Ottmar Schreiner, SPD-BundesgeschŠftsfŸhrer 18. Mai 1999

Zur Zukunft der SPD

Thesen zur Debatte Ÿber den "Dritten Weg"

I.

Die †bernahme der Regierungsverantwortung im Bund hat die SPD vor eine neue Aufgabe gestellt. Wir mŸssen nun nicht nur auf glaubhafte, sondern auch auf ŸberprŸfbare Weise unser tŠgliches Handeln in der Regierungsverantwortung mit Ÿberzeugenden politischen Perspektiven verbinden. Diese mŸssen den grš§eren Teil der …ffentlichkeit davon Ÿberzeugen kšnnen, da§ die Sozialdemokratie ein Regierungsmandat Ÿber die Legislaturperiode hinaus verdient. Realismus, aber auch die Kraft zu wirklichkeitsnahem Zukunftsentwurf sind dafŸr die Voraussetzung. Die SPD, mit einer gro§en Zahl engagierter Mitglieder, die Erfahrungen und Kompetenzen aus wichtigen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Handlungsfeldern mitbringen, ist fŸr eine solche Diskussion die geeignete Plattform.

GeprŠgt von Massenmedien, einer voranschreitenden sozialen Differenzierung und der Modernisierung der Denk- und Handlungsweisen, der Berufsbilder und Wertewelten ihrer AnhŠnger und WŠhler, kann die SPD eine solche Aufgabe nur erfŸllen, wenn sie sich als eine gro§e demokratische Organisation definiert, die handlungsorientiert Tages- und Zukunftsfragen verknŸpft und die in der Lage ist, Impulse aus der Gesellschaft aufzunehmen und in die Gesellschaft wirkungsvoll zu vermitteln.

II.

Die von Tony Blair und Anthony Giddens in Europa angesto§ene Diskussion um einen "Dritten Weg der Sozialdemokratie" zwischen "neoliberalem" Politikverzicht und "altlinkem" Konservatismus orientiert sich im Kern an den richtigen Fragen. Ich fŸge hinzu: es ist auch die richtige Richtung, die Giddens als "links von der Mitte" einordnet. Der "dritte Weg", der unser Weg werden sollte, sieht die Chancen fŸr nachhaltiges Wachstum, ein gutes Leben und politische Freiheit in einer Welt neuer globaler Dimensionen und fordert dazu auf, sie international koordiniert zu nutzen.

 

SelbstverstŠndlich gibt es in den einzelnen europŠischen Sozialdemokratien aufgrund ihrer verschiedenartigen Traditionen, ihrer unterschiedlichen politischen Kulturen, der Ungleichzeitigkeit ihrer Programmerneuerung und einer verschiedenartigen Gewichtung der einzelnen Probleme neben den Gemeinsamkeiten auch erhebliche Unterschiede. Darum kann die Erneuerung nicht im Import fertiger Modelle bestehen, es wird nicht einen, sondern diverse "dritte Wege" geben.

Die deutsche Sozialdemokratie hatte schon 1959 mit ihrem Godesberger Programm den Durchbruch zu einer grundwerteorientierten pragmatischen Volkspartei vollzogen. Dieser tiefgreifende Wandel war lange Zeit von anderen sozialdemokratischen Parteien mit Distanz betrachtet worden, ist aber mittlerweile die gemeinsame †berzeugung fast aller sozialdemokratischer Parteien in Europa. Wir hatten dann mit unserem Berliner Programm von 1989 Antworten auf einige der neuen Fragen der "Zweiten Moderne" entwickelt, die in vielen Einzelbereichen der Politik neue Angebote in die politische Debatte eingebracht haben. In der …kologie- und Technologiepolitik, der Europapolitik, der Gleichstellung der Geschlechter wurden neue Lšsungen erarbeitet, die zukunftstauglich sind. Wir werden uns vorurteilsfrei mit befreundeten Parteien austauschen und dann verantwortungsvoll unseren eigenen Weg bestimmen.

Wir kšnnen bei einer Erneuerungsdiskussion auf der Werteorientierung von Godesberg aufbauen und wichtige Aspekte des Berliner Programms fortentwickeln und konkretisieren. DafŸr hat die SPD drei Projektgruppen zu den zentralen Politikfeldern Zukunft der Arbeit, der Familie sowie selbstŠndiger TŠtigkeit eingerichtet. Mit den Antworten wollen wir den Zusammenhalt der Gesellschaft fšrdern.

Im Kern geht es um die Balance zwischen kleinen Schritten und pragmatischen Lšsungen einerseits, der Erkennbarkeit von Werten und Zielen andererseits.

III.

Die Fragen liegen angesichts der Ursachen der Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, auf der Hand. Es sind die Fragen, die in der Debatte um den "Dritten Weg" und die "RŸckkehr der Politik" die Diskussionen der europŠischen Sozialdemokratie beherrschen. Was sind die Grundwerte und was sind die Ziele, die einen Rahmen setzen auch fŸr das, was wir Šndern wollen, was lange Zeit als selbstverstŠndlich in den eigenen Reihen galt?

1. Neue …konomie in der globalisierten Wirtschaft:
Wie verbinden wir die Fšrderung der hochmodernen ArbeitsplŠtze in den wettbewerbsfŠhigen, zumeist informationstechnologischen Sektoren unserer Wirtschaft mit verbesserten Voraussetzungen fŸr ExistenzgrŸndungen in allen Wirtschaftsbereichen und mit der Schaffung neuer ArbeitsplŠtze. Es geht auch um verbesserte Anreize im Bereich der gering qualifizierten Arbeit und der einfachen personenbezogenen Dienstleistungen. Welche Rolle spielen die Rahmenbedingungen, welche Rolle spielen die Innovationen, welche Rolle spielen neue Arbeitszeitmodelle, welche Rolle spielt eine verŠnderte Einstellung der Einzelnen zur Eigenverantwortung? - das sind einige der Fragen, die wir klŠren wollen.

Wenn wir von gesellschaftlicher Verantwortung sprechen, ist die Wirtschaft damit einbezogen. Das Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft privatisierte eben nicht nur die Gewinne. Sondern die Unternehmen mŸssen sich weiterhin aktiv an der Lšsung gesellschaftlicher Probleme - finanzieller, sozialer und škologischer - beteiligen. Das BŸndnis fŸr Arbeit ist das derzeit wichtigste Beispiel fŸr eine Politik, die nichts befehlen, die aber etwas ermšglichen und vermitteln will.

2. Sozialstaat:
Die Grundidee des Sozialstaats, als Form institutionalisierter SolidaritŠt, steht fŸr Sozialdemokraten nicht zur Disposition. Die dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, die Entwicklungen im Gesundheitswesen, der demographische Wandel, Zuwanderung und Integration, um nur die wichtigsten Handlungsfelder zu nennen, verlangen, da§ wir die Wege der sozialen Sicherung weiterentwickeln.

Ohne reformierten Sozialstaat, der beispielsweise diskontinuierliche Erwerbsarbeit absichert, ist auch keine aktive BŸrgerbeteiligung mšglich. Wir mŸssen klŠren, was die Rolle einer verlŠ§lichen sozialen Grundsicherung fŸr alle sein kann, worin sie besteht, welche Leistungen weiterhin nach dem Versicherungsprinzip garantiert werden mŸssen und wie weit SpielrŠume und Anreize fŸr Eigeninitiative verbessert werden kšnnen.

Eine aktive Sozialpolitik mu§ in erster Linie die Menschen zu selbstŠndiger LebensfŸhrung ermutigen, anstatt nachtrŠglich umzuverteilen. Keine Gesellschaft kann es sich leisten, eine betrŠchtliche Zahl von Menschen auf Dauer auszuschlie§en. Deshalb setzen Sozialdemokraten gegen Ausgrenzung und Spaltungen der Gesellschaft die Idee der Einbeziehung, der sozialen Teilhabe und der sozialen Chancen, was in erster Linie Zugang zu Arbeit und zum Arbeitsmarkt, zu Qualifikationen bedeutet.

Politik der sozialen Chancen bedeutet fŸr mich dreierlei: Den flankierenden Schutz bei gro§en Lebensrisiken wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Krankheit; aktivierende Fšrderprogramme zur raschen †berwindung von Risikosituationen; schlie§lich Fšrderung von bŸrgerschaftlichem Engagement in Arbeits- und Lebenswelten.



3. Neue Politikformen:
Der Staat garantiert als die Gemeinschaftsorganisation der Gesellschaft die Rechte der SchwŠcheren, er schafft und sichert Voraussetzungen fŸr die Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Das sind GrundŸberzeugungen der SPD, die mit gro§em Erfolg seit dem Beginn der sozialdemokratischen Bewegung gegen Liberalismus und Konservatismus verfochten wurden. Der verstŠrkte Wunsch nach Beteiligung bei vielen BŸrgerinnen und BŸrgern verlangt, da§ wir unsere Politikformen in der komplexer werdenden Gesellschaft ergŠnzen.

Wie weit kann der Staat als Anreger, als Moderator, als Partner seine Ziele besser erreichen, als in der alten hierarchischen Rolle? Wie weit kšnnen BŸrgerzusammenschlŸsse in der Gesellschaft selbst politische und soziale Aufgaben wirkungsvoller, problemnŠher, engagierter und nachhaltiger lšsen, als staatliches Handeln? Welche Formen des Zusammenwirkens von bŸrgerschaftlichem und staatlichem Engagement versprechen den grš§eren Erfolg? Das sind Themen fŸr die Erneuerung. Der Staat soll kŸnftig neben statt Ÿber den BŸrgern stehen; nicht nur in der Sozial-, sondern ebenso in der Innen- und Rechtspolitik, in der Praxis jeder Verwaltung. Es geht nicht um Privatisierung politischer Verpflichtungen, sondern um neue, gesellschaftsnŠhere politische Formen ihrer ErfŸllung.

4. Kultur der Verantwortlichkeit:
Die liberalistische Ideologie, wonach letztlich immer der Einzelne Schuld ist, wenn es ihm nicht gelingt, in der Gesellschaft, in der wir leben, die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zur Sicherung einer menschenwŸrdigen Existenz zu gewinnen, ist auch heute falsch.

Richtig aber ist, da§ wir Ÿber die Verteilung von Rechten und Pflichten neu nachdenken mŸssen und darŸber, wie wir die vielen, die es betrifft, nachhaltiger und wirkungsvoller daran erinnern kšnnen, worin ihre soziale Verantwortung besteht und was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafŸr sind, da§ ihnen Rechte garantiert werden kšnnen. Das betrifft nicht nur Mi§brŠuche im Sozialstaat, es betrifft auch SolidaritŠt mit anderen im Nahbereich, ebenso zivile Umgangsformen untereinander und die StŠrkung und Verbreitung eines BŸrgersinns, der nicht nur nach Rechten sondern auch nach Pflichten fragt.

5. Neue Mitte:
"Neue Mitte" war nicht nur ein Schlagwort fŸr den Wahlkampf. Die sozialen Milieus der "Neuen Mitte", vor allem in Kultur-, Sozial- und neuen Technikberufen bestehen zum gro§en Teil aus jŸngeren Menschen, die gelernt haben, mit neuen Technologien zu leben, Nutzen aus ihnen zu ziehen und sie zu handhaben, die gut informiert und politisch interessiert, aber nicht an eine bestimmte Partei, auch nicht an unsere gebunden sind; die sich viel mehr von Fall zu Fall auf direktem Wege mit guten Informationen und Argumenten versorgen, um ihre eigene Entscheidung treffen zu kšnnen. Sie sind keine StammwŠhler und werden es Ÿberwiegend auch nicht werden. Aber sie sind offen fŸr glaubwŸrdige und umsetzbare Projekte, die SPD kann viele von ihnen immer wieder gewinnen.

Sie haben einen hoch entwickelten Sinn fŸr soziale Verantwortung, fŸr Gerechtigkeit und fŸr den Wert einer solidarischen Gesellschaft. Es macht darum einen guten Sinn, sie als wichtige Zielgruppen sozialdemokratischer Politik und sozialdemokratischer Kommunikation ernst zu nehmen. Aber auch die sogenannten StammwŠhler sind beweglicher und offener als viele unterstellen und mŸssen ebenfalls mit zeitgemŠ§en Antworten immer neu Ÿberzeugt werden.

Die Medien spielen bei der Vermittlung unserer Politik eine gro§e Rolle. Viele WŠhlerinnen und WŠhler, gerade auch Angehšrige der neuen Milieus, suchen aber in der direkten Auseinandersetzung nach Information und Argumenten. Dies zu vermitteln ist die Aufgabe der gro§en Mitgliederpartei SPD:

IV.

"Innovation und Gerechtigkeit" hie§ der Wahlspruch, mit dem die Sozialdemokratie die Bundestagswahl 1998 fŸr sich entschieden hat. Innovation wird in der verŠnderten Situation, in der wir uns heute befinden, viele ungewohnte Neuerungen und VerŠnderungen von allen verlangen. Neue Formen der Flexibilisierung und EntbŸrokratisierung, der Arbeitsteilung von Staat und Gesellschaft, der Eigenverantwortung erweisen sich als notwendig. Die Sozialdemokratie wird auch in Zukunft eine MehrheitsunterstŸtzung nur gewinnen, wenn sie Ÿber die notwendigen VerŠnderungen in den Bereichen von Innovation und Flexibilisierung hinaus eine Ÿberzeugendes Konzept sozialer Gerechtigkeit und škologischer Nachhaltigkeit vertritt.

Die Themen der Partizipation, Teilhabe und der škologischen Erneuerung, zu dem das Berliner Programm 1998 viele gute VorschlŠge gemacht hat, dŸrfen in der neuen Diskussion nicht vernachlŠssigt werden. Es bleibt richtig, da§ eine škonomische Innovationspolitik ohne škologischen Umbau sich selbst widerspricht. Es bleibt ebenfalls richtig, da§ die Teilhabe der Betroffenen und der Beteiligten in allen Bereichen der Gesellschaft nicht nur ein Anspruch ist, den sie als mŸndige Menschen haben und den wir als Sozialdemokraten unterstŸtzen, sondern auch eine Produktivkraft fŸr die Entwicklung selbst.

Die Diskussion um sozialdemokratische Erneuerung hat in Deutschland eine fruchtbare Tradition. Worum es jetzt geht, ist eine †berprŸfung der Projekte, ihre Weiterentwicklung und ihre innere Verbindung. Die SPD mu§ in der …ffentlichkeit glaubhaft darstellen, da§ sie die Volkspartei ist, die die notwendigen VerŠnderungen auf vielen Gebieten mit der Garantie sozialer Sicherheit verbinden kann, ohne die unsere Gesellschaft immer stŠrker zerklŸftet. DafŸr lohnt sich die gro§e Anstrengung einer grŸndlichen Diskussion um die Erneuerung des sozialdemokratischen Denkens.

Die Renaissance der Sozialdemokratie wird vor allem auch davon abhŠngen, inwieweit es gelingt, den europŠischen Raum fŸr eine gemeinsame Wirtschafts- und BeschŠftigungspolitik zu nutzen. Ulrich Beck hat in diesem Zusammenhang von den HandlungsspielrŠumen fŸr eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz gesprochen. Die gegenwŠrtigen MehrheitsverhŠltnisse in der EuropŠischen Union haben dafŸr Optionen geschaffen, es wird in starkem Ma§e auch von der SPD abhŠngen, ob und wie die Chancen genutzt werden.