Tages-Anzeiger vom 14.6.2003

Der Tages-Anzeiger am Samstag, 14.6.2003 (ladner ist eingeloggt)

Die soziale Frage

Von Andreas Ladner*

Bundesrat Pascal Couchepin wird zum Agenda Setter für den Wahlkampf 2003. Mit seinen bombenwurfmässig auf der St.-Peters-Insel vorgeschlagenen Projekten zur Sicherung der Altersvorsorge hat die Sozialpolitik nun auch in der Schweiz die gebührende Aufmerksamkeit erhalten. Die in Aussicht gestellte Erhöhung des Rentenalters erhitzt die Diskussionen, und die mit der demografischen Entwicklung verbundenen Herausforderungen werden in breiten Kreisen zur Kenntnis genommen. Die schlechte Konjunkturlage scheint nicht das einzige Problem der Sozialwerke zu sein. Auch ein wirtschaftlicher Aufschwung wird - so lautet der Tenor - kaum ausreichen, die Sozialwerke in ihrer Gesamtheit nachhaltig zu sichern. Die Sozialpolitik wird nun doch noch zum Wahlkampfthema für die Nationalratwahlen im Herbst, und die Parteien sind gefordert, Farbe zu bekennen.

Die grosse Frage ist natürlich, wer von diesen neuen Prioritäten profitieren wird. Welchen Parteien kommt sie entgegen? Der erste Gedanke gilt sicher der SP. Die Sozialpolitik gehört zu ihren Kernkompetenzen. Sie wird sich gegen Leistungskürzungen und Einschränkungen der Bezugsberechtigungen zur Wehr setzen. Das hört sich in wirtschaftlich schlechten Zeiten besonders gut an. Ihr Problem wird jedoch sein, eine Mehrheit davon zu überzeugen, dass mehr Gelder für die Sozialwerke eingefordert werden müssen. Auch die CVP sollte sich eigentlich freuen. Hinter der SP gilt sie als Nummer zwei in sozialen Fragen. Ihr Handicap ist, dass sie mit Familienpolitik, KMU und Asylpolitik die Themen für den Wahlkampf bereits anders gesetzt hat und ihre Vorstellungen vom Sozialstaat der Zukunft (weg vom Giesskannenprinzip, mehr Eigenverantwortung, mehr Effizienz und Effektivität und Wirtschaftsverträglichkeit) sehr allgemein tönen. Und wenn es konkret wird, werden sich die parteiinternen Unterschiede bemerkbar machen.

Die FDP setzt auf Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen und wirft den anderen Parteien vor, das Gespräch zu verweigern. Damit es morgen nicht noch schlimmer kommt, müssen wir bereits heute zurückstecken und einen Leistungsabbau in Kauf nehmen, heisst ihre Losung. Mit der Unterstützung der Projekte ihres Parteimitglieds Couchepin steht sie ziemlich alleine in der politischen Landschaft. Das muss für den Wahlkampf nicht unbedingt schlecht sein. Die SVP schliesslich steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite tritt sie für eine massive Beschränkung der Staatsausgaben ein, auf der anderen Seite erhält sie einen grossen Teil ihrer Stimmen von Leuten, die von staatlichen Geldern und von den Sozialwerken profitieren. Als Rettungsanker hat sie nun einen Sündenbock gefunden, die so genannten «Scheininvaliden». Missbrauchsbekämpfung tönt immer attraktiv.

Sicher ist nur: Mit Grundsatzbekenntnissen wie «Abkehr vom Giesskannenprinzip» oder «Finger weg von den Sozialwerken» lassen sich die bestehenden Probleme nicht lösen. Entscheidend für die Bürgerinnen und Bürger - also auch für die Politik - ist, wie hoch die Renten nach der Pensionierung noch sein werden, wer genau wie lange arbeiten muss oder darf, und wer mehr oder weniger erhält und bezahlt. Je konkreter die Vorschläge, desto besser. Dass in all diesen Fragen noch beachtliche Unsicherheiten bestehen, ist leicht einzusehen. Wie das Rentensystem der Zukunft aussehen wird, kann heute nicht gesagt werden. Der Bedarf und die Bereitschaft der Leute, länger zu arbeiten, hängt nicht zuletzt auch von der Arbeit ab, die es in 10 oder 20 Jahren zu verrichten gilt. Der Arbeitsmarkt und damit auch die Arbeitswelt werden sich noch stark verändern. Wichtig für die Wählerinnen und Wähler ist deshalb, dass die Entscheidungsgrundlagen und die Zielvorstellungen offen gelegt werden. Zum Beispiel: Ist eine längere Lebensarbeitszeit für alle anzustreben - oder nur für diejenigen, die es wollen?

Vorteile des schweizerischen Konkordanzsystems und der direkten Demokratie sind, dass die Parteien bei den Wahlen davon entlastet sind, mehrheitsfähige Lösungen zu präsentieren. Sie müssen lediglich zwischen 15 und 25 Prozent der Stimmenden von ihren sozialpolitischen Vorschlägen überzeugen können. Entsprechend sind im Wahlkampf klare Positionsbezüge zu erwarten, die sich in erster Linie an die Stammwählerschaft und an potenzielle Neuwähler richten. Der Nachteil ist allerdings, dass wir uns in den kommenden Monaten nicht mit Lösungen und mehrheitsfähigen Vorschlägen befassen werden. Zur Wahl steht nicht eine sozialpolitische Neuorientierung. Im besten Fall lässt sich das Gewicht einer bestimmten sozialpolitischen Stossrichtung stärken.

Sollte sich die Sozialpolitik in naher Zukunft neu orientieren, wird die neue Richtung in jedem Fall das Produkt eines Kompromisses zwischen den Parteien und den verschiedenen Interessenverbänden sein - eines überdies, das letztlich auch beim Volk eine Mehrheit finden muss. Dieses kann schon bei den Wahlen mitbestimmen, indem es jene Parteivertreterinnen und -vertreter wählt, die über die notwendige Sachkompetenz verfügen. Nur wer die Probleme erkennt und versteht, kann letztlich zu Lösungen beitragen, die über die Wahrnehmung der Interessen bestimmter Bevölkerungssegmente hinaus einen volkswirtschaftlich sinnvollen politischen Mehrwert schaffen.

* Andreas Ladner ist Politologe am neu geschaffenen Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern.


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