NZZ, 11. 2. 2003 |
© Neue Zürcher Zeitung; 2003-02-11; Seite 15; Nummer 034
Inland (INLAND)
Wahlkampf oder sachpolitische Differenzen?
Positionen der Parteien bei Volksabstimmungen
Von Michael E. Dreher und M. Andreas Textor*
Im permanenten Wahlkampf zielt die SVP mit grobem Geschütz auf ihre direkte Konkurrenz im bürgerlichen Lager, die FDP. Der ehemalige Präsident der Freiheitspartei, Michael E. Dreher (er gehört mittlerweile der SVP an) und der Zürcher Jurist M. Andreas Textor versuchen indes anhand einer Zusammenstellung der Parolenfassung zu eidgenössischen Volksabstimmungen aufzuzeigen, dass sich FDP und SVP sachpolitisch weniger stark unterscheiden, als im Wahlkampfgerangel suggeriert wird.
Die Zielstrebigkeit, welche die SVP mit ihrem permanenten Wahlkampf an den Tag legt, hat die anderen bürgerlichen Parteien verunsichert. Die CVP hat mit der Aufhebung des Bistumsartikels in der Bundesverfassung ihr Ziel, die Diskriminierung der römisch-katholischen Kirche zu beseitigen, erreicht. Die Folge ist eine ideologische und politische Leere. «Mitte» ist keine Ausgangslage für eine mitreissende Programmatik. So besetzt die Kulturkampfpartei heute in erster Linie Positionen, die von der SP, der FDP oder der SVP durchschlagender wahrgenommen werden.
«SVP verhindern» als Programm?
Sorge bereiten uns hingegen die Querelen zwischen FDP und SVP. Im Bundesparlament zeigen nämlich beide Parteien in den meisten Abstimmungen gemeinsam Flagge, auch wenn die welschen Freisinnigen in sozialen Fragen sehr oft anders positioniert sind als ihre Deutschschweizer Parteikollegen. Seit die SVP jedoch ihre Rolle als Regierungspartei mit Oppositionscharakter definiert hat, ist der Ton erbitterter geworden. Wer in den letzten Monaten die Medien beobachtete, musste feststellen, dass Teile der bürgerlichen Familie darob ihre wahren Gegner aus den Augen zu verlieren scheinen. Statt in erster Linie bürgerliche Standpunkte gegen die Linke zu vertreten, bemühen sich FDP-Exponenten in Positionskämpfen darum, sich gegen die unüberhörbare SVP abzugrenzen. Diese Überreaktion, bedingt durch die Angst vor weiteren Wählerverlusten, führt zu seltsamen Allianzen mit dem eigentlichen politischen Gegner, den man im Parlament fast immer und bei Volksabstimmungen in den meisten Fällen gegen sich hat. Die SVP zu verhindern, ist offenbar wichtigster Programmpunkt und Wahlziel geworden; wir meinen, zu Unrecht.
Sachpolitische Nähe von SVP und FDP
Die politische Nähe von FDP und SVP lässt sich nachweisen. Neben den Links-Rechts-Ratings zu parlamentarischen Abstimmungen zeigt auch ein Vergleich der Parolenfassungen der Parteien zu eidgenössischen Volksabstimmungen, dass die FDP und die SVP in fast allen wirklich wichtigen Fragen gleiche Positionen eingenommen haben. In 57 Abstimmungen im Verlauf von rund fünf Jahren wich die Parole der SVP 15-mal von derjenigen der FDP ab, diejenige der Sozialdemokraten dagegen 32-mal. Unter diesen 15 abweichenden Parolenfassungen finden sich Differenzen, die unter anderem auch mit der parteipolitischen Konkurrenzsituation erklärbar sind, etwa bei den Themen Asylrechtsmissbrauch, Regelung der Zuwanderung, Goldreserven für die AHV oder Beschleunigung der Demokratie. Von den weiteren elf abweichenden Parolen entfallen sechs auf grundsätzlich unterschiedliche Positionen etwa hinsichtlich der Aussenpolitik (Uno-Beitritt, internationale Kooperation der Armee), der Drogenpolitik (Heroinabgabe, Jugend ohne Drogen) oder der Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs.
Somit bleiben fünf Abweichungen innerhalb der untersuchten Zeitspanne, die weniger einfach erklärbar sind: etwa im Fall der Wohneigentumsinitiative, die zwar massgeblich von FDP-Exponenten mitgetragen, von dieser Partei aber abgelehnt wurde, weiter bei der Solidaritätsstiftung, bei der wohl ein beachtlicher Teil der FDP-Wählerschaft entgegen der Landespartei der Nein-Parole der SVP gefolgt ist; und die Stimmfreigabe der FDP beim Invalidenversicherungsgesetz gleicht einem ordnungspolitischen Verstoss. Die letzten zwei Differenzen entfallen auf zwei Verkehrsabstimmungen. Ob der Entscheid für Neat und LSVA richtig war, sei dahin gestellt, neue Wählerschichten hat sich die FDP damit aber kaum erschlossen. Die SVP dagegen hat neue Wähler gewonnen und ihre Stellung beim Transportgewerbe gefestigt. Das SBB-Personal hingegen wählt weiterhin sozialistisch und keineswegs die FDP.
Den Gegner ins Visier nehmen
Gesamthaft gesehen handelt es sich also bei einem grossen Teil der 15 unterschiedlichen Parolenfassungen von FDP und SVP nicht um fundamental verschiedene Auffassungen, ausser vielleicht bei den ungelösten drogen- oder asylpolitischen Fragen sowie der generell unterschiedlichen Sichtweise der beiden Parteien in der Aussenpolitik. Bei den anderen Geschäften sind jedoch die sachlichen Differenzen nicht so gross, sie bilden jedenfalls keinen ausreichenden Anlass zu grossen Grabenkämpfen, solche sind eher der Wahlkampfnervosität zuzuschreiben.
Die Vertretung der unternehmerischen Denkweise «Mehr Freiheit - weniger Staat» wird hierzulande vom grössten Teil der SVP und von einem grossen Teil der FDP getragen; auch in der CVP finden sich vereinzelt Exponenten mit dieser Auffassung. Somit wäre es einer bürgerlich orientierten Haltung dienlich, wenn FDP und SVP diejenige Gegnerschaft ins Visier nehmen würden, mit der sie auch bei Volksabstimmungen und bei den meisten Abstimmungen im Parlament im Clinch liegen. Es geht in Wahlkämpfen nicht nur darum, bürgerliches Terrain zu halten, sondern dazuzugewinnen. Wenn die FDP dem Druck der SVP mit der Suche nach Koalitionspartnern links der Mitte begegnet, so wird sie weiter an Stammwählern verlieren und dem Schicksal der CVP nacheilen.
Die gemeinsamen politischen Ziele sind wichtiger als die derzeitigen Reibereien zwischen FDP und SVP, diese schaden dem Image beider Parteien und werden ihrem tatsächlichen politischen Verhalten im Parlament nicht gerecht.
* Michael E. Dreher war 1987-1999 für die FPS im Nationalrat und gehört heute der SVP an, er wohnt in Küsnacht; M. Andreas Textor ist Jurist und wohnt in Zürich.
Parolen der Bundesratsparteien zu eidgenössischen Abstimmungen*
Datum | Abstimmung | SVP | FDP | CVP | SP | Volk | BR+P** |
24. 11. 2002 | Volksinitiative «gegen Asylrechtsmissbrauch» | Ja | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein |
24. 11. 2002 | Änderung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja | Ja |
22. 9. 2002 | Elektrizitätsmarktgesetz (EMG) | Ja | Ja | Ja | Nein | Nein | Ja |
22. 9. 2002 | Volksinitiative «Überschüssige Goldreserven | ||||||
in den AHV-Fonds (Goldinitiative)» | Ja | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein | |
22. 9. 2002 | Gegenentwurf «Gold für AHV, Kantone und Stiftung» | Nein | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja |
2. 6. 2002 | Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches | ||||||
(Schwangerschaftsabbruch) | Nein | Ja | Nein | Ja | Ja | Ja | |
2. 6. 2002 | Volksinitiative «für Mutter u. Kind - für den Schutz des | ||||||
ungeborenen Kindes u. für die Hilfe an seine Mutter in Not» | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein | |
3. 3. 2002 | Volksinitiative «für den Beitritt der Schweiz | ||||||
zur Organisation der Vereinten Nationen (Uno) | Nein | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
3. 3. 2002 | Volksinitiative «für eine kürzere Arbeitszeit» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein |
2. 12. 2001 | Schuldenbremse | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja | Ja |
2. 12. 2001 | Volksinitiative «für eine gesicherte AHV - | ||||||
Energie statt Arbeit besteuern!» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
2. 12. 2001 | Volksinitiative «für eine glaubwürdige Sicherheitspolitik | ||||||
und eine Schweiz ohne Armee» | Nein | Nein | Nein | frei | Nein | Nein | |
2. 12. 2001 | Volksinitiative «Solidarität schafft Sicherheit: | ||||||
Für einen freiwilligen zivilen Friedensdienst (ZFD)» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
2. 12. 2001 | Volksinitiative «für eine Kapitalgewinnsteuer» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein |
10. 6. 2001 | Änderung vom 6. 10. 2000 des Bundesgesetzes | ||||||
über die Armee und die Militärverwaltung (Bewaffnung) | Nein | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
10. 6. 2001 | Änderung vom 6. 10. 2000 des Bundesgesetzes über die Armee | ||||||
und die Militärverwaltung (Ausbildungszusammenarbeit) | Nein | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
10. 6. 2001 | Bundesbeschluss vom 15. 12. 2000 über die Aufhebung | ||||||
der Genehmigungspflicht für die Errichtung von Bistümern | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
4. 3. 2001 | Volksinitiative «Ja zu Europa!» | Nein | Nein | Ja | Ja | Nein | Nein |
4. 3. 2001 | Volksinitiative «für tiefere Arzneimittelpreise» | Nein | Nein | Nein | frei | Nein | Nein |
4. 3. 2001 | Volksinitiative «Strassen für alle» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein |
26. 11. 2000 | Volksinitiative «für eine Flexibilisierung der AHV - | ||||||
gegen die Erhöhung des Rentenalters für Frauen» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
26. 11. 2000 | Volksinitiative «für ein flexibles Rentenalter ab 62 | ||||||
für Frau und Mann» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
26. 11. 2000 | Volksinitiative «Sparen beim Militär und bei der | ||||||
Gesamtverteidigung - für mehr Frieden und zukunftsgerichtete | |||||||
Arbeitsplätze (Umverteilungsinitiative)» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
26. 11. 2000 | Volksinitiative «für tiefere Spitalkosten» | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein |
26. 11. 2000 | Bundespersonalgesetz vom 24. März 2000 | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja | Ja |
24. 9. 2000 | Verfassungsartikel über eine Energie-Lenkungsabgabe | ||||||
für den Umweltschutz | Nein | Nein | Ja | Ja | Nein | Ja | |
24. 9. 2000 | Volksinitiative «für einen Solar-Rappen (Solar-Initiative)» | ||||||
und den Verfassungsartikel über die Energieabgabe | |||||||
zur Förderung erneuerbarer Energien | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
24. 9. 2000 | Gegenentwurf zur Volksinitiative «für einen Solar-Rappen» | Nein | Nein | Ja | Ja | Nein | Ja |
24. 9. 2000 | Volksinitiative «für eine Regelung der Zuwanderung» | Ja | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein |
24. 9. 2000 | Volksinitiative «Mehr Rechte für das Volk dank dem | ||||||
Referendum mit Gegenvorschlag (konstruktives Referendum)» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
21. 5. 2000 | Bilaterale Verträge - EU | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja |
12. 3. 2000 | Bundesbeschluss über die Justizreform | Ja | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja |
12. 3. 2000 | Volksinitiative «für Beschleunigung der direkten Demokratie» | Ja | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein |
12. 3. 2000 | Volksinitiative «für eine gerechte Vertretung | ||||||
der Frauen in den Bundesbehörden» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
12. 3. 2000 | Volksinitiative «zum Schutz des Menschen vor Manipulationen | ||||||
in der Fortpflanzungstechnologie» | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein | |
12. 3. 2000 | «Verkehrshalbierungs-Initiative» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein |
13. 6. 1999 | Asylgesetz und Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen | ||||||
im Asyl- und Ausländerbereich | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja | Ja | |
13. 6. 1999 | Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin | Nein | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja |
13. 6. 1999 | Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung | Ja | frei | Nein | Nein | Nein | Ja |
13. 6. 1999 | Bundesgesetz über Mutterschaftsversicherung | Nein | Nein | Ja | Ja | Nein | Ja |
18. 4. 1999 | Totalrevision der Bundesverfassung | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja |
7. 2. 1999 | Bundesbeschluss über die Änderung der Voraussetzungen | ||||||
für die Wählbarkeit in den Bundesrat | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
.7. 2. 1999 | Bundesbeschluss betreffend eine Verfassungsbestimmung | ||||||
über die Transplantationsmedizin | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
7. 2. 1999 | Volksinitiative «Wohneigentum für alle» | Ja | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein |
7. 2. 1999 | Raumplanungsgesetz (RPG), Änderung vom 20. März 1998 | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja | Ja |
29. 11. 1998 | Bundesbeschluss über Bau und Finanzierung | ||||||
von Infrastrukturvorhaben des öffentlichen Verkehrs | Nein | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
29. 11. 1998 | Bundesbeschluss über einen befristet geltenden, | ||||||
neuen Getreideartikel | Ja | Ja | - | Ja | Ja | Ja | |
29. 11. 1998 | Volksinitiative «für eine vernünftige Drogenpolitik» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein |
29. 11. 1998 | Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, | ||||||
Gewerbe und Handel (Arbeitsgesetz) | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja | |
27. 9. 1998 | Bundesgesetz über eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe | Nein | Ja | Ja | Ja | Ja | Ja |
27. 9. 1998 | Volksinitiative «für preisgünstige Nahrungsmittel | ||||||
und ökologische Bauernhöfe» | Nein | Nein | Nein | frei | Nein | Nein | |
27. 9. 1998 | Volksinitiative «für die 10. AHV-Revision | ||||||
ohne Erhöhung des Rentenalters» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
7. 6. 1998 | Volksinitiative «zum Schutz von Leben und Umwelt | ||||||
vor Genmanipulation (Gen-Schutz-Initiative)» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein | |
7. 6. 1998 | Haushaltsziel 2001 | Ja | Ja | Ja | Nein | Ja | Ja |
7. 6. 1998 | Volksinitiative «S. o. S. Schweiz ohne Schnüffelpolizei» | Nein | Nein | Nein | Ja | Nein | Nein |
28. 9. 1997 | Finanzierung der Arbeitslosenversicherung | Ja | Ja | Ja | Nein | Nein | Ja |
28. 9. 1997 | Volksinitiative «Jugend ohne Drogen» | Ja | Nein | Nein | Nein | Nein | Nein |
Gesamt 57 Abstimmungen | . |
* Seit September 1997. ** BR: Bundesrat (Abstimmungsempfehlung); P = Parlament (Abstimmungsempfehlung).