Aargauer Zeitung vom 10.2.2003 |
© Aargauer Zeitung / MLZ; 2003-02-10; Seite 6
Inland
Stimmbeteiligung nicht das Entscheidende
VOLKSRECHTE · Die Qualität der politischen Auseinandersetzung ist wichtiger als die Anzahl Stimmen
Immer weniger Stimmberechtigte gehen an die Urne. Das ist keine Katastrophe, findet der Berner Soziologe Andreas Ladner.
Claudia Blangetti
Herr Ladner, gestern wurde über die Erweiterung der Volksrechte abgestimmt. Ist eine solche Erweiterung denn überhaupt notwendig? Die geringe Stimmbeteiligung zeigt doch, dass nur noch wenige ihre Volksrechte auch in Anspruch nehmen.
Andreas Ladner: Die allgemeine Stimmbeteiligung nimmt seit langem tendenziell ab. Wir sind schon seit Jahren davon entfernt, dass die Mehrheit der Stimmberechtigten an die Urne geht. Aber es gibt auch immer wieder sehr stark mobilisierende Abstimmungsvorlagen. Man kann heute einfach nicht mehr auf die Konstanz bauen, wie sie früher die Regel war. Das Stimmvolk entscheidet selektiv, ob es an Abstimmungen teilnehmen will oder nicht, je nach Brisanz des Themas. Was nun die Volksrechte betrifft, so erachtet man diese einerseits weiterhin als etwas sehr Wichtiges, nur wendet man diese heute etwas anders an. Von Fall zu Fall, sozusagen.
Das geht in Richtung Demokratie nach dem Lustprinzip. Hatten Sie denn gestern Lust, ihre Stimme zu diesen eidgenössischen Vorlagen abzugeben?
Ladner: Ich habe meine Stimme früh schriftlich abgegeben und bin dann Ski fahren gegangen. Es geht hier aber nicht um das Lustprinzip im Sinne von einmal gehe ich an die Urne, ein anderes Mal nicht, und der Zufall entscheidet; sondern man entscheidet nach den Vorlagen. Wichtig dabei ist, wie stark sie in der Öffentlichkeit thematisiert werden, durch Parteien oder den Bundesrat. Bei den gestrigen Vorlagen hat man es verpasst, eine breitere Auseinandersetzung in Gang zu bringen. Dementsprechend fiel die Stimmbeteiligung aus.
Und die war sehr schlecht: Die Stimmbeteiligung lag bei 28,0 Prozent. Eine Katastrophe?
Ladner: Eine tiefe Stimmbeteiligung ist dann eine Katastrophe, wenn jene, die der Urne fern bleiben, in diese Art von Entscheidungsfindung kein Vertrauen mehr haben oder sie nicht mehr akzeptieren. Die Haltung also: «Die in Bern machen eh, was sie wollen» und «Man muss auf die Strasse gehen». Wenn aber der Grossteil der Stimmabstinenzler mit dem Gang der Dinge zufrieden ist und den Entscheid, den andere für sie fällen, akzeptiert, dann sehe ich kein Problem.
Wie repräsentativ sind denn solche Ergebnisse überhaupt noch für den Volkswillen? Kann man da noch von Demokratie reden?
Ladner: Es kommt eben darauf an, ob man es als Pflicht oder als Chance zur Mitsprache ansieht. Was ist das Ziel? Dass jeder mitreden muss, egal, ob er die Vorlage versteht und sich dafür interessiert oder nicht, oder dass man es jenen Stimmbürgern überlässt, die sich auch eine Meinung bilden wollten und konnten und dann auch sagen «Ich will zu dieser Vorlage Ja oder Nein stimmen können»? Ich sehe nicht ein, warum ein solcher erzwungener Entscheid besser oder schlechter sein soll.
Aber er würde mehr aussagen.
Ladner: Das ist die Frage. Jene, die nicht abstimmen, lassen sich repräsentieren durch jene, die an die Urne gehen. Wenn man dabei denkt, dass andere richtiger entscheiden können, dann ist das durchaus ein rationales Verhalten.
Soll man denn nicht von Staates wegen dafür sorgen, dass die Stimmbeteiligung höher wird?
Ladner: Bloss eine höhere Stimmbeteiligung darf nicht das Ziel sein. Der Staat sollte sich dafür einsetzen, dass sich die Bevölkerung mit der Politik auseinander setzt und sich generell dafür interessiert und engagiert. Die Qualität der Auseinandersetzung ist wichtiger als eine möglichst hohe Stimmbeteiligung.
Im Kanton Schaffhausen gilt die Stimmpflicht.
Ladner: Das ist nicht sinnvoll. Nochmals: Nicht die Stimmabgabe steht im Vordergrund, sondern die demokratische Auseinandersetzung. Und diese beinhaltet viel mehr, als bloss Ja oder Nein zu sagen.
Andreas Ladner Hält eine Stimmpflicht nicht für sinnvoll. FOTO: peter gerber/keystone
Stimmflauten und Beteiligungsrekorde
Mit 28 Prozent war die Stimmbeteiligung beim Urnengang vom Wochenende die dritttiefste in der Geschichte des Bundesstaates. Auf rekordschwache 26,7 Prozent brachten es die beiden Vorlagen «Bundesbeschluss über Massnahmen zur Stabilisierung des Baumarktes» und «Bundesbeschluss über den Schutz der Währung» am 4. Juni 1972. Aber es gab auch Höhepunkte: Die eidgenössische Initiative für die «Einmalige Vermögensabgabe» vom 3. Dezember 1922 erreichte eine Stimmbeteiligung von 86 Prozent. Auch in jüngerer Zeit gab es durchaus hohe Beteiligungen: Die Abstimmung über den Beitritt zum EWR mobilisierte am 6. Dezember 1992 ganze 78 Prozent des Stimmvolks, und vor einem Jahr, am 3. März 2002, haben sich stolze 58 Prozent der Stimmberechtigten über den Beitritt der Schweiz zur UNO geäussert.
Die Stimmbeteiligung in der Schweiz ist zwar tendenziell sinkend, doch muss beachtet werden, dass die Anzahl Stimmberechtigter zugenommen hat: seit 1971 dank dem Stimmrecht für Frauen auf Bundesebene, dank der Senkung des Stimmalters auf 18 Jahre und der Möglichkeit für Auslandschweizer, sich an Abstimmungen und Wahlen zu beteiligen. Nicht zuletzt hat die Möglichkeit, brieflich abzustimmen, das Stimmverhalten massiv beeinflusst: Heute wird nur noch ein Drittel der Stimmen tatsächlich an der Urne abgegeben; und die Hälfte aller, die brieflich abstimmen, schickt das Antwortkuvert postwendend zurück. (cbl)
Internet: www.admin.ch/ch/d/pore/ stat/vaindex.html