Neue Zürcher Zeitung vom 7.3.2003

© Neue Zürcher Zeitung; 2003-03-07; Seite 13; Nummer 055

Inland (INLAND)

Sachpolitische Nähe bei den Lokalparteien / Kluft zwischen Landes- und Ortsparteien?

Zur Debatte über die Distanz zwischen FDP und SVP

Von Andreas Ladner, Hans Geser, Urs Meuli und Roland Schaller*

Im Vorfeld der Nationalratswahlen 2003 ist eine Debatte über die Entfremdung von FDP und SVP entflammt. Der Vergleich von Parolenfassungen der Parteien in den letzten Jahren führte zu divergierenden Interpretationen (NZZ 11. 2. 03 sowie 20. 2. 03). Die Autoren dieses Beitrags prüfen die Frage der sachpolitischen Nähe auf der Ebene der Ortsparteien und kommen zum Schluss, dass die ideologischen Gemeinsamkeiten von FDP und SVP aus Perspektive der lokalen Parteianhängerschaft klar überwiegen.

Für die Positionierung der Parteien im politischen Raum und die Bestimmung von inhaltlicher Nähe oder Distanz stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung. In der jüngsten Debatte zum Verhältnis zwischen FDP und SVP wurde versucht, politische Nähe beziehungsweise Distanz zwischen den beiden Parteien anhand von Abstimmungsparolen nachzuweisen. Diese vor allem auf die Bundespolitik und die Parteiführungsorgane fokussierenden Analysen bedürfen einer Ergänzung durch Untersuchungen, die auf die in den örtlichen Sektionen organisierte Mitgliederbasis abstellen. Dies geschieht hier auf der Grundlage von zwei gesamtschweizerischen Lokalparteienbefragungen, die 1989 und 2002 in nahezu identischer Form durchgeführt wurden, und an denen sich jeweils mehrere hundert Vorsteher kommunaler FDP- und SVP-Parteien beteiligt haben.

Selbsteinstufung auf Links-Rechts-Skala

Zu beiden Zeitpunkten wurden die Präsidentinnen und Präsidenten aller rund 5000 kommunalen Parteisektionen in einem schriftlichen Fragebogen gebeten, ihre Orts-, Kantons- und Bundespartei auf einer Links-Rechts-Skala (zwischen 1 und 10) einzustufen sowie über die Einstellung der Mehrheit ihrer aktiven Anhängerschaften zu verschiedenen politischen Sachfragen Auskunft zu geben. Die Einschätzung der Verantwortlichen hinsichtlich der Position ihrer Lokal- und ihrer Bundespartei an beiden Erhebungszeitpunkten (vgl. untere Tabelle) zeigt, dass auf Bundesebene sowohl die bürgerlichen Parteien FDP und CVP wie auch die SP und die Grünen markante Linksverschiebungen vollzogen haben, während sich die SVP konträr dazu dem rechten Pol angenähert hat. Dieselbe Entwicklung zeigt sich auch auf der Ebene der Lokalparteien, wobei die Verschiebungen hier weniger ausgeprägt sind. Der Grad der ideologischen Polarisierung (gemessen am Skalenabstand der extremsten Parteien) in der schweizerischen Bundespolitik ist heute beträchtlich höher, als er für die meisten anderen westlichen Länder angenommen wird.

Die Selbsteinschätzung der Ortsparteipräsidenten bestätigt zwar auf den ersten Blick die These eines Auseinanderdriftens von FDP und SVP. Allerdings ist die Distanz zwischen SP und FDP auf Bundesebene nach wie vor wesentlich grösser als zwischen FDP und SVP (und nicht «bald einmal gleich gross», wie Claude Longchamp festgestellt hat), dies jedenfalls gemäss Selbsteinschätzung der Lokalparteien. Die FDP wird von ihnen klar rechts von der Mitte angesiedelt. Die nach wie vor ungebrochene Bedeutung des Links-Rechts-Denkens zeigt sich darin, dass in beiden Umfragen mehr als 98 Prozent der Befragten ohne weiteres in der Lage waren, ihre Partei auf dieser Skala zu lokalisieren.

Einstellungen zu sachpolitischen Fragen

Nähe und Distanz zwischen politischen Parteien lassen sich aber aussagekräftiger erfassen, wenn man die Einstellungen zu konkreten sachpolitischen Fragen einbezieht. Vergleicht man die Meinungen der Ortssektionen von FDP und SVP (vgl. obere Tabelle), so liegen sie in den meisten Fällen nur wenige Prozentpunkte auseinander. Mehr als 10 Prozentpunkte Differenz zeigen sich bei Themen wie der Gleichstellung von Mann und Frau oder bei der Mutterschaftsversicherung, wobei sich für Letztgenannte weder bei der Basis der SVP noch bei der Basis der FDP eine Mehrheit finden lässt. In der Frage der Verschärfung der Asylgesetzgebung und beim EU-Beitritt zeigen sich ebenfalls klare Unterschiede, doch finden sich auch hier FDP- und SVP-Mehrheiten im gleichen politischen Lager. In der Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik wie auch in der Sozialpolitik unterscheiden sich die FDP und die SVP allenfalls hinsichtlich ihrer Radikalität, nicht aber in der grundsätzlichen sachpolitischen Ausrichtung. Bei der Besteuerung hoher Einkommen ist die SVP allerdings eher zurückhaltender als die FDP. Auch in der Asyl- und der Aussenpolitik liegt die FDP-Basis mehrheitlich näher bei der SVP als bei der SP-Basis. Etwas stärker profiliert sich die SVP gegenüber den FDP-Parteien der Westschweizer Kantone, die fast durchwegs linkere Positionen als im deutschen Sprachraum vertreten.

Courant normal auf lokaler Ebene

Ungeachtet ihrer oft prononcierten Konflikte in der Bundes- und Kantonspolitik erscheinen FDP und SVP zumindest im deutschsprachigen Raum in ihren politischen Positionierungen nach wie vor als durchaus ähnlich, wenn man die Einstellungen der lokalen Anhängerschaften betrachtet. Dieser Widerspruch mag daraus entstehen, dass auf Bundesebene oft Entscheidungsfragen mit aussenpolitischer Implikation (wie etwa Uno-Beitritt oder Asylpolitik) sowie wertorientierte Themen (wie Fristenlösung oder Solidaritätsstiftung) anstehen, zu denen die SVP ausgeprägt abweichende Meinungen vertritt, während im lokalen Raum der Courant normal konventioneller Interessen- und Verteilungsfragen (Steuer-, Finanz-, Sozial- und Umweltpolitik) vorherrscht, wo altbewährte bürgerliche Gemeinsamkeiten eher tragen. Die Verstimmung zwischen FDP und SVP dürfte vor allem daher rühren, dass sie sich um dieselben Wählersegmente streiten und dass die SVP bei ihren Attacken auf die «Classe politique» durch ihren Stil Ärgernis erregt und sich dem Vorwurf aussetzt, eine unmoralische Gesinnung zu vertreten und gegen die Grundnormen der politischen Konkordanzkultur zu verstossen.

* Die Autoren untersuchen in einer vom Nationalfonds geförderten Studie, die am Soziologischen Institut der Universität Zürich durchgeführt wird, den Wandel der Parteien auf der Ebene der Lokalsektionen, vgl. www.socio.ch/par/index.html.

Durchschnittliche Parteien-Einstufung auf einer Links-Rechts-Skala

  Bundespartei Lokalparteien
  1989 2002 1989 2002
FDP 7,5 6,8 6,9 6,8
CVP 6,4 5,9 6,3 6,0
SVP 7,2 7,9 7 7,2
SP 3,2 2,9 3,3 3,1

Skala von 1 (links) bis 10 (rechts). Einstufung gemäss Einschätzung der Präsidenten der Ortsparteien.

 

Mehrheitsmeinungen innerhalb der Lokalparteien der FDP und der SVP zu sachpolitischen Fragen 2002

Mehrheit der Lokalparteien zustimmend (Prozentanteil) SVP FDP CVP SP
Förderung des Finanzplatzes 81,0 89,9 73,5 9,5
Erhöhung des Arbeitnehmereinflusses 15,2 12,2 28,0 93,3
Verringerung der Steuerbelastung 88,0 86,8 75,3 23,1
Ausbau des Mieterschutzes 10,1 8,9 26,6 87,0
Umweltschutz nicht auf Kosten der Wirtschaft 56,4 56,8 51,0 24,9
Dafür sorgen, dass der Staat nicht mehr reglementiert 89,8 88,4 72,8 12,7
Abschaffung des Bankgeheimnisses 3,1 3,7 5,9 61,2
Verstärkte Besteuerung hoher Einkommen 20,8 8,9 29,4 91,7
Möglichst weitreichende Liberalisierung staatl. Aufgaben 32,8 49,7 14,5 3,4
Gleichstellung von Mann und Frau 51,0 73,5 78,4 94,7
Verringerung der Sozialausgaben 74,5 69,4 38,9 9,3
Kontrollierte Abgabe von Heroin 9,2 19,0 21,9 62,0
Einführung der Mutterschaftsversicherung 5,6 23,1 58,7 96,3
Umweltverträglichkeit wichtiger Entscheidungen 33,6 38,8 52,0 84,5
Kernenergieausstieg 3,2 7,0 12,9 72,3
Bau einer zweiten Gotthardröhre 57,5 51,0 31,0 6,0
Beitritt der Schweiz zur EU 1,4 20,9 22,9 74,7
Für eine Schweiz ohne Armee 2,7 2,8 3,6 34,4
Verschärfung der Asylgesetzgebung 95,2 68,1 57,4 9,4
Mehr Anstrengungen für die innere Sicherheit 94,0 87,1 87,7 36,8
Mehr politische Rechte für Ausländer 0,5 3,7 7,4 65,65

Prozentanteile der Lokalparteien, in denen sich gemäss Einschätzung des Präsidenten eine Mehrheit der aktiven Parteimitglieder für die entsprechende politische Forderung finden lässt.

Kluft zwischen Landes- und Ortsparteien?

se. In ihrer Interpretation der Parolenfassungen von FDP und SVP zu eidgenössischen Abstimmungen in den letzten fünf Jahren konstatierten Michael Dreher und Andreas Textor eine grössere sachpolitische Nähe von FDP und SVP, als dies der zunehmend bissig geführte Wahlkampf suggeriert (NZZ 11. 2. 03). Bei insgesamt 57 Abstimmungen wich die FDP-Parole 15-mal von derjenigen der SVP, hingegen 32-mal von der SP-Empfehlung ab. In einer Replik bezeichnete der Politologe Claude Longchamp diese These der grossen Nähe als «waghalsig» und «interessengeleitet» (NZZ 20. 2. 03). Longchamp zeigte anhand der gleichen Daten, dass die Distanz zwischen FDP und SVP bald einmal ähnlich gross sei wie diejenige zwischen FDP und SP. Aus den Parolenfassungen sei in erster Linie eine Nähe von FDP und CVP abzulesen, indem sich die beiden Parteien regierungskonformer verhielten als SVP und SP. In der selben NZZ-Ausgabe wiesen auch Simon Hug und Tobias Schulz von der Universität St. Gallen auf eine wachsende ideologische Distanz zwischen FDP und SVP seit Beginn der achtziger Jahre hin, während der Abstand zwischen FDP, CVP und SP nahezu stabil geblieben sei. Die Autoren untermauerten ihr Argument mit einer Untersuchung der Parolenfassungen der Kantonalparteien zu eidgenössischen Vorlagen.

Der obenstehende Artikel zieht nun auch die Ebene der Ortsparteien in die Debatte mit ein. Die Analyse gründet methodisch auf einer Selbsteinschätzung der lokalen Parteipräsidenten und kommt zum Ergebnis, dass - zumindest in der deutschsprachigen Schweiz - die mittlere sachpolitische Distanz von FDP und SVP auf Ebene der Ortsparteien als eher gering eingeschätzt wird. Auf Grund der unterschiedlichen politischen Aufgaben auf den verschiedenen Staatsebenen variierten auch die sachpolitischen Distanzen der Parteien auf Landes- und Lokalebene. Und so steht denn die Frage im Raum, inwieweit sich durch veränderte politische Herausforderungen auf Bundesebene gerade bei der FDP und der CVP in den letzten Jahren auch eine ideologische Schere zwischen der Landes- und den Lokalparteien geöffnet haben könnte.


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