NZZ vom 24.1.2004d

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24. Januar 2004,  08:01, Neue Zürcher Zeitung

Das Tabu der CVP

(von Martin Senti)

Die Wähler entscheiden sich derzeit häufiger für Schwarz oder Weiss, Grautöne sind nicht in Mode. Die Parteien in der «Mitte» befinden sich in einer Sinnkrise und fühlen sich gedrängt, Farbe zu bekennen. Zum Beispiel die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP): Sie war zwar nicht die grosse Verliererin der eidgenössischen Wahlen 2003, aber sie verlor zum sechsten Mal in Folge. Das kostete die seit 1999 kleinste der vier Regierungsparteien einen Bundesratssitz, den sie 84 Jahre gehalten hatte. Nach dem Schock sucht die CVP jetzt den Ausweg in der «Erneuerung 2007». Die Partei müsse sich zwar «nicht selber neu erfinden» (Doris Leuthard), aber doch «ohne Tabus in Frage stellen» (Joseph Deiss). Hierfür hat eine nicht näher genannt sein wollende Arbeitsgruppe um den Schwyzer Ständerat Bruno Frick neue Schwerpunkte für die Fraktion formuliert. Das Zehnpunkteprogramm setzt bürgerliche, wertkonservative Akzente, enthält aber an sich nichts Revolutionäres: Man will nicht nach links und nicht nach rechts, heisst es, nur «die Mitte enger fassen».

Vor mehr als dreissig Jahren hat die CVP den Neustart als überkonfessionelle Volkspartei versucht. Und bis heute hat sie sich standhaft geweigert, das Scheitern dieses Experiments einzugestehen. Zwar hat man sich 1971 offiziell vom politischen Katholizismus verabschiedet, doch die Konfession ist bis heute die zentrale Klammer geblieben, welche die Partei zusammenhält. Man hat sich damals programmatisch geöffnet, vergab aber die Chance, sich gleichzeitig auch organisatorisch um eine Erweiterung der Klientel zu bemühen, etwa durch ein Zusammengehen mit der BGB (heute SVP) oder den Demokraten. Man schielte vielmehr auf die erfolgreiche C-Partei im benachbarten Deutschland und hoffte, die Säkularisierung werde es schon richten. Ein neuer Name und ein neues Programm reichten indes nicht aus; in protestantischen und gemischt-konfessionellen Gebieten blieb die CVP meist ein Auffangbecken für versprengte Katholiken der ersten Zuzüger-Generation.

Aber auch in den Stammlanden begannen die CVP-Monokulturen zu bröckeln. Hierfür waren die zunehmende Mobilität und die wachsende Verbreitung der Massenmedien mitverantwortlich. Solches hat den Blick über den engen Raum hinaus geweitet, was der Demokratie an sich nicht abträglich ist. Doch die gesellschaftliche Mobilität macht der CVP weit mehr zu schaffen als allen anderen Parteien. Jüngere Wahlanalysen weisen aus, dass die CVP fast nur von Personen gewählt wird, die bereits aus christlichdemokratischem Haus stammen; 1999 waren es 85 Prozent. Der entsprechende Anteil Wähler mit «vererbter» Parteipräferenz liegt bei der FDP, der SVP und der SP bloss zwischen 40 und 50 Prozent. Gleichzeitig vermag die CVP aber die Nachkommen ihrer Anhänger nicht zahlreicher an sich zu binden, als das der Konkurrenz gelingt. Unter dem Strich ist deshalb das Wechselwähler- Potenzial der CVP von vornherein begrenzt.

Der Rutsch in die «dynamische Mitte» bedeutete nicht nur eine Abkehr vom Katholizismus, sondern auch vom Konservatismus. Das hat den Erosionsprozess in den Stammlanden zusätzlich beschleunigt. Die CVP stand nicht bereit, als in grossen Teilen der Bevölkerung die Verunsicherung über die Folgen von Globalisierung und europäischer Integration wuchs. Dieses Thema besetzte in den neunziger Jahren die SVP quasi monopolistisch im national-autonomen Sinn, sie profitierte denn auch als Einzige vom Aufkommen dieser konservativen Gegenbewegung. Bereits in ihrem Aktionsprogramm von 1971 hatte die CVP eine offene Aussenpolitik formuliert, und 1992 sagte sie mit 270 gegen 29 Stimmen sehr klar Ja zum EWR. Zwar wurde der Vertrag gerade in den CVP- Stammlanden besonders deutlich verworfen, doch die Landespartei doppelte nach kurzem Innehalten im April 1998 mit einem Ja zum EU-Beitritt als strategischem Ziel nach und fasste im Januar 2001 auch die Ja-Parole zu sofortigen EU-Beitritts-Verhandlungen. Die Quittung folgte prompt: Eine Mehrheit der Kantonalparteien distanzierte sich verärgert vom Kurs der CVP Schweiz.

Solche innerparteilichen Zwistigkeiten sind bei der CVP die Regel, sei es bei Kernfragen wie der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs, bei sozialpolitischen Vorlagen wie der letzten Mutterschaftsversicherung, der Revision der Arbeitslosenversicherung oder beim Kündigungsschutz im Arbeitsrecht. Gleiches gilt für gesellschaftspolitische Fragen wie die Asylpolitik, die Drogenpolitik oder die Fortpflanzungs- und Gentechnologie. Ein wenig kohärentes Bild gab die CVP jüngst auch bei der Parolenfassung zur Verkehrspolitik ab. Die heterogenen Positionsbezüge spiegeln sich auch in der abenteuerlichen Personalpolitik der vergangenen Jahre. 1987 stand der Partei mit der St. Galler Nationalrätin Eva Segmüller eine ausgleichende Mitte-Politikerin vor (Wahlergebnis 1991: -1,6 Prozentpunkte). 1992 setzte man den markigen, konservativen Innerrhoder Landammann Carlo Schmid an ihre Stelle, dieser gab das Zepter aber bereits nach zwei Jahren an den moderater politisierenden Freiburger Anton Cottier weiter (1995: -1,2). 1997 suchte man das Heil mit dem ambitionierten Obwaldner Adalbert Durrer (1999: -0,9), nach dessen eiligem Abgang sich schliesslich im Mai 2001 der Thurgauer Philipp Stähelin zur Verfügung stellte (2003: -1,5). Seit Donnerstag ist auch die Ära Stähelin Vergangenheit, den Vorsitz hält vorläufig Vizepräsidentin Doris Leuthard - sie hatte eigentlich abgesagt.

Wie lässt sich eine solche «Mitte» bloss «enger fassen»? Und was darf man sich von einer rein programmatischen Anpassung überhaupt versprechen? Dem Anstoss zur «tabufreien» Debatte folgend, finden bei der CVP bereits Gespräche statt, wie sie schon im Vorfeld der Liquidation des Landesrings geführt wurden. Es wundert auch nicht, dass sich ausgerechnet der letzte Landesring-Präsident via Sonntagspresse in die Diskussion eingeschaltet hat. Er propagiert die Neugründung einer urbanen Mittepartei, die das vielfach beschworene linksliberale Brachland besetzen soll. Nun verfügt die Schweiz aber nicht über einen nationalen Wahlkreis. Das eidgenössische Parlament wird in den Kantonen gewählt, was ein solches Experiment ausserordentlich erschwert. Föderalistische Hindernisse stellen sich auch einer allfälligen Fusion mit der liberalen Bundesstaatsgründerin und späteren Kulturkampfgegnerin FDP entgegen - ein Projekt, das freilich nach dem unsinnigen Zerwürfnis im Umfeld der Bundesratswahlen vom Dezember vorläufig sowieso kein Thema ist.

Nicht auszuschliessen sind hingegen weitere Abspaltungen am christlichsozialen Parteiflügel der CVP. Das könnte der Partei blühen, wenn sie sich künftig verstärkt auf das «C» im Parteinamen besinnt. Dieses steht nämlich in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor für eine wertkonservative, subsidiäre und auf sozialmarktwirtschaftlichen Prinzipien aufbauende Mittelstandspolitik. An diesem Raster orientiert sich auch das von der Strategiegruppe entworfene Zehnpunkteprogramm. Bruno Frick wäre der geeignete Mann, um einen solchen Parteikurs glaubwürdig zu vermitteln (aber offenbar möchte Frick lieber Ständerats- als Parteipräsident werden). Eine Politik, die mehr Rücksicht auf die Basis in den wertkonservativen Stammlanden nimmt, könnte sich sehr wohl auszahlen. Dies weil die programmatischen Widersprüche bei der nationalkonservativ-wirtschaftsliberalen SVP dereinst deutlicher aufbrechen könnten - etwa in der Landwirtschaftspolitik, bei der sozialen Sicherheit oder beim Service public. Die Positionierung der SVP-Basis beim Elektrizitätsmarktgesetz war hierfür ein deutliches Signal.

Aber selbst wenn es der CVP in ihrer «Erneuerung» wider Erwarten gelingen sollte, mehr zu erreichen als bloss einige kosmetische Retuschen am Parteiprogramm, so ist erst wenig gewonnen. Es bleibt das tiefer liegende Problem der konfessionellen Mobilisierungshürde. Und diese lässt sich weder mit sachpolitischen Positionsbezügen noch mit einem Namenswechsel überwinden, das müsste die Partei nach dreissig Jahren ernsthaft zur Kenntnis nehmen. Zu akzeptieren, dass die Partei eine primär katholische Basis vertritt, und hieraus Folgerungen zu ziehen, wären ein besserer Ansatzpunkt für die «Erneuerungsdebatte», als sich gleich in sachpolitische Grabenkämpfe zu verlieren.

se.

 
 
 

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