreten, 1989 waren es 320. Genauere Angaben zur Studie und weitere Ergebnisse:

www.socio.ch/par


Regierung oder Opposition?
 

Kann eine Partei zugleich Regierungs- und Oppositionspartei sein? Wer versteht sich als die eigentliche Opposition im Lande? Die Parteipräsidentinnen und -präsidenten wurden gebeten, ihre Lokalpartei, ihre Kantonalpartei und ihre nationale Partei auf einer Regierungs-/Oppositionsskala zu verorten. Die Ergebnisse zeigen, dass die Strategien der Parteien vor allem von ihrer Stellung im politischen System und weniger von ihrem Regierungsverständnis abhängig sind. Während sich die Zürcher Lokalsektionen der SVP klar als Regierungspartei verstehen, was angesichts ihrer unzähligen Sitze in den kommunalen Exekutiven auch nicht weiter erstaunt, liegt ihre Oppositionsbereitschaft im Kanton und vor allem auf nationaler Ebene deutlich höher. Genau das Gegenteil ist bei der SP der Fall. Auf nationaler Ebene versteht sie sich deutlicher als die SVP als Regierungspartei, während ihr in der Mehrheit der Gemeinden ganz klar eine Oppositionsrolle zukommt. Auf allen drei Ebenen als Regierungsparteien verstehen sich FDP und CVP, während die EVP diesbezüglich eine Mittelposition einnimmt. Die eigentliche Opposition im Lande wird durch die Grünen gebildet.



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