© Tages-Anzeiger; 23.03.2007; Seite 5ges Inland GES Wer die Grundrechte ritzt, spürt seinen Stachel Bis Ende Jahr führte er das Bundesgericht. Jetzt ist Giusep Nay im Ruhestand. Seine Gegner - ob Asylrechts-Verschärfer oder Minarett-Verbieter - wird er deshalb nicht in Ruhe lassen. Von Hannes Nussbaumer, Pully Es sind keine rhetorischen Kunstfiguren, die der hagere, grosse Mann seinem Publikum in einem Saal der Uni Freiburg präsentiert. Seine Worte sind nüchtern, sein Tonfall ists ebenso. Er spricht von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), von ihrer Entstehung in den 50er-Jahren und davon, dass sie die Schweiz erst ratifizieren konnte, nachdem sie Anfang der 70er-Jahre das Frauenstimmrecht eingeführt sowie das Verbot des Jesuitenordens und das Verbot von Klostergründungen aus der Bundesverfassung gekippt hatte. Solange die beiden Verbote galten, besass die Schweiz nur eine eingeschränkte Religionsfreiheit. Mit der EMRK wäre dies nicht vereinbar gewesen. Sie verlangt eine uneingeschränkte Religionsfreiheit. Giusep Nay schaut ins Publikum, dann - nüchtern die Sprache, gleich nüchtern der Tonfall - fügt er an: «Dass bestimmte Kreise allen Ernstes mit einem Minarettverbot einen neuen religiösen Ausnahmeartikel in die Bundesverfassung schreiben möchten, stimmt vor diesem Hintergrund besonders nachdenklich.» Tags darauf sitzt Giusep Nay in seinem «pied-à-terre» in Pully bei Lausanne. Achtzehn Jahre war er als CVP-Vertreter Richter am Bundesgericht gewesen. Die beiden letzten Jahre, 2005 und 2006, präsidierte er das höchste Gericht. Ende Jahr trat er 64-jährig zurück. Inzwischen hat der Bündner seinen Hauptwohnsitz wieder in die alte Heimat verlegt - nach Valbella. An seiner Passion hat der Abschied vom Gericht nichts geändert. «Ich bin nach wie vor Jurist mit Leib und Seele», sagt Nay - wenn auch nach wie vor einer, den nicht die Rechtstheorie interessiere, sondern das ganz Konkrete. Das ganz Konkrete: Zu diesem hatte sich Nay in den vergangenen zwei Jahren wiederholt geäussert. Er widersprach Justizminister Christoph Blocher, weil dieser die Antirassismusstrafnorm in Frage gestellt hatte. Er empfand Blochers Kritik an der Asylrekurskommission als Verletzung der Gewaltentrennung und wies sie als «nicht akzeptabel» zurück. Zudem übte er im Vorfeld der Abstimmung über das Asyl- und das Ausländergesetz kaum verhohlene Kritik an den beiden Vorlagen. Der politisierte Richter So deutliche, öffentliche Worte des obersten Richters waren eine Premiere für die Schweiz. Was war geschehen? «Der Schweizer Rechtsstaat hat lange perfekt funktioniert, sodass sich das Bundesgericht zurückhalten konnte», sagt Nay. Dass das oberste Schweizer Gericht - anders als die obersten Gerichte im Ausland - nicht dazu befugt ist, Bundesgesetzen die Anwendung zu verweigern, wenn sie der Verfassung widersprechen, sei deshalb nicht ins Gewicht gefallen, so Nay: «Das Parlament war sensibel genug und hütete sich, verfassungswidrige Gesetze zu verabschieden. Es beachtete strikt die Grund- und Menschenrechte - so wie sie durch die Bundesverfassung und das Völkerrecht garantiert werden.» Das war einmal. Dann erklärte das Parlament die Verwahrungsinitiative für gültig, obschon zahlreiche Fachleute diese als nicht-EMRK-konform bezeichnet hatten. Das Asyl- und das Ausländergesetz erhielten ebenso die Zustimmung der Räte, obwohl auch in diesem Fall diverse Experten (unter ihnen Giusep Nay) namentlich die Bestimmungen zur Beugehaft als EMRK-kritisch taxierten. Weitere Vorlagen mit völkerrechtlich heiklem Inhalt sind in Vorbereitung: Dazu gehört die Initiative für ein Minarett-Bauverbot, die ein Komitee um SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer lancieren will. Dazu gehört auch die Einbürgerungsinitiative der SVP, die demnächst ins Parlament kommt. Sie will verhindern, dass negative Einbürgerungsentscheide gerichtlich angefochten werden können. Warum die plötzliche Bereitschaft mancher Politiker, die Grundrechte bei Bedarf zu ritzen? «Da müssen Sie diese Politiker fragen», gibt Nay zurück - diplomatisch, zurückhaltend, wie es sich für einen Richter ziemt. Er stelle einfach fest, dass in der Schweiz das rechtsstaatliche Bewusstsein nicht sehr tief verwurzelt sei. Zwar stehe in der Bundesverfassung, dass das Recht «Grundlage und Schranke staatlichen Handelns» sei. Die Realität präsentiere sich aber anders: «Der Schweizer neigt dazu, die direkte Demokratie zu überhöhen», findet Nay. «Ihm wird mit der Muttermilch vermittelt: Das Volk hat immer Recht» - auch dann, wenn die Volksmeinung im Widerspruch zu den Grund- und Menschenrechten stehe. Den Rechtsstaat schützen Giusep Nay ist ein freundlicher Mann. Er spricht leise, die Gestik ist sparsam, keine Polemik, kein kräftiges Wort. Und trotzdem wird sofort klar: Wenn Nay sagt, «Demokratie und Rechtsstaat müssen kompatibel sein» - dann hat dieser Satz den Rang eines weltlichen Glaubensbekenntnisses. Darin ist, komprimiert auf sechs Wörter, alles enthalten, was ihm als Richter und Staatsbürger wichtig ist. Deshalb mochte er als Gerichtspräsident nicht ruhig sitzen bleiben, wenn er den Rechtsstaat und insbesondere die Grundrechte in Gefahr sah: «Wenn die Politiker die Grundrechte nicht mehr ernst nehmen, dann darf die dritte Gewalt nicht schweigen - sonst fallen die Grundrechte zwischen Stuhl und Bank.» Deshalb will sich Nay auch als Alt-Bundesgerichtspräsident nicht zurückhalten - umso weniger, als er sich jetzt «ein bisschen freier» äussern könne. Er sehe sich als «Stachel im Fleisch jener Politiker, welche die Grund- und Menschenrechte als etwas Störendes empfinden», sagt er. So reist er durchs Land und hält Vorträge, diese Woche bei den Freiburger Studenten, am Montag in Zürich bei der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, deren Präsident er nächstes Jahr werden soll. Zudem hat er sich dem Club helvétique angeschlossen, einer losen Vereinigung angesehener Persönlichkeiten, die sich für die republikanischen Werte stark machen will - eben für den Rechtsstaat oder die Grundrechte. Nays Einmischungen in die Politik machen ihn zur Reizfigur bei seinen Gegnern: «Ich möchte ihm zurufen: ‹Herr Nay, geniessen Sie jetzt doch Ihren Ruhestand›», sagt SVP-Nationalrat Hans Fehr. Nay habe das Gefühl, die Gerichte seien sakrosankt und jede Kritik an ihrer Arbeit - etwa jene Blochers an der Asylrekurskommission - eine Verletzung der Gewaltentrennung. Unsinn, findet Fehr: «Kritik muss möglich sein.» Und apropos Grundrechte: «Man muss aufpassen, dass man nicht alles und jedes als Grundrecht bezeichnet.» Plädoyer für ein Verfassungsgericht Dabei besteht der «Stachel im Fleisch» der rechtsbürgerlichen Mannschaft nicht nur aus der Person Nay und seiner Autorität als einstiger Chefjurist der Nation. Als mindestens so stachlig dürften die Minarett-Verbieter, Asylgesetz-Verschärfer und Einbürgerungs-Demokraten die Ideen empfinden, die er vertritt. Zum Beispiel: «Ich plädiere dafür, dass das Bundesgericht keine Bundesgesetze anwenden muss, die der Verfassung widersprechen», so Nay. Dass dem Gericht diese Kompetenz heute fehlt, ist für Nay «eine immer empfindlicher zu Tage tretende rechtsstaatliche Lücke, die in Europa einmalig ist und den Vorzeigestatus des Schweizer Rechtsstaats empfindlich trübt». Nay weiss: Die Chance, den Einfluss des Bundesgerichts dergestalt auszubauen, ist minim - zumal der Ausbau der richterlichen Macht zu Lasten der direkten Demokratie ginge. Das Ja des Volkes zu einem Gesetz wäre nicht mehr zwingend das letzte Wort. SVP-Nationalrat Fehr hält denn auch gar nichts von Nays Idee: «Wir brauchen kein Verfassungsgericht. Wenn das Volk einen Entscheid fällt, dann gilt dieser.» Doch Nay weiss auch: Obschon das Lausanner Gericht gegenüber Bundesgesetzen nicht als Verfassungsgericht auftreten darf, bleibt es im Umgang mit völkerrechtswidrigen Gesetzesbestimmungen doch nicht ganz ohne Macht. In der Verfassung stehe nämlich, für das Bundesgericht seien «Bundesgesetze und Völkerrecht massgebend», so Nay. Weil das Völkerrecht gegenüber der Bundesgesetzgebung Vorrang habe, folge aus dieser Bestimmung, dass das Bundesgericht völkerrechtswidrige Gesetze nicht anwenden dürfe. «Sonst wären völkerrechtliche Verträge ja blosse Papiertiger.» Giusep Nay hält es vor diesem Hintergrund für «durchaus möglich», dass das oberste Gericht die EMRK-kritischen Teile der vom Volk jüngst deutlich gutgeheissenen Ausländervorlagen nicht tel quel anwenden werde. Noch eine Massnahme zum besseren Grundrechtsschutz steht auf Giusep Nays Wunschzettel: dass das Parlament den Begriff des «zwingenden Völkerrechts» weiter fasst. Verletzt eine Volksinitiative «zwingendes Völkerrecht», muss sie vom Parlament für ungültig erklärt werden. So steht es in der Bundesverfassung. Bloss: Was ist «zwingendes Völkerrecht»? Nach heutiger Praxis gehören das Folterverbot, das Verbot der Todesstrafe oder das Sklavereiverbot dazu - also die ganz elementaren Menschenrechte. Daraus folgt: «Eine Initiative, die ein generelles Bauverbot für Minarette in die Verfassung schreiben möchte und damit die Religionsfreiheit verletzt, verstösst zwar gegen ein Grundrecht, nicht aber gegen das ‹zwingende Völkerrecht›», so Nay. Eine unbefriedigende Situation, findet er: «Die Religionsfreiheit ist heute ein äusserst wichtiger Konsens in Europa und müsste dementsprechend als ‹zwingendes Völkerrecht› bewertet werden.» Mit der Wirkung, so Nay, dass die Minarett-Initiative vom Parlament für ungültig erklärt werden könnte. Mit seinem Unbehagen gegenüber der engen Definition des «zwingenden Völkerrechts» steht Nay nicht allein: Im Rahmen der Behandlung der EMRK-kritischen SVP-Einbürgerungsinitiative führen die Rechts- und die Staatspolitische Kommission des Nationalrats demnächst ein Hearing durch - zur Frage, ob die Voraussetzungen für eine Ungültigkeitserklärung weniger eng gefasst werden sollten. «In den Kommissionen sind die Meinungen geteilt - deshalb das Hearing», sagt der Solothurner FDP-Nationalrat Kurt Fluri. Fluri gehört zu jenen Parlamentariern, die ein offenes Ohr für Nay haben: «Der Umgang mit den Grundrechten besorgt ihn sehr. Ich finde: Seine Sorgen sind berechtigt. Es besteht in der Schweiz tatsächlich die Gefahr, dass die Demokratie verabsolutiert wird.» Vertreter der Romanen-Minderheit Nay sei als Bundesrichter stets «für Minderheiten und Grundrechte» eingetreten, wobei er seinen Standpunkt mit «einer bisweilen an Bündner Granit gemahnenden Hartnäckigkeit» vertreten habe, schrieb die NZZ zu seinem Rücktritt. Warum dieses Engagement? Motiviert ihn die eigene Minderheiten-Erfahrung - als Rätoromane am obersten Gericht? Vielleicht auch, aber nicht nur, findet Nay. «Wir haben uns in unserer Familie immer für die Schwachen eingesetzt», sagt er. Sein Grossvater, ein Arzt, Politiker und Schriftsteller, habe den Satz geprägt: «Nur wer für Recht und Wahrheit einsteht, verdient Sieg und Lorbeer.» Das Zitat steht - auf rätoromanisch - an einem Haus in Nays Heimatgemeinde Trun. Dann sagt Nay - ganz nüchtern, ganz beiläufig - noch so einen Satz, der sein Weltbild auf ein paar Wörter reduziert: «Das Recht ist da für die Schwachen, nicht für die Mächtigen.» «Das Recht ist da für die Schwachen, nicht für die Mächtigen.» GIUSEP NAY BILD GEORG ANDERHUB Anwalt für die Grundrechte: Alt-Bundesgerichtspräsident Giusep Nay. Mit dieser Suchmaschine haben Sie Zugriff auf alle in der Schweizerischen Mediendatenbank SMD archivierten Artikel der gedruckten Ausgabe des «Tages-Anzeigers», des «ZüriTipps» und des «Magazins». Fragen und Anregungen zur Suchmaschine: webmistress@tages-anzeiger.ch