Der Tages-Anzeiger am Montag, 25.6.2001

 


Wählen per Internet verändert die Schweiz

In wenigen Jahren wird in der Schweiz mit Hilfe des Internets abgestimmt und gewählt werden können. Für die politischen Parteien hat das schwer wiegende Folgen.

Von Andreas Ladner

Die Schweiz soll nicht nur bei der direkten, sondern auch bei der elektronischen Demokratie eine weltweit führende Rolle einnehmen. Voraussichtlich schon in wenigen Jahren wird mit Hilfe des Internets gewählt und abgestimmt werden können. Die technischen Vorbereitungen laufen auf Hochtouren, und die noch offenen Probleme (Verhinderung von Missbräuchen, elektronische Unterschrift, Zentralisierung der Stimmenregister) werden schon bald gelöst sein. Noch kaum diskutiert werden allerdings die Möglichkeiten, die das so genannte E-Voting vor allem bei den Wahlen eröffnet, und die Folgen, die daraus für das politische System entstehen. Sicher zu kurz greift beispielsweise die Annahme, dass die elektronische Stimmabgabe lediglich die logische Weiterentwicklung der brieflichen Stimmabgabe ist, die es einem erspart, die Abstimmungsunterlagen zur Post zu bringen, und die, da elektronisch, auch gleich automatisch ausgezählt wird.

Auswahlhelfer-Seiten

Wie wird der Nationalrat im Jahre 2007 gewählt werden? Das Vorgehen ist allen, die im Netz schon einmal ein Hotelzimmer gesucht, Bücher bestellt oder bei einem Grossverteiler eingekauft haben, bestens bekannt. Zum Wählen wird man sich auf eine Auswahlhelfer-Seite (das englische Wort dafür muss noch gefunden werden, eine Möglichkeit wäre "Candidate Selection Inducer-Sites" oder kurz CSI-Sites) begeben. In einem ersten Schritt wird man zehn Fragen zu zentralen politischen Problemen beantworten. Mögliche Themen sind: das Interesse an einem EU-Beitritt, die Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe, zum idealen Pensionsalter, zur Privatisierung der Post usw. Auf dem Bildschirm erscheint in Sekundenschnelle eine Liste aller Kandidatinnen und Kandidaten, die mit den gegebenen Antworten übereinstimmen. Zu allen findet man zudem ein Foto und zahlreiche weitere Angaben zu ihrer Person, wie zum Beispiel Interessenbindungen, Verwaltungsratsmandate, Lebensverhältnisse, Hobbys und Parteizugehörigkeit. Weiter sind dort auch die Links zu den persönlichen Web-Seiten der Kandidierenden zu finden. Will man eine Person wählen, so legt man sie vorerst einmal in den Einkaufswagen. Die Auswahl der Personen kann allerdings auch vereinfacht und beschleunigt werden, indem man noch zusätzlich und systematisch bestimmte Personenkreise ausschliesst und sich beispielsweise auf Frauen, Personen unter 35 Jahren oder solche ohne Verwaltungsratsmandate beschränkt. Abschliessend geht man die Liste der sich im Einkaufswagen befindenden Kandidaten noch einmal durch, scheidet überzählige Personen aus, nachdem man noch nach dem steuerbaren Einkommen sortiert, oder komplettiert sie. Per Mausklick wird dann die Liste dem zentralen Wahlbüro übermittelt.

Auswählen gleich Wählen

Die Entwicklung hin zu dieser Form der Auswahl und der Bereitstellung von Informationen über die Kandidierenden wird nicht aufzuhalten sein. Die Einführung des E-Votings beschleunigt sie jedoch und fördert eine flächendeckende Anwendung, weil der Akt des Auswählens direkt mit dem Akt des Wählens verknüpft werden kann. Die Kandidierenden können weder ihre Teilnahme noch die vollständige Bereitstellung der angeforderten Informationen verweigern, da sie sonst ihre Wahlchancen schmälern. Unwahre Angaben und populistisches Verhalten werden auf dem immer transparenter werdenden Wählermarkt längerfristig nicht honoriert. Über das zu erwartende Abstimmungsverhalten der wieder kandidierenden Personen kann man sich zum Beispiel auf Grund ihrer Stimmentscheide bei Namensabstimmungen in den Räten ein Bild machen.

Unwahrscheinlich ist weiter, dass die Bereitstellung dieser Auswahlseite vom Staat kontrolliert werden kann. Der Staat ist für das Einsammeln und Auszählen der Wahllisten verantwortlich. Wie diese Listen zusammengestellt werden, ist den Wählenden überlassen. Die einzige Hürde besteht darin, dass "frei" zusammengestellte Listen als offizielle Wahllisten anerkannt werden. Im besten Fall kann der Staat seine Bürgerinnen und Bürger dazu zwingen, eine mit einem solchen Wahlhelfer zusammengestellte Liste von Hand in das offizielle E-Formular zu übertragen, was - zu Recht - als reine Schikane empfunden würde.

Gegen das allgemeine Unbehagen

Besonders attraktiv am E-Voting ist, dass es einem allgemeinen Unbehagen in der heutigen Demokratie Rechnung trägt. Der legitimatorische Charakter des Wahlaktes basiert auf der Vorstellung, dass die Bürgerinnen und Bürger unter mehreren Kandidatinnen und Kandidaten diejenigen auswählen, die ihren politischen Präferenzen entsprechen. Voraussetzung für das Funktionieren des Wählermarktes ist Transparenz und Information. In den letzten Jahrzehnten ist jedoch das Angebot an Kandidierenden derart angestiegen, dass sich kaum noch jemand einen Überblick über die Fähigkeiten und Qualitäten eines jeden Einzelnen machen kann. Im Kanton Zürich stellten sich für die Nationalratswahlen 1999 beispielsweise 892 Personen zur Wahl, schweizweit waren es 2845. Orientierungshilfe bieten traditionellerweise die politischen Parteien. Die Integrationsfähigkeit der Parteien ist jedoch in den vergangenen Jahren stetig zurückgegangen, und es gelingt ihnen mehr schlecht als recht, neue Strömungen aufzunehmen und die Leute vom Gesamtangebot ihrer Lösungen zu überzeugen. Die steigende Zahl an Panaschierstimmen belegt dies, und der immer grösser werdende Anteil der Wechselwähler zeugt vom Nachlassen der festen Parteibindungen.

Das Internet mit solchen Wahlhelfer-Seiten ist geradezu ideal dafür geschaffen, diese Schwachstellen der Wahlen zu beheben. Es schafft mehr Transparenz und ermöglicht es, gezielt und einfach Kandidatinnen und Kandidaten auszuwählen, die den eigenen politischen Präferenzen am besten entsprechen.

Und die Folgen?

Die Auswirkungen dieser Wahlhelfer auf die Demokratie werden grundlegend und nachhaltig sein. Grundsätzlich positiv zu bewerten ist sicher die gesteigerte Transparenz. Der Informationsstand über die zu wählenden Kandidierenden wird deutlich besser sein, die Qualität der Stimmabgabe wird steigen, und die politischen Präferenzen der Wählenden werden exakter abgebildet werden.

Entscheidend wird aber sein, wer diese Auswahlhelfer-Seiten anbietet, welche Kandidierenden darauf Platz finden und welche Informationen angeboten werden. Der Einfluss des Staates wird hier, wie erwähnt, gering sein. Zwei idealtypische Szenarien sind denkbar: ein interessengebundenes mit einer Vorselektion und ein kommerzielles mit verschiedenen Anbietern ohne inhaltliche Präferenzen. Im ersten Fall würde beispielsweise Economiesuisse eine Wahlplattform anbieten, die nur wirtschaftsfreundliche Kandidaten aufstellt und sich auch an eine entsprechende Wählerschaft richtet. Auf der linken Seite des politischen Spektrums würde es ebenfalls eine Seite ("www.waehlemitlinks.ch") geben, die gemeinsam von den Gewerkschaften, der SP und dem Bewegungslager aufgestellt wird und die sich für einen starken Staat einsetzt. Und möglicherweise entsteht noch eine dritte Seite, die sich in der Mitte positioniert und das breiteste Angebot an Kandidierenden vorselektioniert hat.

Der Wahlkampf der Zukunft

Im zweiten Szenario findet keine inhaltliche Vorselektion mehr statt. Die Kandidierenden können sich ihren Platz auf den Auswahlhelfer-Seiten erkaufen. Sie werden nur aufgenommen, wenn sie alle geforderten Angaben zu ihrer Person machen. Die Attraktivität der Seiten ist abhängig von der Breite des Informationsangebots und von der Leistungsfähigkeit der Selektionsroutinen. Der Wahlkampf der Zukunft wird zwischen den verschiedenen Auswahlhelfer-Seiten stattfinden. Diese machen Werbung für ihre Wahlseiten und versuchen, möglichst viele Wählerinnen und Wähler zu einem Besuch und damit zur Stimmabgabe über ihre Seite zu animieren. Je mehr Stimmabgaben über eine Seite nachgewiesen oder in Aussicht gestellt werden können, desto direkter ist der Zugang zur politischen Macht und desto mehr Geld kann von den Kandidierenden verlangt werden. Möglich wäre beispielsweise auch, dass die Auswahlhelfer mit selektiven Anreizen (Verlosung von Preisen, Gewährung von Rabatten auf politischen Büchern usw.) die Zahl der Stimmabgaben zu erhöhen versuchen.

Unabhängig davon, welches Szenario sich durchsetzen wird, werden die Parteien grosse Schwierigkeiten haben, sich in diesem neuen System zu behaupten. Die Vorselektion der Kandidierenden für die verschiedenen Ämter ist eine der letzten klassischen Funktionen der Parteien, bei denen ihnen in den letzten Jahren nicht Konkurrenz durch andere Akteure erwachsen ist. Es ist nicht zu erwarten, dass die Parteien mit eigenen Wahlhelfer-Seiten erfolgreich sein werden, umso weniger, als die Attraktivität dieser Seiten ja gerade darin besteht, ein breiteres Angebot an Kandidierenden zu präsentieren. Die Parteizugehörigkeit wird dann nur noch eines von vielen Kandidatenmerkmalen sein. Mit 100 Unterschriften und etwas Geld ist man auch ohne sie dabei.

 

Das Projekt E-Voting

In einigen Jahren werden hier zu Lande Wahlurnen ganz verschwinden.

Zurzeit befasst sich eine Arbeitsgruppe des Bundes mit E-Voting. Ziel ist es, einen möglichen Einsatz des Internets für Abstimmungen und Wahlen abzuklären. Pilotkantone sind Genf, Neuenburg und Zürich. In Genf hat bereits am 10. Juni dieses Jahres eine Testgruppe die Möglichkeit der elektronischen Stimmabgabe wahrnehmen können, und auch in Zürich sind dieses Jahr Versuche geplant. Probleme, die es zu lösen gilt, sind die elektronische Unterschrift und damit die Verhinderung von Missbräuchen. Das Genfer System sieht zum Beispiel vor, dass der Stimmrechtsausweis mit einem verdeckten Code versehen ist, der entweder den Zugang zur virtuellen Urne oder zum Stimmlokal ermöglicht. Wird der Code für den Internetgebrauch freigerubbelt, so kann mit diesem Stimmrechtsausweis nicht mehr über die Urne abgestimmt werden. Ebenfalls abgeklärt werden die Anforderungen an die Stimmregister und deren Zentralisierung. Es ist davon auszugehen, dass in verhältnismässig kurzer Zeit sowohl die technischen wie auch die rechtlichen Anpassungen vorgenommen werden können und die Gefahr von Missbräuchen nicht grösser sein wird als bei herkömmlichen Verfahren.

Steigt Wahlbeteiligung?

Abgeklärt werden auch die Auswirkungen des E-Votings auf die Demokratie. So interessiert beispielsweise, ob damit - ganz ähnlich wie beim brieflichen Wählen - die Wahlbeteiligung gesteigert werden kann. Oder es wird gefragt, welche Folgen die wenig repräsentative Benutzerstruktur des Internets (Übervertretung junger Männer) auf das Wahlergebnis haben könnte. Es ist zu erwarten, dass der Beteiligungseffekt positiv sein wird.

Einig ist man sich, dass in einer Übergangsphase die herkömmlichen Verfahren der Stimmabgabe weiterhin angeboten werden müssen. Wenn allerdings die Hemmschwelle der elektronischen Stimmabgabe auf das Niveau der Hemmschwelle für den Griff zum Mobiltelefon abgesunken ist, dann werden Wahlurnen kaum mehr notwendig sein.

E-Government und E-Democracy

Unter den Begriff E-Government fallen sämtliche internen und externen staatlichen Beziehungen auf der Basis von Internet-gestützten Abläufen. In der Regel wird dabei zwischen E-Administration und E-Democracy unterschieden. E-Administration hat zum Ziel, das Funktionieren der öffentlichen Dienste in Bezug auf die internen Abläufe und in Bezug auf die Beziehungen zu den Bürgerinnen und Bürgern zu verbessern. Dazu gehören das Öffentlichmachen von Informationen und die Bereitstellung von Formularen (E-Procurement). Formulare können immer häufiger direkt und interaktiv am Computer ausgefüllt werden.

Unter den Begriff E-Democracy fallen die Beteiligung an Vernehmlassungen und am politischen Meinungsbildungsprozess sowie das Ausüben der politischen Rechte, das elektronische Wählen und Abstimmen (E-Voting). Während das elektronische Abstimmen ohne grosse Folgen eingeführt werden kann, sind die Auswirkungen des elektronischen Wählens gravierend. (lad)

www.admin.ch/e-gov/
www.politik-digital.de/



ZUR PERSON

Andreas Ladner

Der Autor dieser Hintergrundseite ist Politologe an den Universitäten Bern und Zürich. Er beschäftigt sich unter anderem mit Fragen der Demokratie und mit den politischen Parteien. Er lebt in Zürich.


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