Der Tages-Anzeiger am 20.04.2001 |
Der Tages-Anzeiger am
20.04.2001
Weg vom Klassenkampf, hin zu einer pragmatischen linken Politik für den
Mittelstand. In der SP verschieben sich die Kräfte Richtung Mitte.
Von Peter Haerle
Was hat man der SP nicht alles vorgeworfen: Sie sei führungslos, ohne Ideen,
verschlafen, konservativ und weltfremd. Diese Zeiten scheinen vorbei.
Pragmatismus und Erfolgsorientierung sind keine Unwörter mehr. Die Partei verändert
sich.
Drei Beispiele: An der Session in Lugano hat es die SP geschafft, 100
Millionen Franken für Kinderkrippen bereitzustellen. Möglich wurde dieser
Erfolg durch einen Pakt mit Teilen der FDP und CVP. Zweitens hat die
Delegiertenversammlung zur Revision des Militärgesetzes überraschend deutlich
Ja gesagt und damit der pazifistischen und antimilitaristischen Parteilinken,
angeführt vom jungen Lausanner Nationalrat Pierre-Yves Maillard, eine
Niederlage bereitet. Drittens wurde an der Präsentation des SP-Steuerpapieres
vom Mittwoch ein Begriff verwendet, der in der Partei bisher tabu war:
Steuersenkung. Parteipräsidentin Christiane Brunner sowie die Nationalrätinnen
Jacqueline Fehr und Hildegard Fässler forderten Steuersenkungen für Familien
der Mittel- und Unterschicht (TA von gestern).
Die Neuorientierung der SP zeigt sich aber nicht nur thematisch. Auch
personell verschieben sich die Kräfte in der Parteiführung und in der
Fraktion. Wer früher als Aussenseiter gegolten hatte, rückt plötzlich ins
Zentrum und umgekehrt.
Zum Beispiel Simonetta Sommaruga. Vor fünfzehn Monaten noch wurde sie am
Parteitag in Lugano von der damals tonangebenden Linken als
"Neoliberale" ausgegrenzt und sogar ausgepfiffen, weil sie gegenüber
Liberalisierungsschritten im Strom- und Telekommunikationsmarkt Offenheit
markiert hatte. Heute aber verspürt sie "Frühlingsgefühle" und ist
"sehr zuversichtlich", dass sich die SP nicht mehr nur auf eine
Politik des Neinsagens beschränke. Mitte Mai wird sie ein Papier präsentieren,
das die Positionen der Partei zum Thema Konsumentenschutz und
Landwirtschaftspolitik markiert. Damit werden ihre Konzepte zur offiziellen
SP-Politik.
Noch deutlicher zeigen sich die Verschiebungen anhand der schleichenden
Entmachtung von Fraktionschef Franco Cavalli. Der Tessiner prägte die Linie der
Partei in ihrer führungslosen Zeit nach der Ära Koch stark. Mit dem Aufruf zum
Rausschmiss der SVP aus dem Bundesrat, der Forderung zum Nichtempfang des österreichischen
Kanzlers und dem Auftreten in der von Blocher angezettelten Sozialismusdebatte
vermittelte er das Bild einer Partei, die sich in klassenkämpferischer Manier
auf ihre ideologischen Wurzeln besinnt. In allen Fragen hat Cavalli aber nicht
viel erreicht. Vor allem bei den Bundesratswahlen konnte ein Gesichtsverlust der
SP nur noch in letzter Minute verhindert werden.
Es ist auffällig, dass der Fraktionschef seit dem Jahresbeginn deutlich
seltener in Erscheinung tritt. Verschiedene Quellen bestätigen, dass die neue
Parteiführung unter Christiane Brunner und Generalsekretär Reto Gamma alles
Interesse hat, den Tessiner aus dem Rampenlicht zu nehmen.
Zudem ist zu hören, dass grosse Teile der Fraktion sich mit dem Führungsstil
Cavallis nicht mehr anfreunden konnten. So ist es in der dritten Sessionswoche
im Tessin zu einer Eskalation und späteren Aussprache gekommen. Cavalli schaue
zu stark für sich und kümmere sich zu wenig um die Fraktion, lautet der
Vorwurf. Zu einem Aufstand gegen Cavalli wird es jedoch nicht kommen. Zu viele
in der Fraktion kommen mit dem humorvollen und umgänglichen Politiker zu gut
aus, auch wenn sie politisch auf einer anderen Linie liegen.
Cavalli selber räumt zwar ein, dass seine "persönliche Stellung"
momentan "geschwächt" sei. Das habe damit zu tun, dass jene Leute,
die seine Wahl zum Fraktionschef noch immer nicht akzeptiert hätten, die Vorfälle
bei der Bundesratswahl nun alleine ihm in die Schuhe schöben. Dabei habe es
sich um einen Kollektiventscheid der Fraktion gehandelt. Generell aber ist
Cavalli mit der gegenwärtigen Politik der SP zufrieden, schliesslich sei er es
gewesen, der alle drei Grossprojekte der SP - die Gesundheits-, Bildungs- und
die Familienpolitik - initiiert habe. Cavalli wehrt sich einzig dagegen, dass
die SP zu konziliant politisiere und zu schnell Bündnisse mit den Bürgerlichen
eingehe.
Die Verschiebung der Gewichte innerhalb der SP ist hauptsächlich aus drei Gründen
möglich geworden: Erstens hat die Partei unter der Interimsleitung von Franco
Cavalli keine Erfolge verbuchen können. Immer mehr Fraktionsmitglieder wurden
dadurch immer unzufriedener. Zweitens zeigt sich immer klarer, dass die neue
Parteipräsidentin Christiane Brunner im Grunde genommen eine pragmatische,
erfolgsorientierte Politik betreiben will. Schon am Parteitag in Lugano deutete
sie an, dass sie nicht viel "von einer sterilen Diskussion um mehr Staat
oder weniger Markt" halte und die SP keine wirtschaftsfeindliche Partei
sei. Doch im allgemeinen Versöhnungstrubel nach den Koch-Wirren gingen diese
vielsagenden Worte schlicht unter.
Drittens wird immer klarer, dass die treibende Kraft in der SP eigentlich der
neue Generalsekretär Reto Gamma ist. Und Gamma hat gemerkt, dass die Partei
dringend Erfolge braucht, statt in ideologischer Reinheit zu sterben.
Die Durchsetzungskraft des neuen Generalsekretärs hat sich erst vor wenigen
Tagen erneut gezeigt, als die Pressesprecherin der SP, Ursula Dubois, ihre
Stelle gekündigt hat. Schon vor langer Zeit hat Gamma durchblicken lassen, mit
der Arbeit der Pressesprecherin nicht zufrieden zu sein. Nun hat er sich
durchgesetzt und Dubois zu einer Kündigung bewegen können.
Natürlich ist der Streit, wohin sich die SP bewegen soll, noch nicht
ausgestanden. Und schon bald wird mit Sicherheit bei der Diskussion um das neue
Elektrizitätsmarktgesetz eine heftige Grundsatzdebatte um den guten oder bösen
Staat ausbrechen, die den tiefen Bruch innerhalb der SP aufzeigt. Doch es
scheint, dass die Parteileitung die Weichen in Richtung Öffnung zur Mitte
gestellt hat, oder wie es Simonetta Sommaruga formuliert: "Für eine
zielorientierte, hartnäckige Politik ohne ideologischen Ballast."Der Aufstieg von Sommaruga
Der Abstieg von Cavalli
Der Aufbruch von Gamma