NZZ, 11. April 2001

Aufscheinen einer Erneuerung der SPÖ


B. A. Wien, 10. April


Aufscheinen einer Erneuerung der SPÖ

Sucht Gusenbauer liberale Anleihen?

Gut ein Jahr nach dem Machtverlust der österreichischen Sozialdemokraten tauchen trotz aller Trägheit im Diskurs der SPÖ vergessen geglaubte Begriffe wie Freiheit oder Wettbewerb auf. Der neue Parteichef, Gusenbauer, will bis im Herbst ein Wahlprogramm erarbeiten, um für den Kampf um die Macht 2003 gewappnet zu sein.

B. A. Wien, 10. April

Während die blau-schwarze Regierung Österreichs lahmt und einer ihrer Pfadfinder, der ÖVP-Politiker Andreas Khol, voreilig die Durchquerung «der Wüste Gobi» als vollzogen meldet, lässt die oppositionelle Sozialdemokratie ein blassblaues Band durch die Lüfte flattern: Sozialdemokraten reden von Freiheit, Liberalismus und Wettbewerb. Alfred Gusenbauer, Parteichef seit dem Scheitern seines Vorgängers Klima, bemüht sich, den Diskurs der SPÖ frisch zu prägen. Die Sozialdemokraten fielen nach dem Verlust der Macht ins Jammertal, wo sie sich aufführten wie ein verwöhntes Kind, dem ein vorwitziger Nachbarsbub das Spielzeug stibitzt hat. Ihr Wehklagen bestätigte, dass der Machtwechsel überfällig war: Die Partei war zum Regieren nicht mehr fähig, soweit Regieren mehr sei als blosses Verwalten.

«Netzwerk Innovation»

Gusenbauer hat jüngst in Wien eine Zwischenbilanz seines Projektes «Netzwerk Innovation» präsentiert. Diese Initiative soll in ein Wahlprogramm münden, mit dem die SPÖ 2003 das Publikum davon zu überzeugen hofft, sie sei bereit zur Rückkehr an die Macht. Hunderte von Fachleuten beackern die Themen; Parteimitglieder, Anhänger und die Öffentlichkeit sind eingeladen, übers Internet mit zu diskutieren. Der Parteivorsitzende baut darauf, dass sich im Verlauf dieser Arbeiten neue Köpfe zu profilieren vermögen, die für Ämter und Mandate in Frage kämen. Noch immer hat die alte Garde viel Einfluss; die SPÖ braucht ein jüngeres Gesicht, um das Image zu widerlegen, sie sei der Verein der Pensionierten, der Bequemen und der Nutzniesser all dessen, was zu verbessern wäre, oder dessen, was zwar längst verändert ist, zum Schein aber in alter Gestalt angebetet wird, wie etwa der Mythos Neutralität.

Das «Netzwerk Innovation» ist ein Vorgeschmack der von Gusenbauer angekündigten Erneuerung der Partei an Haupt und Gliedern. Den Ort seiner Präsentation hatte Gusenbauer treffend gewählt: die glänzend umgebaute einstige Winterreithalle im Wiener Museumsquartier. Auf dem Gelände der ehemaligen kaiserlichen Stallungen und Remisen für Kutschen und Karossen entsteht neben dem Kunst- und dem Naturhistorischen Museum ein wunderschönes Kulturzentrum. Hinter der barocken Fassade der Fischer von Erlach Vater und Sohn erheben sich dunkelgrau, in gebrochenem Weiss und ziegelrot neue Ausstellungsbauten von Laurids und Manfred Ortner. Das Quartier ist derzeit noch die grösste Kulturbaustelle Europas - gemäss der Bauherrschaft - und lässt bereits erahnen, welchen Schatz die Stadt Wien hier zu heben und zu polieren im Begriff ist.

Gefangen im Abwehrkampf

Die Wiener SPÖ hielt in der Winterreithalle kürzlich ihre Schlussveranstaltung für die Gemeinderatswahlen ab, die ihr eine absolute Mehrheit bescherten. Gusenbauer darf derlei für 2003 nicht erhoffen, doch schaden wird es nicht, unter demselben Dach vorauszudenken. Der Parteivorsitzende stellte fest, das 20. Jahrhundert habe zwei Leitlinien hervorgebracht, die weiterzuentwickeln lohnend seien: Sozialdemokratie und Liberalismus. Gusenbauer will diese beiden Traditionen verknüpfen. Es falle heutzutage der SPÖ zu, für mehr Wettbewerb zu sorgen.

Die Sozialdemokratie ist laut Gusenbauer in Abwehrkämpfen verstrickt. Abkehr vom Bisherigen sei mit Verschlechterung gleichgesetzt worden. Die SPÖ habe die Mittel dogmatisiert, mit denen sie ihre Ziele erreichen wolle, statt diese Mittel zu modernisieren. Dies sei gerade in der Sozialpolitik besonders schlecht; dabei habe die Sozialdemokratie eine Tradition des sozialen Experimentes. Im Grundsätzlichen gelte der Wert Gleichheit; sonst aber zählten in der Sozialdemokratie Leistung und Verdienst.

Freiheit contra Staatsgläubigkeit

Noch ist es zu früh, um abzuschätzen, wohin Gusenbauer die SPÖ führt. Es ist nicht einmal gewiss, dass Gusenbauers Thesen so sind, wie sie scheinen; noch weniger, dass sie sich durchsetzen. Doch ist er immerhin der erste SPÖ-Vorsitzende seit etlichen Jahren, bei dem der Begriff «Freiheit» zum aktiven Wortschatz zählt. Er hatte Anfang des Jahres erstmals vom «Freiheits- und Emanzipationsprojekt» der SPÖ gesprochen, eine Wortwahl, die völlig neu ist oder völlig vergessen schien. Gusenbauer zieht zur programmatischen Arbeit ausländische Experten bei. So referierte in der Winterreithalle der Politologe Thomas Meyer von der Universität Dortmund, der die deutsche Sozialdemokratie berät. Meyer ermahnte die Zuhörer, zu begreifen, dass mehr Politik und mehr Demokratie nicht mehr Staat bedeuten. Er zitierte Willy Brandt, für den Sozialdemokratie immer mit Freiheit zu tun gehabt habe.

Die Rolle des Staates ist fraglos ein zentraler Streitpunkt unter Sozialdemokraten. Die Staatsgläubigkeit mancher österreichischer Sozialdemokraten dürfte damit zu tun haben, dass die lange Regierungszeit der SPÖ zu einer Identifikation mit dem Staat führte. Die Tatsache, dass nun die Freiheitliche Partei (FPÖ) und die Volkspartei (ÖVP) regieren, müsste es den Sozialdemokraten erleichtern, davon loszukommen. Aus der Froschperspektive der Opposition sind demokratische Defizite leicht zu erkennen; sie sind im Wesentlichen der SPÖ selbst (und deren langjährigem Juniorpartner ÖVP) zuzuschreiben. Wer durch so viele Legislaturperioden ununterbrochen das Kanzleramt innehat, wird sich bald einreden, das Bestehende sei das Optimale, andernfalls man sich selbst des Versagens bezichtigen müsste.

Hinter Gewerkschaft und Kirche

Die SPÖ hat zwar permanent von Grundwerten geredet, jedoch nur so lange daran festgehalten, als es ihr nützte. Die Sanktionen der EU gegen die blau-schwarze Regierung in Wien legten dies bloss. Die SPÖ reagierte als Partei mit Machtanspruch, nicht als Verfechterin von Demokratie und Rechtsstaat: Sie begrüsste die Versuche aus dem Ausland, die Regierung in Wien zu stürzen, da sie selbst nicht mehr dazu gehörte. Ähnlich gestört ist das Verhältnis der Sozialdemokraten zur Erweiterung der EU. Unter dem Druck der Gewerkschaften haben Einkommensfragen Priorität, nicht die grundsätzliche Erwägung, wonach ein Beitritt einst kommunistischer Länder zur EU ein strategisches Ereignis für Frieden und Freiheit in Europa wäre.

Lange galt die EU der Linken als eine rein kapitalistische Veranstaltung ohne Herz und Seele. Die Gewerkschafter wollen ein Land erst dann in die EU hereinlassen, wenn es vier Fünftel des durchschnittlichen Einkommens in der EU aufweist. Sie argumentieren rein wirtschaftlich, noch dazu mit einem Massstab, der so willkürlich ist wie die vielgescholtenen Maastricht-Kriterien für Haushaltdefizit und Staatsschuld. Der Massstab ist unrealistisch; vielleicht trauen sich die angeblich so solidarischen und sozial gesinnten Gewerkschafter nicht, Nein zu sagen, wie es ihnen auf der Zunge liegt.

Gusenbauer hat jüngst in dieser Frage seine Emanzipation von Gewerkschaft und Arbeiterkammer angedeutet. Er sagte, das Einkommensniveau sei kein gebührender Massstab für den Ausbau des Friedensprojektes EU. Diese Stellungnahme war vielleicht wichtiger als alle Kritik an der Regierung, die er als Oppositionschef bisher vorgebracht hat. In mancher Frage ist die Gewerkschaft gegenüber der SPÖ dominant. Sie gibt den Kurs vor im Streit um die Ladenöffnungszeiten: Gewerkschaft, Gewerbe und Kirche haben eine Abwehrfront geschmiedet, vor der die Politik abdankt, und zwar die aller Parteien. Die Regierung offenbart gerade, wie sie vor denselben Blockaden zaudert wie ihre zu Recht geschmähte Vorgängerin. Inzwischen ist das Liberale Forum Heide Schmidts definitiv ausgetrocknet. Moderner Liberalismus ist Vollwaise in Khols «Wüste Gobi», frei zur Adoption.

 

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 11. April 2001, Nr.85, Seite 3

 


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