Aargauer Zeitung vom
2. März 2001 |
Gibt es das Dorfleben überhaupt noch?
Interview Soziologe und Politologe Andreas Ladner über Entwicklung und
Zukunft der Dörfer
Herr Ladner, die Dörfer verlieren ihre Infrastrukturen. Wie geht diese
Entwicklung weiter?
Andreas Ladner: Dieser Prozess gibt es schon seit Jahren. Einst
schlossen die Dorfbeizen, in den 70-er Jahren sprach man vom Lädelisterben.
Dann waren es die Banken und in nächster zeit schliessen die Poststellen.
Was wird es in Zukunft sein?
Ladner: In Zukunft werden es die Gemeindeverwaltungen sein, die
zusammengelegt werden.
Waren solche Dorf-Infrastrukturen ein Luxus für die Einwohner?
Ladner: 60 Prozent der Schweizer Gemeinden haben weniger als 1000
Einwohner. Realistisch und nüchtern betrachtet, kann in solch kleinen
Einheiten keine umfassende Infrastruktur aufrechterhalten werden.
Wie entstand dieser Prozess?
Ladner: Sicher stehen dahinter wirtschaftliche Zwänge, aber auch das
Konsum- und Freizeitverhalten der Leute hat sich verändert, ihre Bedürfnisse
sind andere geworden. Man geht in Einkaufszentren einkaufen, vergnügt sich in
den Städten oder benutzt das Internet. In der Schweiz haben wir uns diese
feingliedrige Organisation sehr lange aufrecht erhalten können. In anderen Ländern
in Nordeuropa gibt es dies schon lange nicht mehr.
Wieso ist die Schweiz hier noch «hintendrein»?
Ladner: In unserem politischen System spielten die Gemeinden eine
wichtige Rolle und es war schwierig, in ihre Strukturen einzugreifen.
Mittlerweile sind die Anforderungen an die Gemeinden gestiegen und ihre
Autonomie ist eingeschränkt.
Mit dem Verschwinden von Laden, Post und Bank verändert sich auch das soziale
Leben.
Ladner: Es ist allerdings auch nicht die Aufgabe von Laden, Post und
Bank, die Gemeinschaft in einem Dorf zusammenzuhalten.
Sondern?
Ladner: Das kommt auf die Leute selbst an. Wie bewegen sie sich im
Dorf? Haben sie hohe Zäune oder offene Gärten? Treffen sie sich auch ohne
Laden oder nicht? Die Frage ist, wie die Leute mit dieser neuen Situation
umgehen.
Und wie wird sich das heutige Dorfleben verändern?
Ladner: Wie weit gibt es das Dorfleben überhaupt noch?
Glauben Sie, es gibt es nicht mehr?
Ladner: Ich habe nicht den Eindruck, dass es besonders gepflegt wird,
die Dorf-Romantik sehe ich nicht mehr, zumindest nicht im herkömmlichen
Sinne.
Wird es anonymer?
Ladner: Wie anonym es wird, hängt wiederum von den Leuten ab. Es gibt
Phasen, in denen sich die Menschen eher zurückziehen und darauf folgen wieder
Phasen, in denen man die Gemeinschaft sucht.
Und was für eine Phase ist aktuell?
Ladner: Im Moment gibt es eine Phase der Reorientierung, der
Individualisierungsprozess geht zu Ende. (fas)
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